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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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von alten Büchern

boshafte "Anmerkungen" erschienen, von einem Ungenannten ganz in des
Magisters Geist und Stil abgefaßt, und hatten trotz dem ernsten Gegenstande
viel zu lachen gegeben. Und als Sivers auf einem Stein aus dem Ufer¬
sand der Ostsee musikalische Noten zu entdecken gemeint hatte und diesen
musikalischen Stein säuberlich in Kupfer stechen ließ und das Konterfei mit
einem schönen lateinischen Begleitschreiben der Berliner Akademie zusandte,
da hatte der Anonymus abermals eine Schrift wider ihn ausgehn lassen.
"Vitres, traotÄ oder Schreiben an einen gelehrten Samojeden, betreffend die
seltsamen und nachdenklichen Figuren auf einer gefrornen Fenster-Scheibe," so
hieß diese Satire, die unter dem Schein einer tiefsinnigen Abhandlung über
die Symbolik der Eisgebilde das Tun und Treiben des jungen Magisters
als "nichtswürdig läppisch Zeug" verspottete und ihm bittre Worte zu hören
gab, nicht nur über seinen bunten Quark und sein barbarisches Küchenlatein,
sondern mehr noch über seine dünkelhafte Vielschreiberei und den Bombast
seiner deutscheu Verse. Und jetzt war die Satire erschienen, die auf ihrem
Titelblatt den Namen Backmeisters trug, und darin bekannte sich der Verfasser
auch zu den gottlosen "Anmerkungen," die Sivers auf öffentlicher Kanzel ver¬
flucht und samt ihrem Autor, Drucker und Verleger in den Abgrund der
Hölle verdammt hatte. Aber keine Seele in Lübeck wollte Backmeister eine
solche Schalkheit zutrauen. Offenbar hatte der böse Anonymus den schüch¬
ternen, überhöflichen Jüngling fälschlich vorgeschoben, damit aus so einfältigen
Munde der lustige Spott noch lustiger klinge.

Wer aber war es, der sich in übermütigen Versteckspiel unter der Maske
des blöden Kandidaten verbarg und gemütsruhig sagte: "Da es meine Absicht
gar nicht war, dem Herrn Mag. Sivers meinen rechten Nahmen zu sagen,
so borgte ich so lange einen fremden"? Es war der erste deutsche Kritiker,
der "das allgemeine Recht der Menschen zu critisiren vollkommen bewiesen
hat," der große Stilist, in dessen Schriften die deutsche Prosa nach langer
trauriger Verkümmerung zum erstenmal wieder aufblühte, Christian Ludwig
Liscow.

Liscows "Samlung satyrischer und Ernsthafter Schriften" erschien im
Jahre 1739, ein stattlicher, schön gedruckter Oktavband von etwa tausend
Seiten. In der Vorrede erteilt Liscow den Satiren seinen väterlichen Segen
und will sich nun um ihr Schicksal nicht weiter bekümmern. "Sie haben schon
Gutes und Böses erfahren, und es kan ihnen nicht viel ärger ergehen, als
es ihnen ergangen ist, da sie das erste mahl in der Welt erschienen. Wenigstens
werden sie, allem Ansehen nach, nicht mehr so vielen ungleichen Urtheilen
unterworfen sein als ehemahls."

Darin hatte sich Liscow getäuscht. Seine Schriften mußten zu allen
Zeiten ungleiche Urteile über sich ergehn lassen. Er hat begeisterte Lobredner
und absprechende Tadler gefunden, er ist vergessen und wieder entdeckt worden.
Gervinus, Scherer, Vilmar sind einstimmig in der Anerkennung seiner unab¬
hängigen Gesinnung, seines Muts, seiner männlichen Würde und Gediegen¬
heit -- Hettner wirft ihm vor, er habe sich zu kriechender Niedrigkeit ent¬
würdigt. Julian Schmidt ist seines Lobes voll: selten oder nie wieder hat


