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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Monarchie nicht durchsetzen konnte, und bis zu den Hnndelsvertrngsverhandlungen
von 1891 hat man in Wien dnrch eine liebenswürdige, mit Jovialität und vor¬
nehmer Gastlichkeit durchsetzte Zähigkeit seine Ziele zu erreichen verstanden, eine
Zähigkeit, die bekanntlich auch in Nikolsburg 1866 die österreichischen Unterhändler
nicht verließ. Aber Graf Posadowsky hat sich gegen diese traditionelle Überlegen¬
heit der Wiener Diplomatie als gefeit erwiesen. Es war keine geringe Selbstver¬
leugnung, als er lieber auf den Vertrag verzichtete und es vorzog, anscheinend
unverrichteter Dinge abzureisen, anstatt sich in Wien an der Nase herumführen zu
lassen, wobei die österreichisch-ungarischen Differenzen von den dortigen Unterhändlern
mit großem Geschick verwertet wurden. Auch durch den Appell an das "Bündnis,"
der von Wien her in der deutschen Presse angestimmt wurde, hat sich Graf Posa¬
dowsky nicht einschüchtern lassen. Er und Graf Bülow sind dem Bismarckischen
Axiom gefolgt: "Wer in der Politik Erfolge erzielen will, muß zu warten ver-
stehn." Ehedem waren es die Österreicher, die zu warten verstanden, diesesmal
sind wir ihnen darin über gewesen, und der Erfolg wird nicht ausbleiben. Sobald
man in Wien die Gewißheit erlangt hatte, daß der deutsche Reichskanzler auch
ohne deu deutsch-österreichischen Vertrag vor den Reichstag treten werde, und
Österreich leicht in eine gefährliche Isolierung geraten könne, zog man andre Saiten
auf. Die Abreise des Grafen Posadowsky hat die Chancen des Zustandekommens
nicht verschlechtert, sondern sehr gebessert, es war das auf deutscher Seite richtig
angewandte Mittel der zwölften Stunde. In der ganzen Angelegenheit der Handels¬
verträge ist von deutscher Seite sowohl dem Reichstag als dem Auslande gegen¬
über mit großer Geschicklichkeit und mit voller Ausnutzung einer Reihe günstiger
Umstände operiert worden; die Österreicher hatten buchstäblich -- das Nachsehen.

Der Reichstag hat schon die erste Lesung des Etats vor leeren Bänken be¬
gonnen. Würde der Etat uicht fertig vorliegen, so würde die Regierung mit
Vorwürfen wegen ihrer Saumseligkeit überhäuft werden, jetzt, wo er rechtzeitig
eingebracht worden ist, fehlen die Herren Reichsbotcn, gleichsam als schenken sie die
Verantwortlichkeit, die ihnen der Ernst der Zeit auferlegt. Mit Feilschen am Not¬
wendigsten läßt sich keine Finanzreform machen, das ist ohnehin nichts mehr als
ein Aufschub einer Zahlung, der in den folgende" Jahren um so schwerer ins
Gewicht fällt. Wenn heute ein siegreicher Feind sechs oder noch mehr Milliarden
Kriegskosten forderte, würde der Reichstag sehr schnell Rat wissen. Aber wo es
sich um dringliche Aufgaben handelt, ein solches Unheil zu verhüten, versagt er
oder gibt gar durch parlamentarische Fechterstreiche große Summen ans den künftigen
Zollerträgen in unverständiger Weise preis. Witwen- und Waisenversorgung klingt
ja recht schön und macht vor den Wählern gute Figur. Aber das Deutsche Reich
hat vorläufig dringendere Aufgaben. Kein Staat der Welt versorgt die Arbeiter¬
witwen und -Waisen aus dem Reichsbudget, es ist durchaus keine Notwendigkeit,
daß das Deutsche Reich immer mit solchen Experimenten den Anfang macht. Die
Arbeitslöhne sind im Laufe des letzten Jahrzehnts enorm gestiegen, die Arbeiter
führen große Summen in die Streikkassen ab, viel richtiger wäre da ein Gesetz,
wonach Witwen und Waisen der Arbeiter aus den Streikkassen zu erhalten wären.
