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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Aonstantinopolitanische Reiseerlebnisse

Man beginnt die Besichtigung der Mauern am besten im Süden, da, wo sie
an das Marmarameer stoßen. Mit der Eisenbahn fährt man durch die Gärten des
Serail und dann hinter den zinnengekrönten "Seemcmern" entlang, die setzt durch
zahlreiche Breschen nach links hin Ausblicke auf das blaue Wasser gewähren. Zur
Rechten sieht man vergitterte, windschiefe Türkenhäuser und weite grüne Gemüse¬
gärten. Bei der ersten Station steigt man aus und geht in wenig Minuten zu dem
"Schloß der sieben Türme," türkisch Jeti-Knie, dem Südknstell der Mauer. Ein
Derwisch führt uns von der Stadtseite her in den Hof. Er ist von mächtigen Mauern
und hohen Gebäuden umgeben, aber alles ist in Verfall, sodaß die Stätte fast so
romantisch wie eine Ritterburg aussieht. In der Mitte steht eine kleine, teilweise
zusammengcbrochne Moschee mit einem Minaret, beschattet von Zypressen und Pla¬
tanen; steinerne Kanonenkugeln liegen in den Ecken, auf den Zinnen der Türme,
wo einst die Häupter Hingerichteter Wesire hingen, wehen jetzt wilde Lorbeerbüsche
im Winde. Wir schreiten auf einem aus zerbröckelndem Marmor gebildeten Pfade
quer über den Hof in das Hauptgebäude. Hier reiht sich Gefängnis an Gefängnis.
Denn das schon von dem Eroberer auf den Trümmern des byzantinischen "Hepta-
pyrgon" erbaute Schloß diente viele Jahrhunderte lang als Bastille. Wie viel geheime
Folterungen und Hinrichtungen, wie viel langsames Dahinsiechen in ewiger Kerkernacht
haben diese Wände und Fußböden gesehen! Im Erdgeschoß zeigte uns unser Führer
den Hinrichtungsraum und in ihm den sogenannten "Blutbruunen," einen tiefen, ge¬
mauerten Schacht, in den die Köpfe der Getöteten geworfen wurden. Der Stein,
der für gewöhnlich darüber gedeckt ist, war zur Seite geschoben. Wir konnten
durch die furchtbare, kreisrunde Öffnung hinunterblicken in die gähnende Nacht des
Todes, aus der die Witterung des vergossenen Menschenblutes hervorzuquellen
schien. Wir machten, daß wir weiter kamen. Es wurden zwei Laternen ange¬
zündet, und wir betraten nun enge, feuchte Löcher mit schießschartenähnlichen Licht-
öffnungen, die nach außen vergittert und noch dazu von innen durch einen eisernen
Laden verschließbar waren. Kein Strahl des himmlischen Lichts drang zu den
Unglücklichen, die hier eingekerkert waren. Doch gab es auch hellere und geräumigere
Gelasse, in die die von den Janitscharen abgesetzten Sultane und die Gesandten
der fremden Mächte gesteckt wurden, mit denen die Pforte in Krieg geriet. Denn
auch diese wurden nach guter alttürkischcr Sitte am Tage der Kriegserklärung nach
Jeti-Kule gebracht. Das letztemal geschah dies 1798 mit dem französischen Ge¬
sandten Ruffin.

Auf halsbrecherischen, dunkeln Treppen ging es dann hinauf auf das Dach
des südlichen der beiden mächtigen, aus Marmorquadern ohne Mörtel errichteten
viereckigen Pylone. Von hier sah man links das Meer, rechts die lange Mauer¬
linie mit ihren Türmen. Die Stadt füllt das Gewand, das ihr einst Kaiser
Theodosius angemessen hat, jetzt nicht mehr ganz aus. Die Häuser reichen nicht
bis an die Mauer heran, und Obst- und Gemüsegärten bilden einen breiten, grünen
Saum hinter dem altersgrauen Steinring. Zwischen dem Pylon, auf dem wir stehn,
und seinem nördlichen Nachbar liegt das "goldne Tor," die alte Porta triumphalis
von Byzanz, durch die die sieggekrönten Kaiser in ihre Residenz zurückkehrten. Noch
jetzt ist auf den beiden Pfeilern das Monogramm Christi zu sehen, aber der reiche
Statuen- und Reliefschmuck, der ehemals das Tor zierte, ist dahin. Eine alte
türkische Prophezeiung verkündet, daß der zukünftige christliche Eroberer durch dieses
Tor in die dem Christentum zurückgewonnene Stadt einziehn werde. Aber die
Türken sind schlaue Leute, sie vermauerten einfach das goldne Tor, nun kann der
Eroberer nicht hinein. Von dem Südpylon aus sahen wir in geringer Entfernung
einen schönen achteckigen Turm, der noch zu Jeti-Kule gehört. Unser albcmesischer
Führer Dellio erzählte uns, das sei der "Turm des Pholas"; dem seien dort die
Augen weggenommen worden, dem, der ihm das getan habe, seien sie dann später
ebenfalls weggenommen worden. Ob das so richtig ist, weiß ich nicht. Im Meyer
steht nichts davon.