von alten Büchern

boshafte „Anmerkungen" erschienen, von einem Ungenannten ganz in des
Magisters Geist und Stil abgefaßt, und hatten trotz dem ernsten Gegenstande
viel zu lachen gegeben. Und als Sivers auf einem Stein aus dem Ufer¬
sand der Ostsee musikalische Noten zu entdecken gemeint hatte und diesen
musikalischen Stein säuberlich in Kupfer stechen ließ und das Konterfei mit
einem schönen lateinischen Begleitschreiben der Berliner Akademie zusandte,
da hatte der Anonymus abermals eine Schrift wider ihn ausgehn lassen.
„Vitres, traotÄ oder Schreiben an einen gelehrten Samojeden, betreffend die
seltsamen und nachdenklichen Figuren auf einer gefrornen Fenster-Scheibe," so
hieß diese Satire, die unter dem Schein einer tiefsinnigen Abhandlung über
die Symbolik der Eisgebilde das Tun und Treiben des jungen Magisters
als „nichtswürdig läppisch Zeug" verspottete und ihm bittre Worte zu hören
gab, nicht nur über seinen bunten Quark und sein barbarisches Küchenlatein,
sondern mehr noch über seine dünkelhafte Vielschreiberei und den Bombast
seiner deutscheu Verse. Und jetzt war die Satire erschienen, die auf ihrem
Titelblatt den Namen Backmeisters trug, und darin bekannte sich der Verfasser
auch zu den gottlosen „Anmerkungen," die Sivers auf öffentlicher Kanzel ver¬
flucht und samt ihrem Autor, Drucker und Verleger in den Abgrund der
Hölle verdammt hatte. Aber keine Seele in Lübeck wollte Backmeister eine
solche Schalkheit zutrauen. Offenbar hatte der böse Anonymus den schüch¬
ternen, überhöflichen Jüngling fälschlich vorgeschoben, damit aus so einfältigen
Munde der lustige Spott noch lustiger klinge.

Wer aber war es, der sich in übermütigen Versteckspiel unter der Maske
des blöden Kandidaten verbarg und gemütsruhig sagte: „Da es meine Absicht
gar nicht war, dem Herrn Mag. Sivers meinen rechten Nahmen zu sagen,
so borgte ich so lange einen fremden"? Es war der erste deutsche Kritiker,
der „das allgemeine Recht der Menschen zu critisiren vollkommen bewiesen
hat," der große Stilist, in dessen Schriften die deutsche Prosa nach langer
trauriger Verkümmerung zum erstenmal wieder aufblühte, Christian Ludwig
Liscow.

Liscows „Samlung satyrischer und Ernsthafter Schriften" erschien im
Jahre 1739, ein stattlicher, schön gedruckter Oktavband von etwa tausend
Seiten. In der Vorrede erteilt Liscow den Satiren seinen väterlichen Segen
und will sich nun um ihr Schicksal nicht weiter bekümmern. „Sie haben schon
Gutes und Böses erfahren, und es kan ihnen nicht viel ärger ergehen, als
es ihnen ergangen ist, da sie das erste mahl in der Welt erschienen. Wenigstens
werden sie, allem Ansehen nach, nicht mehr so vielen ungleichen Urtheilen
unterworfen sein als ehemahls."

Darin hatte sich Liscow getäuscht. Seine Schriften mußten zu allen
Zeiten ungleiche Urteile über sich ergehn lassen. Er hat begeisterte Lobredner
und absprechende Tadler gefunden, er ist vergessen und wieder entdeckt worden.
Gervinus, Scherer, Vilmar sind einstimmig in der Anerkennung seiner unab¬
hängigen Gesinnung, seines Muts, seiner männlichen Würde und Gediegen¬
heit — Hettner wirft ihm vor, er habe sich zu kriechender Niedrigkeit ent¬
würdigt. Julian Schmidt ist seines Lobes voll: selten oder nie wieder hat