Sonst ist es in der ganzen Welt nnr üblich, daß Witwen und Waisen solcher
Personen, die vor dein Feinde gefallen oder im öffentlichen Dienst gestorben
sind, von Staats wegen versorgt werden. Wenn das jetzt auch dem Arbeiter zu¬
erkannt wird, der 1. keine Steuern zahlt, 2. kein Schulgeld zahlt, 3. seine Bezüge
fortgesetzt steigert und 4. die Streikkassen mit großen Summen füllt, so liegt
darin eine schreiende Ungerechtigkeit gegen alle andern Berufsstände, deren An¬
gehörige auch nicht auf Rosen gebettet sind, und die doch für ihre Witwen und
Waisen sorgen. Diese ins Maßlose gesteigerte Arbeiterfürsorge, die längst zum
Gegenstand des Wettlaufs zwischen den Parteien geworden ist, führt in ihren Folgen
unvermeidlich zu einer Verweichlichung der Nation, wie jetzt im Heerwesen schon
deutlich erkennbar ist.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Monarchie nicht durchsetzen konnte, und bis zu den Hnndelsvertrngsverhandlungen
von 1891 hat man in Wien dnrch eine liebenswürdige, mit Jovialität und vor¬
nehmer Gastlichkeit durchsetzte Zähigkeit seine Ziele zu erreichen verstanden, eine
Zähigkeit, die bekanntlich auch in Nikolsburg 1866 die österreichischen Unterhändler
nicht verließ. Aber Graf Posadowsky hat sich gegen diese traditionelle Überlegen¬
heit der Wiener Diplomatie als gefeit erwiesen. Es war keine geringe Selbstver¬
leugnung, als er lieber auf den Vertrag verzichtete und es vorzog, anscheinend
unverrichteter Dinge abzureisen, anstatt sich in Wien an der Nase herumführen zu
lassen, wobei die österreichisch-ungarischen Differenzen von den dortigen Unterhändlern
mit großem Geschick verwertet wurden. Auch durch den Appell an das „Bündnis,"
der von Wien her in der deutschen Presse angestimmt wurde, hat sich Graf Posa¬
dowsky nicht einschüchtern lassen. Er und Graf Bülow sind dem Bismarckischen
Axiom gefolgt: „Wer in der Politik Erfolge erzielen will, muß zu warten ver-
stehn." Ehedem waren es die Österreicher, die zu warten verstanden, diesesmal
sind wir ihnen darin über gewesen, und der Erfolg wird nicht ausbleiben. Sobald
man in Wien die Gewißheit erlangt hatte, daß der deutsche Reichskanzler auch
ohne deu deutsch-österreichischen Vertrag vor den Reichstag treten werde, und
Österreich leicht in eine gefährliche Isolierung geraten könne, zog man andre Saiten
auf. Die Abreise des Grafen Posadowsky hat die Chancen des Zustandekommens
nicht verschlechtert, sondern sehr gebessert, es war das auf deutscher Seite richtig
angewandte Mittel der zwölften Stunde. In der ganzen Angelegenheit der Handels¬
verträge ist von deutscher Seite sowohl dem Reichstag als dem Auslande gegen¬
über mit großer Geschicklichkeit und mit voller Ausnutzung einer Reihe günstiger
Umstände operiert worden; die Österreicher hatten buchstäblich — das Nachsehen.