Aonstantinopolitanische Reiseerlebnisse

Man beginnt die Besichtigung der Mauern am besten im Süden, da, wo sie
an das Marmarameer stoßen. Mit der Eisenbahn fährt man durch die Gärten des
Serail und dann hinter den zinnengekrönten „Seemcmern" entlang, die setzt durch
zahlreiche Breschen nach links hin Ausblicke auf das blaue Wasser gewähren. Zur
Rechten sieht man vergitterte, windschiefe Türkenhäuser und weite grüne Gemüse¬
gärten. Bei der ersten Station steigt man aus und geht in wenig Minuten zu dem
„Schloß der sieben Türme," türkisch Jeti-Knie, dem Südknstell der Mauer. Ein
Derwisch führt uns von der Stadtseite her in den Hof. Er ist von mächtigen Mauern
und hohen Gebäuden umgeben, aber alles ist in Verfall, sodaß die Stätte fast so
romantisch wie eine Ritterburg aussieht. In der Mitte steht eine kleine, teilweise
zusammengcbrochne Moschee mit einem Minaret, beschattet von Zypressen und Pla¬
tanen; steinerne Kanonenkugeln liegen in den Ecken, auf den Zinnen der Türme,
wo einst die Häupter Hingerichteter Wesire hingen, wehen jetzt wilde Lorbeerbüsche
im Winde. Wir schreiten auf einem aus zerbröckelndem Marmor gebildeten Pfade
quer über den Hof in das Hauptgebäude. Hier reiht sich Gefängnis an Gefängnis.
Denn das schon von dem Eroberer auf den Trümmern des byzantinischen „Hepta-
pyrgon" erbaute Schloß diente viele Jahrhunderte lang als Bastille. Wie viel geheime
Folterungen und Hinrichtungen, wie viel langsames Dahinsiechen in ewiger Kerkernacht
haben diese Wände und Fußböden gesehen! Im Erdgeschoß zeigte uns unser Führer
den Hinrichtungsraum und in ihm den sogenannten „Blutbruunen," einen tiefen, ge¬
mauerten Schacht, in den die Köpfe der Getöteten geworfen wurden. Der Stein,
der für gewöhnlich darüber gedeckt ist, war zur Seite geschoben. Wir konnten
durch die furchtbare, kreisrunde Öffnung hinunterblicken in die gähnende Nacht des
Todes, aus der die Witterung des vergossenen Menschenblutes hervorzuquellen
schien. Wir machten, daß wir weiter kamen. Es wurden zwei Laternen ange¬
zündet, und wir betraten nun enge, feuchte Löcher mit schießschartenähnlichen Licht-
öffnungen, die nach außen vergittert und noch dazu von innen durch einen eisernen
Laden verschließbar waren. Kein Strahl des himmlischen Lichts drang zu den
Unglücklichen, die hier eingekerkert waren. Doch gab es auch hellere und geräumigere
Gelasse, in die die von den Janitscharen abgesetzten Sultane und die Gesandten
der fremden Mächte gesteckt wurden, mit denen die Pforte in Krieg geriet. Denn
auch diese wurden nach guter alttürkischcr Sitte am Tage der Kriegserklärung nach
Jeti-Kule gebracht. Das letztemal geschah dies 1798 mit dem französischen Ge¬
sandten Ruffin.

Auf halsbrecherischen, dunkeln Treppen ging es dann hinauf auf das Dach
des südlichen der beiden mächtigen, aus Marmorquadern ohne Mörtel errichteten
viereckigen Pylone. Von hier sah man links das Meer, rechts die lange Mauer¬
linie mit ihren Türmen. Die Stadt füllt das Gewand, das ihr einst Kaiser
Theodosius angemessen hat, jetzt nicht mehr ganz aus. Die Häuser reichen nicht
bis an die Mauer heran, und Obst- und Gemüsegärten bilden einen breiten, grünen
Saum hinter dem altersgrauen Steinring. Zwischen dem Pylon, auf dem wir stehn,
und seinem nördlichen Nachbar liegt das „goldne Tor," die alte Porta triumphalis
von Byzanz, durch die die sieggekrönten Kaiser in ihre Residenz zurückkehrten. Noch
jetzt ist auf den beiden Pfeilern das Monogramm Christi zu sehen, aber der reiche
Statuen- und Reliefschmuck, der ehemals das Tor zierte, ist dahin. Eine alte
türkische Prophezeiung verkündet, daß der zukünftige christliche Eroberer durch dieses
Tor in die dem Christentum zurückgewonnene Stadt einziehn werde. Aber die
Türken sind schlaue Leute, sie vermauerten einfach das goldne Tor, nun kann der
Eroberer nicht hinein. Von dem Südpylon aus sahen wir in geringer Entfernung
einen schönen achteckigen Turm, der noch zu Jeti-Kule gehört. Unser albcmesischer
Führer Dellio erzählte uns, das sei der „Turm des Pholas"; dem seien dort die
Augen weggenommen worden, dem, der ihm das getan habe, seien sie dann später
ebenfalls weggenommen worden. Ob das so richtig ist, weiß ich nicht. Im Meyer
steht nichts davon.


