Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.Ungarn Überfahrtsgebühr zugestanden hatte, während die Gesellschaft in Trieft Aus¬ Im Gegensatz zu andern Ländern hat die moderne sozialistische Bewegung Ungarn Überfahrtsgebühr zugestanden hatte, während die Gesellschaft in Trieft Aus¬ Im Gegensatz zu andern Ländern hat die moderne sozialistische Bewegung <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0675" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295894"/> <fw type="header" place="top"> Ungarn</fw><lb/> <p xml:id="ID_3423" prev="#ID_3422"> Überfahrtsgebühr zugestanden hatte, während die Gesellschaft in Trieft Aus¬<lb/> wandrern die Überfahrt nach Newyork für 70 Kronen anbot. Ein Auswandrer<lb/> hätte also nur die geringe Eisenbahnfahrt von Fiume nach Trieft zurückzulegen<lb/> brauchen, um über 100 Kronen zu ersparen, wenn — er einen Pvß erhalten<lb/> könnte, aber die werden von der ungarischen Regierung nur über Fiume aus¬<lb/> gestellt. Schließlich hat sich die Cnnardlinie einverstanden erklärt, die Über¬<lb/> fahrt vom September ab für 120 Kronen zu leisten. Wer übev deutsche oder<lb/> niederländische Häfen auswandern will, wird von den ungarischen Behörden<lb/> in jeder Weise gemaßregelt, von Verwandten in Amerika schon bezahlte<lb/> Billetts werden den Auswandrern einfach weggenommen. Die Cunardlinie<lb/> ist bisher trotzdem noch nicht auf ihre Kosten gekommen, Geschäfte haben<lb/> bloß das Budapester Fahrkartenbureau und die ungarische Dampfschiffahrt¬<lb/> gesellschaft „Adria" gemacht, die für jeden der Cunardlinie zugewiesenen<lb/> Passagier von dieser eine Kommissionsgebühr von 40 Kronen beziehen. An<lb/> der Spitze dieser beiden Gesellschaften stehn freilich die einflußreichsten un¬<lb/> garischen Persönlichkeiten, und Fiume ist nun einmal der nationale Hafen,<lb/> dem um jeden Preis Verkehr verschafft werden soll. Das hat auch Tisza im<lb/> Abgeordnetenhaus unter allgemeiner Zustimmung ausdrücklich erklärt. Man<lb/> ersieht aus diesem lehrreichen Beispiel, wie im „freiheitlichen" Ungarn Recht,<lb/> wirtschaftliche und soziale Fragen aufgefaßt werden. Selbstverständlich ist<lb/> dieser gewaltsame Ausschluß der deutscheu Dampferlinien in Deutschland übel<lb/> vermerkt worden, und die unfreundliche Haltung Ungarns wird sicher bei den<lb/> Handelsvertragsverhandlungen nicht ohne Nachwirkung bleiben. Wie aber die<lb/> Sachen liegen, wird jedenfalls Österreich noch einmal in irgend einer Form<lb/> die Zeche dafür bezahlen müssen, denn die Magyaren werden ihre politische<lb/> Überlegenheit sicher wieder so auszunützen wissen, daß ihnen nichts geschieht.</p><lb/> <p xml:id="ID_3424" next="#ID_3425"> Im Gegensatz zu andern Ländern hat die moderne sozialistische Bewegung<lb/> in Ungarn vor allem auf dem Lande Fuß gefaßt. Natürlich sind auch da<lb/> die Führer nicht Arbeiter oder Kleinbesitzer, die ihre Landsleute an Wissen<lb/> oder geistiger Überlegenheit überragen, sondern ausschließlich Agitatoren, die<lb/> mit der sozialistischen Propaganda ein ihren Mann nährendes Geschäft be¬<lb/> treiben. Der Agrarsozialismus ist übrigens seit langer Zeit eine in Ungarn<lb/> verbreitete äußerst bedenkliche Erscheinung, und zwar war sie ursprünglich nur<lb/> in der ungarischen Landbevölkerung zuhause. Ende der dreißiger und Anfang<lb/> der vierziger Jahre tobte in Ungarn ein förmlicher Bauernkrieg, der nicht<lb/> ohne Anstrengung mit Waffengewalt niedergeschlagen wurde. Ein halbes<lb/> Jahrhundert später wiederholten sich im Alföld die Aufruhrszenen derselben<lb/> Art und desselben Ursprungs, die abermals durch das Militär unterdrückt<lb/> werden mußten, wobei reichlich Blut floß, aber eine Veränderung ihres Loses<lb/> haben sich die ländlichen Arbeiter damit nicht erkämpft. Ihr kommunistisches<lb/> Verlangen lautet einfach: Jedem seine Hütte, jedem seinen Acker. Willig<lb/> findet in diesen Kreisen und noch mehr unter den armen slowakischen und<lb/> rumänischen Feldarbeitern die so verlockend erscheinende Lehre vom riesigen<lb/> Verdienst im Zukunftsstaat, von der Aufteilung des herrschaftlichen Grund<lb/> und Bodens usw. Gehör, und es bedarf oft nur eines geringen Anlasses,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0675]