Der Reichstag hat schon die erste Lesung des Etats vor leeren Bänken be¬
gonnen. Würde der Etat uicht fertig vorliegen, so würde die Regierung mit
Vorwürfen wegen ihrer Saumseligkeit überhäuft werden, jetzt, wo er rechtzeitig
eingebracht worden ist, fehlen die Herren Reichsbotcn, gleichsam als schenken sie die
Verantwortlichkeit, die ihnen der Ernst der Zeit auferlegt. Mit Feilschen am Not¬
wendigsten läßt sich keine Finanzreform machen, das ist ohnehin nichts mehr als
ein Aufschub einer Zahlung, der in den folgende» Jahren um so schwerer ins
Gewicht fällt. Wenn heute ein siegreicher Feind sechs oder noch mehr Milliarden
Kriegskosten forderte, würde der Reichstag sehr schnell Rat wissen. Aber wo es
sich um dringliche Aufgaben handelt, ein solches Unheil zu verhüten, versagt er
oder gibt gar durch parlamentarische Fechterstreiche große Summen ans den künftigen
Zollerträgen in unverständiger Weise preis. Witwen- und Waisenversorgung klingt
ja recht schön und macht vor den Wählern gute Figur. Aber das Deutsche Reich
hat vorläufig dringendere Aufgaben. Kein Staat der Welt versorgt die Arbeiter¬
witwen und -Waisen aus dem Reichsbudget, es ist durchaus keine Notwendigkeit,
daß das Deutsche Reich immer mit solchen Experimenten den Anfang macht. Die
Arbeitslöhne sind im Laufe des letzten Jahrzehnts enorm gestiegen, die Arbeiter
führen große Summen in die Streikkassen ab, viel richtiger wäre da ein Gesetz,
wonach Witwen und Waisen der Arbeiter aus den Streikkassen zu erhalten wären.
Sonst ist es in der ganzen Welt nnr üblich, daß Witwen und Waisen solcher
Personen, die vor dein Feinde gefallen oder im öffentlichen Dienst gestorben
sind, von Staats wegen versorgt werden. Wenn das jetzt auch dem Arbeiter zu¬
erkannt wird, der 1. keine Steuern zahlt, 2. kein Schulgeld zahlt, 3. seine Bezüge
fortgesetzt steigert und 4. die Streikkassen mit großen Summen füllt, so liegt
darin eine schreiende Ungerechtigkeit gegen alle andern Berufsstände, deren An¬
gehörige auch nicht auf Rosen gebettet sind, und die doch für ihre Witwen und
Waisen sorgen. Diese ins Maßlose gesteigerte Arbeiterfürsorge, die längst zum
Gegenstand des Wettlaufs zwischen den Parteien geworden ist, führt in ihren Folgen
unvermeidlich zu einer Verweichlichung der Nation, wie jetzt im Heerwesen schon
deutlich erkennbar ist.


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[0594] Maßgebliches und Unmaßgebliches Monarchie nicht durchsetzen konnte, und bis zu den Hnndelsvertrngsverhandlungen von 1891 hat man in Wien dnrch eine liebenswürdige, mit Jovialität und vor¬ nehmer Gastlichkeit durchsetzte Zähigkeit seine Ziele zu erreichen verstanden, eine Zähigkeit, die bekanntlich auch in Nikolsburg 1866 die österreichischen Unterhändler nicht verließ. Aber Graf Posadowsky hat sich gegen diese traditionelle Überlegen¬ heit der Wiener Diplomatie als gefeit erwiesen. Es war keine geringe Selbstver¬ leugnung, als er lieber auf den Vertrag verzichtete und es vorzog, anscheinend unverrichteter Dinge abzureisen, anstatt sich in Wien an der Nase herumführen zu lassen, wobei die österreichisch-ungarischen Differenzen von den dortigen Unterhändlern mit großem Geschick verwertet wurden. Auch durch den Appell an das „Bündnis," der von Wien her in der deutschen Presse angestimmt wurde, hat sich Graf Posa¬ dowsky nicht einschüchtern lassen. Er und Graf Bülow sind dem