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[0448] von alten Büchern boshafte „Anmerkungen" erschienen, von einem Ungenannten ganz in des Magisters Geist und Stil abgefaßt, und hatten trotz dem ernsten Gegenstande viel zu lachen gegeben. Und als Sivers auf einem Stein aus dem Ufer¬ sand der Ostsee musikalische Noten zu entdecken gemeint hatte und diesen musikalischen Stein säuberlich in Kupfer stechen ließ und das Konterfei mit einem schönen lateinischen Begleitschreiben der Berliner Akademie zusandte, da hatte der Anonymus abermals eine Schrift wider ihn ausgehn lassen. „Vitres, traotÄ oder Schreiben an einen gelehrten Samojeden, betreffend die seltsamen und nachdenklichen Figuren auf einer gefrornen Fenster-Scheibe," so hieß diese Satire, die unter dem Schein einer tiefsinnigen Abhandlung über die Symbolik der Eisgebilde das Tun und Treiben des jungen Magisters als „nichtswürdig läppisch Zeug" verspottete und ihm bittre Worte zu hören gab, nicht nur über seinen bunten Quark und sein barbarisches Küchenlatein, sondern mehr noch über seine dünkelhafte Vielschreiberei und den Bombast seiner deutscheu Verse. Und jetzt war die Satire erschienen, die auf ihrem Titelblatt den Namen Backmeisters trug, und darin bekannte sich der Verfasser auch zu den gottlosen „Anmerkungen," die Sivers auf öffentlicher Kanzel ver¬ flucht und samt ihrem Autor, Drucker und Verleger in den Abgrund der Hölle verdammt hatte. Aber keine Seele in Lübeck wollte Backmeister eine solche Schalkheit zutrauen. Offenbar hatte der böse Anonymus den schüch¬ ternen, überhöflichen Jüngling fälschlich vorgeschoben, damit aus so einfältigen Munde der lustige Spott noch lustiger klinge. Wer aber war es, der sich in übermütigen Versteckspiel unter der Maske des blöden Kandidaten verbarg und gemütsruhig sagte: „Da es meine Absicht gar nicht war, dem Herrn Mag. Sivers meinen rechten Nahmen zu sagen, so borgte ich so lange einen fremden"? Es war der erste deutsche Kritiker, der „das allgemeine Recht der Menschen zu critisiren vollkommen bewiesen hat," der große Stilist, in dessen Schriften die deutsche Prosa nach langer trauriger Verkümmerung zum erstenmal wieder aufblühte, Christian Ludwig Liscow. Liscows „Samlung satyrischer und Ernsthafter Schriften" erschien im Jahre 1739, ein stattlicher, schön gedruckter Oktavband von etwa tausend Seiten. In der Vorrede erteilt Liscow den Satiren seinen väterlichen Segen und will sich nun um ihr Schicksal nicht weiter bekümmern. „Sie haben schon Gutes und Böses erfahren, und es kan ihnen nicht viel ärger ergehen, als es ihnen ergangen ist, da sie das erste mahl in der Welt erschienen. Wenigstens werden sie, allem Ansehen nach, nicht mehr so vielen ungleichen Urtheilen unterworfen sein als ehemahls." Darin hatte sich Liscow getäuscht. Seine Schriften mußten zu allen Zeiten ungleiche Urteile über sich ergehn lassen. Er hat begeisterte Lobredner und absprechende Tadler gefunden, er ist vergessen und wieder entdeckt worden. Gervinus, Scherer, Vilmar sind einstimmig in der Anerkennung seiner unab¬ hängigen Gesinnung, seines Muts, seiner männlichen Würde und Gediegen¬ heit — Hettner wirft ihm vor, er habe sich zu kriechender Niedrigkeit ent¬ würdigt. Julian Schmidt ist seines Lobes voll: selten oder nie wieder hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/448>, abgerufen am 23.07.2024.