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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Ungarn

Man muß solche Tatsachen beachten, wenn man das Verhalten der
Magyaren in der Gegenwart verstehn und richtig deuten will. Nach der
großen Niederlage von 1849, die alle magyarischen Träume vernichtet zu
haben schien, hat sich ein unerhörtes Glück an ihre Fersen geheftet. Ihr
kleiner Stamm, oder richtiger gesagt, die ungarische Aristokratie, ist der zahl¬
reichen Gegner im Lande Herr geworden; sie begann europäisch zu arbeiten,
richtete im Innern einen förmlichen Sonderstaat ein, verschaffte ihren Plänen
durch die rücksichtsloseste Magyarisierung eine breitere Grundlage, rankte am
österreichischen Kredit den eignen empor und lockte durch künstliche Mittel
einen Teil der österreichischen Industrie über die Grenzen zu sich hinüber,
während man zugleich Österreich als Markt für die ungarischen landwirt¬
schaftlichen Erzeugnisse fest in den Fängen hielt. Damit noch nicht genug,
übte Ungarn, infolge des Unvermögens der Deutschösterreicher, ihre parla¬
mentarische Herrschaft in der westlichen Reichshälfte zu behaupten, und der
daraus hervorgegangnen Machtlosigkeit des Wiener Reichsrath, einen ent¬
scheidenden Einfluß auf die auswärtige und die volkswirtschaftliche Politik
des Gesamtstaates aus und konnte sich die Niederzwingung der nicht¬
magyarischen Stämme, die sich bis in die Nachbarländer verzweigen, nur aus
dem Grund erlauben, weil es eine österreichische Monarchie gibt, und die
ungarische Staatskunst über deren Heer verfügt, das freilich zu mehr als zwei
Dritteln von Österreich bezahlt wird. Denn im "freien" Ungarn gibt es
ohne Einschreiten des Militärs keine Wahlen, und auch bei den letzten, den
sogenannten "reinen Wahlen" unter Koloman von Szell, ist es ohne Schießerei
nicht abgegangen. Die Raubzüge aus österreichischem Gebiet sind eine alte
magyarische Sitte; früher wurden sie mit dem Säbel und zu Pferde, heute
mit Paragraphen und parlamentarischen Waffen ausgeführt. In älterer Zeit
übten sie ihren Druck ans die kaiserliche Dynastie aus, weil diese immer in
Geldnöten war und nur selten genügende Unterstützung aus dem Reich er¬
hielt, und erpreßten für sich Vorteile bei jedem Negentenwechsel; jetzt erreichen
sie dasselbe bei den Erneuerungen des Ausgleichs, weil hinter der österreichischen
Regierung niemals die geschlossene Macht des Parlaments steht.

Tatsächlich hat es der magyarische Einfluß zu verhindern gewußt, daß
schon beim Abschluß des wirtschaftlichen Ausgleichs die Grundlage der in den
beiden Reichsyülften bestehenden ökonomischen Verhältnisse eingehalten wurde;
Ungarn wurde schon von vornherein begünstigt. Aber auch in den nicht
gerade zahlreichen Punkten, bei denen dies nicht der Fall war, hat sich Ungarn
durch unredliche Durchführung, oft sogar durch offne Verletzung der Ab¬
machungen Vorteile zu verschaffen gewußt. Außerdem hat die ungarische
Regierung durch einseitige Begünstigung der ungarischen Industrie bei der
Besteuerung und dem Bezug von Maschinen und Rohstoffen, bei Lieferungen usw.
deu Mitbewerb der österreichischen Erzeugnisse erschwert und vielfach geradezu
ausgeschlossen. Die Ursache von alledem ergibt sich aus dem schon geschilderten
Politischen Übergewicht Ungarns, und wenn heute in Österreich stürmisch die
Beseitigung dieser Durchbrechung des Ausgleichsvertrags verlangt wird, so
sollte man doch nicht vergessen, daß man damit allein die Folgen, nicht aber


