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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksinseln und Träume

der Dorfhcmdwerker hervorgegangen war, gelang es nicht, durch die Affektation
einer stillen Würde, wie sie, meist etwas fadenscheinig, wie ihre schwarzen Amts¬
röcke, die Bezirkspaschas, vor sich her tragen, seine Stellung zu verbessern. Er hatte
hinter dem Webstuhl gesessen und hatte sich dnrch Fleiß und Sparsamkeit zu einem
kleinen Bauern mit fünf Kühen aufgeschwungen oder vielmehr ausgerungen. Weber
haben, wenigstens auf dem Dorfe, eine gewisse Verwandtschaft mit den Schneidern,
die von der sitzenden Arbeit herkommt und sich in einer farblosen Friedlichkeit be¬
kundet, die niemand imponiert. Schmiede haben Dynastien gegründet oder gehärtet,
Weber werfen ihr Schiffchen im Hintergrund der Welt- und Dorfgeschichte.

Wenn ich auf mein Dorf, diese Stätte voll Leben und Arbeit, herabsehe, ver¬
gesse ich nicht, daß sie zugleich ein ehrwürdiges Denkmal ist. Ihre Anfänge ragen
über die Zeit hinaus, in der Karl der Große die Welt regierte. Das hölzerne
Kirchlein, das als einem Priester Werhenhari gehörend im achten Jahrhundert er¬
wähnt wird, ist zwar längst verschollen, aber man findet in den Urkunden die
Stiftungen zugunsten derer, die Steine zur neuen Kirche gebracht haben. Man
kennt Aufzeichnungen über Käufe und Verkäufe von Ackern und Wiesen in unsrer
Gemarkung. Der Dreißigjährige Krieg hat das Leben auch dieses Dorfes bis
zur Erde niedergebogen, aber es richtete sich wieder auf, als von dreihundert
Menschen, die es vorher bewohnt hatten, nur noch vierzig übrig waren. Ans dieser
Zeit der Trübsal stammt das Grab der von der Pest hingerafften im Stein¬
grund. Solange es Zeugnisse von unserm Dorfe gibt, haben die Menschen gelebt,
gestrebt, gelitten wie heute und haben in frühern Jahrhunderten mit solcher In¬
brunst ihres Endes und ihrer Seligkeit gedacht und soviel Messen, Kerzen und
Bittgänge gestiftet, daß die Lebenden im Dienste der Toten stehn würden, wenn
nicht die Jahrhunderte manches wieder in Vergessenheit hätten kommen lassen.
Wenn man einem Eichelberger die Vorstellung ausreden will, daß die gute alte
Zeit so viel besser als die gegenwärtige sei, erzählt er von der Stiftung des Jörg
von Gundelfingen aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die jedem erwachsnen Eichel¬
berger, der an dem gestifteten "Jahrtag," Sonntag nach Se. Georgien, zur Kirche
geht, ein Maß Wein, ein Maß Bier und Brot vier Pfennige wert zusprach und
jeder Eichelbergerin, die von Anfang bis zu Ende anbetete, eine Elle Tuch; das
sollten auch die Vermöglichen nicht ausschlagen, sondern nehmen und einem armen
Menschen geben. Vom Jahre 1801 an ist diese Spende unterblieben, und die
Eichelberger haben davon wenigstens den Vorteil, daß sie das Ende der guten
alten Zeit sicher zu datieren wisse".

Es hatte für mich eiuen unbeschreiblichen Reiz, mich in diese große Familie
einzuleben. Denn es war eine Familie, unbeschadet der Unterschiede des Glaubens
und des Standes, die die Dorfbewohner stellenweise sonderten. Diese Unterschiede
waren keine Klüfte, ich möchte sie vielmehr den Sprüngen in den Töpfen der
Bauernfrauen vergleichen, von denen das Sprichwort geht: Ein zersprungner Topf
hält noch einmal so lange. Darin lag die Gegenwirkung zur Vereinzelung und
Vereinsamung, der im Dorfleben alle verfallen, die nicht hinter dem Pfluge gehn.
Deshalb gedeihen auf dem Dorfe von den Nichtbcmern die am besten, die sich
wenigstens nebenbei mit Landwirtschaft beschäftigen, und man merkte es den Geist¬
lichen und Lehrern, den Ärzten und Apothekern an, wie sie ihr bißchen Acker-
und Gartenbesitz, ihre paar Kühe und Pferde als die Wurzel pflegten, die sie mit
diesem Boden verband. Schon die Monotonie des Landlebens würde den Stadt¬
menschen niederdrücken, der sich nicht durch Teilnahme an der Arbeit, die alle
bindet und verbindet, mit dem Ganzen in lebendiger Berührung erhielte. Wie
manche Familie in der Stadt ertrug ihr Leben nur, weil es noch nicht alle Wurzel¬
verbindung mit dem Heimatsdorfe verloren hatte; was man den niedern Bürger¬
stand nennt, auch kleine Beamte, Lehrer erhielten sich durch diese Verbindung frisch
und hoffend.