Bismarckischen Axiom gefolgt: „Wer in der Politik Erfolge erzielen will, muß zu warten ver- stehn." Ehedem waren es die Österreicher, die zu warten verstanden, diesesmal sind wir ihnen darin über gewesen, und der Erfolg wird nicht ausbleiben. Sobald man in Wien die Gewißheit erlangt hatte, daß der deutsche Reichskanzler auch ohne deu deutsch-österreichischen Vertrag vor den Reichstag treten werde, und Österreich leicht in eine gefährliche Isolierung geraten könne, zog man andre Saiten auf. Die Abreise des Grafen Posadowsky hat die Chancen des Zustandekommens nicht verschlechtert, sondern sehr gebessert, es war das auf deutscher Seite richtig angewandte Mittel der zwölften Stunde. In der ganzen Angelegenheit der Handels¬ verträge ist von deutscher Seite sowohl dem Reichstag als dem Auslande gegen¬ über mit großer Geschicklichkeit und mit voller Ausnutzung einer Reihe günstiger Umstände operiert worden; die Österreicher hatten buchstäblich — das Nachsehen. Der Reichstag hat schon die erste Lesung des Etats vor leeren Bänken be¬ gonnen. Würde der Etat uicht fertig vorliegen, so würde die Regierung mit Vorwürfen wegen ihrer Saumseligkeit überhäuft werden, jetzt, wo er rechtzeitig eingebracht worden ist, fehlen die Herren Reichsbotcn, gleichsam als schenken sie die Verantwortlichkeit, die ihnen der Ernst der Zeit auferlegt. Mit Feilschen am Not¬ wendigsten läßt sich keine Finanzreform machen, das ist ohnehin nichts mehr als ein Aufschub einer Zahlung, der in den folgende» Jahren um so schwerer ins Gewicht fällt. Wenn heute ein siegreicher Feind sechs oder noch mehr Milliarden Kriegskosten forderte, würde der Reichstag sehr schnell Rat wissen. Aber wo es sich um dringliche Aufgaben handelt, ein solches Unheil zu verhüten, versagt er oder gibt gar durch parlamentarische Fechterstreiche große Summen ans den künftigen Zollerträgen in unverständiger Weise preis. Witwen- und Waisenversorgung klingt ja recht schön und macht vor den Wählern gute Figur. Aber das Deutsche Reich hat vorläufig dringendere Aufgaben. Kein Staat der Welt versorgt die Arbeiter¬ witwen und -Waisen aus dem Reichsbudget, es ist durchaus keine Notwendigkeit, daß das Deutsche Reich immer mit solchen Experimenten den Anfang macht. Die Arbeitslöhne sind im Laufe des letzten Jahrzehnts enorm gestiegen, die Arbeiter führen große Summen in die Streikkassen ab, viel richtiger wäre da ein Gesetz, wonach Witwen und Waisen der Arbeiter aus den Streikkassen zu erhalten wären. Sonst ist es in der ganzen Welt nnr üblich, daß Witwen und Waisen solcher Personen, die vor dein Feinde gefallen oder im öffentlichen Dienst gestorben sind, von Staats wegen versorgt werden. Wenn das jetzt auch dem Arbeiter zu¬ erkannt wird, der 1. keine Steuern zahlt, 2. kein Schulgeld zahlt, 3. seine Bezüge fortgesetzt steigert und 4. die Streikkassen mit großen Summen füllt, so liegt darin eine schreiende Ungerechtigkeit gegen alle andern Berufsstände, deren An¬ gehörige auch nicht auf Rosen gebettet sind, und die doch für ihre Witwen und Waisen sorgen. Diese ins Maßlose gesteigerte Arbeiterfürsorge, die längst zum Gegenstand des Wettlaufs zwischen den Parteien geworden ist, führt in ihren Folgen unvermeidlich zu einer Verweichlichung der Nation, wie jetzt im Heerwesen schon deutlich erkennbar ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/594>, abgerufen am 23.07.2024.