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[0639] Aonstantinopolitanische Reiseerlebnisse Man beginnt die Besichtigung der Mauern am besten im Süden, da, wo sie an das Marmarameer stoßen. Mit der Eisenbahn fährt man durch die Gärten des Serail und dann hinter den zinnengekrönten „Seemcmern" entlang, die setzt durch zahlreiche Breschen nach links hin Ausblicke auf das blaue Wasser gewähren. Zur Rechten sieht man vergitterte, windschiefe Türkenhäuser und weite grüne Gemüse¬ gärten. Bei der ersten Station steigt man aus und geht in wenig Minuten zu dem „Schloß der sieben Türme," türkisch Jeti-Knie, dem Südknstell der Mauer. Ein Derwisch führt uns von der Stadtseite her in den Hof. Er ist von mächtigen Mauern und hohen Gebäuden umgeben, aber alles ist in Verfall, sodaß die Stätte fast so romantisch wie eine Ritterburg aussieht. In der Mitte steht eine kleine, teilweise zusammengcbrochne Moschee mit einem Minaret, beschattet von Zypressen und Pla¬ tanen; steinerne Kanonenkugeln liegen in den Ecken, auf den Zinnen der Türme, wo einst die Häupter Hingerichteter Wesire hingen, wehen jetzt wilde Lorbeerbüsche im Winde. Wir schreiten auf einem aus zerbröckelndem Marmor gebildeten Pfade quer über den Hof in das Hauptgebäude. Hier reiht sich Gefängnis an Gefängnis. Denn das schon von dem Eroberer auf den Trümmern des byzantinischen „Hepta- pyrgon" erbaute Schloß diente viele Jahrhunderte lang als Bastille. Wie viel geheime Folterungen und Hinrichtungen, wie viel langsames Dahinsiechen in ewiger Kerkernacht haben diese Wände und Fußböden gesehen! Im Erdgeschoß zeigte uns unser Führer den Hinrichtungsraum und in ihm den sogenannten „Blutbruunen," einen tiefen, ge¬ mauerten Schacht, in den die Köpfe der Getöteten geworfen wurden. Der Stein, der für gewöhnlich darüber gedeckt ist, war zur Seite geschoben. Wir konnten durch die furchtbare, kreisrunde Öffnung hinunterblicken in die gähnende Nacht des Todes, aus der die Witterung des vergossenen Menschenblutes hervorzuquellen schien. Wir machten, daß wir weiter kamen. Es wurden zwei Laternen ange¬ zündet, und wir betraten nun enge, feuchte Löcher mit schießschartenähnlichen Licht- öffnungen, die nach außen vergittert und noch dazu von innen durch einen eisernen Laden verschließbar waren. Kein Strahl des himmlischen Lichts drang zu den Unglücklichen, die hier eingekerkert waren. Doch gab es auch hellere und geräumigere Gelasse, in die die von den Janitscharen abgesetzten Sultane und die Gesandten der fremden Mächte gesteckt wurden, mit denen die Pforte in Krieg geriet. Denn auch diese wurden nach guter alttürkischcr Sitte am Tage der Kriegserklärung nach Jeti-Kule gebracht. Das letztemal geschah dies 1798 mit dem französischen Ge¬ sandten Ruffin. Auf halsbrecherischen, dunkeln Treppen ging es dann hinauf auf das Dach des südlichen der beiden mächtigen, aus Marmorquadern ohne Mörtel errichteten viereckigen Pylone. Von hier sah man links das Meer, rechts die lange Mauer¬ linie mit ihren Türmen. Die Stadt füllt das Gewand, das ihr einst Kaiser Theodosius angemessen hat, jetzt nicht mehr ganz aus. Die Häuser reichen nicht bis an die Mauer heran, und Obst- und Gemüsegärten bilden einen breiten, grünen Saum hinter dem altersgrauen Steinring. Zwischen dem Pylon, auf dem wir stehn, und seinem nördlichen Nachbar liegt das „goldne Tor," die alte Porta triumphalis von Byzanz, durch die die sieggekrönten Kaiser in ihre Residenz zurückkehrten. Noch jetzt ist auf den beiden Pfeilern das Monogramm Christi zu sehen, aber der reiche Statuen- und Reliefschmuck, der ehemals das Tor zierte, ist dahin. Eine alte türkische Prophezeiung verkündet, daß der zukünftige christliche Eroberer durch dieses Tor in die dem Christentum zurückgewonnene Stadt einziehn werde. Aber die Türken sind schlaue Leute, sie vermauerten einfach das goldne Tor, nun kann der Eroberer nicht hinein. Von dem Südpylon aus sahen wir in geringer Entfernung einen schönen achteckigen Turm, der noch zu Jeti-Kule gehört. Unser albcmesischer Führer Dellio erzählte uns, das sei der „Turm des Pholas"; dem seien dort die Augen weggenommen worden, dem, der ihm das getan habe, seien sie dann später ebenfalls weggenommen worden. Ob das so richtig ist, weiß ich nicht. Im Meyer steht nichts davon.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/639>, abgerufen am 29.09.2024.