In einer Gemeinschaft, deren Glieder alle mehr oder weniger Landwirtschaft


Glücksinseln und Träume

der Dorfhcmdwerker hervorgegangen war, gelang es nicht, durch die Affektation
einer stillen Würde, wie sie, meist etwas fadenscheinig, wie ihre schwarzen Amts¬
röcke, die Bezirkspaschas, vor sich her tragen, seine Stellung zu verbessern. Er hatte
hinter dem Webstuhl gesessen und hatte sich dnrch Fleiß und Sparsamkeit zu einem
kleinen Bauern mit fünf Kühen aufgeschwungen oder vielmehr ausgerungen. Weber
haben, wenigstens auf dem Dorfe, eine gewisse Verwandtschaft mit den Schneidern,
die von der sitzenden Arbeit herkommt und sich in einer farblosen Friedlichkeit be¬
kundet, die niemand imponiert. Schmiede haben Dynastien gegründet oder gehärtet,
Weber werfen ihr Schiffchen im Hintergrund der Welt- und Dorfgeschichte.

Wenn ich auf mein Dorf, diese Stätte voll Leben und Arbeit, herabsehe, ver¬
gesse ich nicht, daß sie zugleich ein ehrwürdiges Denkmal ist. Ihre Anfänge ragen
über die Zeit hinaus, in der Karl der Große die Welt regierte. Das hölzerne
Kirchlein, das als einem Priester Werhenhari gehörend im achten Jahrhundert er¬
wähnt wird, ist zwar längst verschollen, aber man findet in den Urkunden die
Stiftungen zugunsten derer, die Steine zur neuen Kirche gebracht haben. Man
kennt Aufzeichnungen über Käufe und Verkäufe von Ackern und Wiesen in unsrer
Gemarkung. Der Dreißigjährige Krieg hat das Leben auch dieses Dorfes bis
zur Erde niedergebogen, aber es richtete sich wieder auf, als von dreihundert
Menschen, die es vorher bewohnt hatten, nur noch vierzig übrig waren. Ans dieser
Zeit der Trübsal stammt das Grab der von der Pest hingerafften im Stein¬
grund. Solange es Zeugnisse von unserm Dorfe gibt, haben die Menschen gelebt,
gestrebt, gelitten wie heute und haben in frühern Jahrhunderten mit solcher In¬
brunst ihres Endes und ihrer Seligkeit gedacht und soviel Messen, Kerzen und
Bittgänge gestiftet, daß die Lebenden im Dienste der Toten stehn würden, wenn
nicht die Jahrhunderte manches wieder in Vergessenheit hätten kommen lassen.
Wenn man einem Eichelberger die Vorstellung ausreden will, daß die gute alte
Zeit so viel besser als die gegenwärtige sei, erzählt er von der Stiftung des Jörg
von Gundelfingen aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die jedem erwachsnen Eichel¬
berger, der an dem gestifteten „Jahrtag," Sonntag nach Se. Georgien, zur Kirche
geht, ein Maß Wein, ein Maß Bier und Brot vier Pfennige wert zusprach und
jeder Eichelbergerin, die von Anfang bis zu Ende anbetete, eine Elle Tuch; das
sollten auch die Vermöglichen nicht ausschlagen, sondern nehmen und einem armen
Menschen geben. Vom Jahre 1801 an ist diese Spende unterblieben, und die
Eichelberger haben davon wenigstens den Vorteil, daß sie das Ende der guten
alten Zeit sicher zu datieren wisse».

Es hatte für mich eiuen unbeschreiblichen Reiz, mich in diese große Familie
einzuleben. Denn es war eine Familie, unbeschadet der Unterschiede des Glaubens
und des Standes, die die Dorfbewohner stellenweise sonderten. Diese Unterschiede
waren keine Klüfte, ich möchte sie vielmehr den Sprüngen in den Töpfen der
Bauernfrauen vergleichen, von denen das Sprichwort geht: Ein zersprungner Topf
hält noch einmal so lange. Darin lag die Gegenwirkung zur Vereinzelung und
Vereinsamung, der im Dorfleben alle verfallen, die nicht hinter dem Pfluge gehn.
Deshalb gedeihen auf dem Dorfe von den Nichtbcmern die am besten, die sich
wenigstens nebenbei mit Landwirtschaft beschäftigen, und man merkte es den Geist¬
lichen und Lehrern, den Ärzten und Apothekern an, wie sie ihr bißchen Acker-
und Gartenbesitz, ihre paar Kühe und Pferde als die Wurzel pflegten, die sie mit
diesem Boden verband. Schon die Monotonie des Landlebens würde den Stadt¬
menschen niederdrücken, der sich nicht durch Teilnahme an der Arbeit, die alle
bindet und verbindet, mit dem Ganzen in lebendiger Berührung erhielte. Wie
manche Familie in der Stadt ertrug ihr Leben nur, weil es noch nicht alle Wurzel¬
verbindung mit dem Heimatsdorfe verloren hatte; was man den niedern Bürger¬
stand nennt, auch kleine Beamte, Lehrer erhielten sich durch diese Verbindung frisch
und hoffend.