Ungarn

Man muß solche Tatsachen beachten, wenn man das Verhalten der
Magyaren in der Gegenwart verstehn und richtig deuten will. Nach der
großen Niederlage von 1849, die alle magyarischen Träume vernichtet zu
haben schien, hat sich ein unerhörtes Glück an ihre Fersen geheftet. Ihr
kleiner Stamm, oder richtiger gesagt, die ungarische Aristokratie, ist der zahl¬
reichen Gegner im Lande Herr geworden; sie begann europäisch zu arbeiten,
richtete im Innern einen förmlichen Sonderstaat ein, verschaffte ihren Plänen
durch die rücksichtsloseste Magyarisierung eine breitere Grundlage, rankte am
österreichischen Kredit den eignen empor und lockte durch künstliche Mittel
einen Teil der österreichischen Industrie über die Grenzen zu sich hinüber,
während man zugleich Österreich als Markt für die ungarischen landwirt¬
schaftlichen Erzeugnisse fest in den Fängen hielt. Damit noch nicht genug,
übte Ungarn, infolge des Unvermögens der Deutschösterreicher, ihre parla¬
mentarische Herrschaft in der westlichen Reichshälfte zu behaupten, und der
daraus hervorgegangnen Machtlosigkeit des Wiener Reichsrath, einen ent¬
scheidenden Einfluß auf die auswärtige und die volkswirtschaftliche Politik
des Gesamtstaates aus und konnte sich die Niederzwingung der nicht¬
magyarischen Stämme, die sich bis in die Nachbarländer verzweigen, nur aus
dem Grund erlauben, weil es eine österreichische Monarchie gibt, und die
ungarische Staatskunst über deren Heer verfügt, das freilich zu mehr als zwei
Dritteln von Österreich bezahlt wird. Denn im „freien" Ungarn gibt es
ohne Einschreiten des Militärs keine Wahlen, und auch bei den letzten, den
sogenannten „reinen Wahlen" unter Koloman von Szell, ist es ohne Schießerei
nicht abgegangen. Die Raubzüge aus österreichischem Gebiet sind eine alte
magyarische Sitte; früher wurden sie mit dem Säbel und zu Pferde, heute
mit Paragraphen und parlamentarischen Waffen ausgeführt. In älterer Zeit
übten sie ihren Druck ans die kaiserliche Dynastie aus, weil diese immer in
Geldnöten war und nur selten genügende Unterstützung aus dem Reich er¬
hielt, und erpreßten für sich Vorteile bei jedem Negentenwechsel; jetzt erreichen
sie dasselbe bei den Erneuerungen des Ausgleichs, weil hinter der österreichischen
Regierung niemals die geschlossene Macht des Parlaments steht.

Tatsächlich hat es der magyarische Einfluß zu verhindern gewußt, daß
schon beim Abschluß des wirtschaftlichen Ausgleichs die Grundlage der in den
beiden Reichsyülften bestehenden ökonomischen Verhältnisse eingehalten wurde;
Ungarn wurde schon von vornherein begünstigt. Aber auch in den nicht
gerade zahlreichen Punkten, bei denen dies nicht der Fall war, hat sich Ungarn
durch unredliche Durchführung, oft sogar durch offne Verletzung der Ab¬
machungen Vorteile zu verschaffen gewußt. Außerdem hat die ungarische
Regierung durch einseitige Begünstigung der ungarischen Industrie bei der
Besteuerung und dem Bezug von Maschinen und Rohstoffen, bei Lieferungen usw.
deu Mitbewerb der österreichischen Erzeugnisse erschwert und vielfach geradezu
ausgeschlossen. Die Ursache von alledem ergibt sich aus dem schon geschilderten
Politischen Übergewicht Ungarns, und wenn heute in Österreich stürmisch die
Beseitigung dieser Durchbrechung des Ausgleichsvertrags verlangt wird, so
sollte man doch nicht vergessen, daß man damit allein die Folgen, nicht aber