Ungarn
Überfahrtsgebühr zugestanden hatte, während die Gesellschaft in Trieft Aus¬
wandrern die Überfahrt nach Newyork für 70 Kronen anbot. Ein Auswandrer
hätte also nur die geringe Eisenbahnfahrt von Fiume nach Trieft zurückzulegen
brauchen, um über 100 Kronen zu ersparen, wenn — er einen Pvß erhalten
könnte, aber die werden von der ungarischen Regierung nur über Fiume aus¬
gestellt. Schließlich hat sich die Cnnardlinie einverstanden erklärt, die Über¬
fahrt vom September ab für 120 Kronen zu leisten. Wer übev deutsche oder
niederländische Häfen auswandern will, wird von den ungarischen Behörden
in jeder Weise gemaßregelt, von Verwandten in Amerika schon bezahlte
Billetts werden den Auswandrern einfach weggenommen. Die Cunardlinie
ist bisher trotzdem noch nicht auf ihre Kosten gekommen, Geschäfte haben
bloß das Budapester Fahrkartenbureau und die ungarische Dampfschiffahrt¬
gesellschaft „Adria" gemacht, die für jeden der Cunardlinie zugewiesenen
Passagier von dieser eine Kommissionsgebühr von 40 Kronen beziehen. An
der Spitze dieser beiden Gesellschaften stehn freilich die einflußreichsten un¬
garischen Persönlichkeiten, und Fiume ist nun einmal der nationale Hafen,
dem um jeden Preis Verkehr verschafft werden soll. Das hat auch Tisza im
Abgeordnetenhaus unter allgemeiner Zustimmung ausdrücklich erklärt. Man
ersieht aus diesem lehrreichen Beispiel, wie im „freiheitlichen" Ungarn Recht,
wirtschaftliche und soziale Fragen aufgefaßt werden. Selbstverständlich ist
dieser gewaltsame Ausschluß der deutscheu Dampferlinien in Deutschland übel
vermerkt worden, und die unfreundliche Haltung Ungarns wird sicher bei den
Handelsvertragsverhandlungen nicht ohne Nachwirkung bleiben. Wie aber die
Sachen liegen, wird jedenfalls Österreich noch einmal in irgend einer Form
die Zeche dafür bezahlen müssen, denn die Magyaren werden ihre politische
Überlegenheit sicher wieder so auszunützen wissen, daß ihnen nichts geschieht.
Im Gegensatz zu andern Ländern hat die moderne sozialistische Bewegung
in Ungarn vor allem auf dem Lande Fuß gefaßt. Natürlich sind auch da
die Führer nicht Arbeiter oder Kleinbesitzer, die ihre Landsleute an Wissen
oder geistiger Überlegenheit überragen, sondern ausschließlich Agitatoren, die
mit der sozialistischen Propaganda ein ihren Mann nährendes Geschäft be¬
treiben. Der Agrarsozialismus ist übrigens seit langer Zeit eine in Ungarn
verbreitete äußerst bedenkliche Erscheinung, und zwar war sie ursprünglich nur
in der ungarischen Landbevölkerung zuhause. Ende der dreißiger und Anfang
der vierziger Jahre tobte in Ungarn ein förmlicher Bauernkrieg, der nicht
ohne Anstrengung mit Waffengewalt niedergeschlagen wurde. Ein halbes
Jahrhundert später wiederholten sich im Alföld die Aufruhrszenen derselben
Art und desselben Ursprungs, die abermals durch das Militär unterdrückt
werden mußten, wobei reichlich Blut floß, aber eine Veränderung ihres Loses
haben sich die ländlichen Arbeiter damit nicht erkämpft. Ihr kommunistisches
Verlangen lautet einfach: Jedem seine Hütte, jedem seinen Acker. Willig
findet in diesen Kreisen und noch mehr unter den armen slowakischen und
rumänischen Feldarbeitern die so verlockend erscheinende Lehre vom riesigen
Verdienst im Zukunftsstaat, von der Aufteilung des herrschaftlichen Grund
und Bodens usw. Gehör, und es bedarf oft nur eines geringen Anlasses,
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