In einer Gemeinschaft, deren Glieder alle mehr oder weniger Landwirtschaft


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[0400] Glücksinseln und Träume der Dorfhcmdwerker hervorgegangen war, gelang es nicht, durch die Affektation einer stillen Würde, wie sie, meist etwas fadenscheinig, wie ihre schwarzen Amts¬ röcke, die Bezirkspaschas, vor sich her tragen, seine Stellung zu verbessern. Er hatte hinter dem Webstuhl gesessen und hatte sich dnrch Fleiß und Sparsamkeit zu einem kleinen Bauern mit fünf Kühen aufgeschwungen oder vielmehr ausgerungen. Weber haben, wenigstens auf dem Dorfe, eine gewisse Verwandtschaft mit den Schneidern, die von der sitzenden Arbeit herkommt und sich in einer farblosen Friedlichkeit be¬ kundet, die niemand imponiert. Schmiede haben Dynastien gegründet oder gehärtet, Weber werfen ihr Schiffchen im Hintergrund der Welt- und Dorfgeschichte. Wenn ich auf mein Dorf, diese Stätte voll Leben und Arbeit, herabsehe, ver¬ gesse ich nicht, daß sie zugleich ein ehrwürdiges Denkmal ist. Ihre Anfänge ragen über die Zeit hinaus, in der Karl der Große die Welt regierte. Das hölzerne Kirchlein, das als einem Priester Werhenhari gehörend im achten Jahrhundert er¬ wähnt wird, ist zwar längst verschollen, aber man findet in den Urkunden die Stiftungen zugunsten derer, die Steine zur neuen Kirche gebracht haben. Man kennt Aufzeichnungen über Käufe und Verkäufe von Ackern und Wiesen in unsrer Gemarkung. Der Dreißigjährige Krieg hat das Leben auch dieses Dorfes bis zur Erde niedergebogen, aber es richtete sich wieder auf, als von dreihundert Menschen, die es vorher bewohnt hatten, nur noch vierzig übrig waren. Ans dieser Zeit der Trübsal stammt das Grab der von der Pest hingerafften im Stein¬ grund. Solange es Zeugnisse von unserm Dorfe gibt, haben die Menschen gelebt, gestrebt, gelitten wie heute und haben in frühern Jahrhunderten mit solcher In¬ brunst ihres Endes und ihrer Seligkeit gedacht und soviel Messen, Kerzen und Bittgänge gestiftet, daß die Lebenden im Dienste der Toten stehn würden, wenn nicht die Jahrhunderte manches wieder in Vergessenheit hätten kommen lassen. Wenn man einem Eichelberger die Vorstellung ausreden will, daß die gute alte Zeit so viel besser als die gegenwärtige sei, erzählt er von der Stiftung des Jörg von Gundelfingen aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die jedem erwachsnen Eichel¬ berger, der an dem gestifteten „Jahrtag," Sonntag nach Se. Georgien, zur Kirche geht, ein Maß Wein, ein Maß Bier und Brot vier Pfennige wert zusprach und jeder Eichelbergerin, die von Anfang bis zu Ende anbetete, eine Elle Tuch; das sollten auch die Vermöglichen nicht ausschlagen, sondern nehmen und einem armen Menschen geben. Vom Jahre 1801 an ist diese Spende unterblieben, und die Eichelberger haben davon wenigstens den Vorteil, daß sie das Ende der guten alten Zeit sicher zu datieren wisse». Es hatte für mich eiuen unbeschreiblichen Reiz, mich in diese große Familie einzuleben. Denn es war eine Familie, unbeschadet der Unterschiede des Glaubens und des Standes, die die Dorfbewohner stellenweise sonderten. Diese Unterschiede waren keine Klüfte, ich möchte sie vielmehr den Sprüngen in den Töpfen der Bauernfrauen vergleichen, von denen das Sprichwort geht: Ein zersprungner Topf hält noch einmal so lange. Darin lag die Gegenwirkung zur Vereinzelung und Vereinsamung, der im Dorfleben alle verfallen, die nicht hinter dem Pfluge gehn. Deshalb gedeihen auf dem Dorfe von den Nichtbcmern die am besten, die sich wenigstens nebenbei mit Landwirtschaft beschäftigen, und man merkte es den Geist¬ lichen und Lehrern, den Ärzten und Apothekern an, wie sie ihr bißchen Acker- und Gartenbesitz, ihre paar Kühe und Pferde als die Wurzel pflegten, die sie mit diesem Boden verband. Schon die Monotonie des Landlebens würde den Stadt¬ menschen niederdrücken, der sich nicht durch Teilnahme an der Arbeit, die alle bindet und verbindet, mit dem Ganzen in lebendiger Berührung erhielte. Wie manche Familie in der Stadt ertrug ihr Leben nur, weil es noch nicht alle Wurzel¬ verbindung mit dem Heimatsdorfe verloren hatte; was man den niedern Bürger¬ stand nennt, auch kleine Beamte, Lehrer erhielten sich durch diese Verbindung frisch und hoffend. In einer Gemeinschaft, deren Glieder alle mehr oder weniger Landwirtschaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/400>, abgerufen am 04.07.2024.