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[0604] Ungarn Man muß solche Tatsachen beachten, wenn man das Verhalten der Magyaren in der Gegenwart verstehn und richtig deuten will. Nach der großen Niederlage von 1849, die alle magyarischen Träume vernichtet zu haben schien, hat sich ein unerhörtes Glück an ihre Fersen geheftet. Ihr kleiner Stamm, oder richtiger gesagt, die ungarische Aristokratie, ist der zahl¬ reichen Gegner im Lande Herr geworden; sie begann europäisch zu arbeiten, richtete im Innern einen förmlichen Sonderstaat ein, verschaffte ihren Plänen durch die rücksichtsloseste Magyarisierung eine breitere Grundlage, rankte am österreichischen Kredit den eignen empor und lockte durch künstliche Mittel einen Teil der österreichischen Industrie über die Grenzen zu sich hinüber, während man zugleich Österreich als Markt für die ungarischen landwirt¬ schaftlichen Erzeugnisse fest in den Fängen hielt. Damit noch nicht genug, übte Ungarn, infolge des Unvermögens der Deutschösterreicher, ihre parla¬ mentarische Herrschaft in der westlichen Reichshälfte zu behaupten, und der daraus hervorgegangnen Machtlosigkeit des Wiener Reichsrath, einen ent¬ scheidenden Einfluß auf die auswärtige und die volkswirtschaftliche Politik des Gesamtstaates aus und konnte sich die Niederzwingung der nicht¬ magyarischen Stämme, die sich bis in die Nachbarländer verzweigen, nur aus dem Grund erlauben, weil es eine österreichische Monarchie gibt, und die ungarische Staatskunst über deren Heer verfügt, das freilich zu mehr als zwei Dritteln von Österreich bezahlt wird. Denn im „freien" Ungarn gibt es ohne Einschreiten des Militärs keine Wahlen, und auch bei den letzten, den sogenannten „reinen Wahlen" unter Koloman von Szell, ist es ohne Schießerei nicht abgegangen. Die Raubzüge aus österreichischem Gebiet sind eine alte magyarische Sitte; früher wurden sie mit dem Säbel und zu Pferde, heute mit Paragraphen und parlamentarischen Waffen ausgeführt. In älterer Zeit übten sie ihren Druck ans die kaiserliche Dynastie aus, weil diese immer in Geldnöten war und nur selten genügende Unterstützung aus dem Reich er¬ hielt, und erpreßten für sich Vorteile bei jedem Negentenwechsel; jetzt erreichen sie dasselbe bei den Erneuerungen des Ausgleichs, weil hinter der österreichischen Regierung niemals die geschlossene Macht des Parlaments steht. Tatsächlich hat es der magyarische Einfluß zu verhindern gewußt, daß schon beim Abschluß des wirtschaftlichen Ausgleichs die Grundlage der in den beiden Reichsyülften bestehenden ökonomischen Verhältnisse eingehalten wurde; Ungarn wurde schon von vornherein begünstigt. Aber auch in den nicht gerade zahlreichen Punkten, bei denen dies nicht der Fall war, hat sich Ungarn durch unredliche Durchführung, oft sogar durch offne Verletzung der Ab¬ machungen Vorteile zu verschaffen gewußt. Außerdem hat die ungarische Regierung durch einseitige Begünstigung der ungarischen Industrie bei der Besteuerung und dem Bezug von Maschinen und Rohstoffen, bei Lieferungen usw. deu Mitbewerb der österreichischen Erzeugnisse erschwert und vielfach geradezu ausgeschlossen. Die Ursache von alledem ergibt sich aus dem schon geschilderten Politischen Übergewicht Ungarns, und wenn heute in Österreich stürmisch die Beseitigung dieser Durchbrechung des Ausgleichsvertrags verlangt wird, so sollte man doch nicht vergessen, daß man damit allein die Folgen, nicht aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/604>, abgerufen am 23.07.2024.