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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Kunstlitercitur

ein Urwesen zurückführen müssen. Daß dieses Urwesen und seine Wirkungs¬
weise ebensowenig in unser Bewußtsein tritt wie die Einzelmanifestation von
ihm, die wir unsre Seele nennen, versteht sich von selbst. Es erhebt sich nun
aber die Frage, ob dieses Urwesen nicht bloß uns, sondern auch sich selbst
unbewußt bleibt. Hartmann bejaht diese Frage und gibt damit dem Worte
einen zweiten, vom ersten abweichenden Sinn. In dem oben angegebnen Sinne
genommen ist die Unbewußtheit unleugbare Tatsache, in diesem zweiten nur
Hypothese, eine Hypothese, der wir nicht beizupflichten vermögen; eine unbe¬
wußte, also blinde Vorsehung scheint uns eine eoutracUetic) in ^feto zu sein.
Da Hartmann selbst zugibt, daß alle metaphysischen Hypothesen nur einen ge¬
wissen Grad von Wahrscheinlichkeit zu erreichen, niemals Gewißheit zu gewähren
vermögen, so bleibt die Entscheidung für die eine oder die andre zuguderletzt
immer Glaubenssache. Wir unsrerseits finden die christliche Hypothese oder
das christliche Bild für das Wesen Gottes annehmbarer als die Hartmannische.
Selbstverständlich können alle Beschreibungen des unbeschreiblichen Gottes nur
unzutreffende Bilder sein, es kann aber trotzdem der Glaube an das unter
diesen Bildern vorgestellte Wesen, der dem philosophierenden Verstände Hypothese
bleiben muß, dem religiösen Gemüte Gewißheit werde".




Kunstliteratur
(Fortsetzung)
2

! Versetzungen anerkannt guter Kunstbücher sind immer willkommen
zu heißen, wenn auch, was die beiden ersten anlangt, die uns heute
vorliegen, anzunehmen sein wird, daß wer sich theoretisch mit
der Kunst beschäftigt, so viel Französisch versteht, daß er eine
! Übersetzung allenfalls entbehren kann. Die Franzosen haben die
große Gabe, sich in anziehender Form über wissenschaftliche Gegenstände aus¬
zusprechen, ohne die Eierschalen einer äußerlichen Gelehrsamkeit als Zeugnisse
ihrer fachmännischer Zuständigkeit dem Leser in den Weg zu streuen. Eugen
Fromentin war ein feiner Maler kleiner Figuren, Landschaften aus Algerien
und der Sahara, einer der Führer der zahlreichen sogenannten Orientalisten,
und ein ebenso feiner Schriftsteller in seinen Romanen und Reisebeschreibungen.
Sein weitaus berühmtestes Buch behandelt die Maler vou Belgien und Hol¬
land, d. h. einige von ihnen ausführlich, Rubens und Vandyck, Frans Hals,
Rembrandt und Ruisdael, und am Schluß noch bei einem Abstecher nach
Brügge Memling, die übrigen in kurzen Strichen als Umgebung, als ihre
künstlerische Umwelt. Das Eigentümliche Fromentins besteht darin, daß er
einmal auf eine ungemein lebendige Weise diese Maler als Kinder ihres Landes,
ihre Werke als Erzeugnisse seiner Geschichte und Kultur schildert, sodann daß
er als Künstler sieht und spricht. Und zwar nicht, wie es sonst Wohl Künstler


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ein Urwesen zurückführen müssen. Daß dieses Urwesen und seine Wirkungs¬
weise ebensowenig in unser Bewußtsein tritt wie die Einzelmanifestation von
ihm, die wir unsre Seele nennen, versteht sich von selbst. Es erhebt sich nun
aber die Frage, ob dieses Urwesen nicht bloß uns, sondern auch sich selbst
unbewußt bleibt. Hartmann bejaht diese Frage und gibt damit dem Worte
einen zweiten, vom ersten abweichenden Sinn. In dem oben angegebnen Sinne
genommen ist die Unbewußtheit unleugbare Tatsache, in diesem zweiten nur
Hypothese, eine Hypothese, der wir nicht beizupflichten vermögen; eine unbe¬
wußte, also blinde Vorsehung scheint uns eine eoutracUetic) in ^feto zu sein.
Da Hartmann selbst zugibt, daß alle metaphysischen Hypothesen nur einen ge¬
wissen Grad von Wahrscheinlichkeit zu erreichen, niemals Gewißheit zu gewähren
vermögen, so bleibt die Entscheidung für die eine oder die andre zuguderletzt
immer Glaubenssache. Wir unsrerseits finden die christliche Hypothese oder
das christliche Bild für das Wesen Gottes annehmbarer als die Hartmannische.
Selbstverständlich können alle Beschreibungen des unbeschreiblichen Gottes nur
unzutreffende Bilder sein, es kann aber trotzdem der Glaube an das unter
diesen Bildern vorgestellte Wesen, der dem philosophierenden Verstände Hypothese
bleiben muß, dem religiösen Gemüte Gewißheit werde».




Kunstliteratur
(Fortsetzung)
2

! Versetzungen anerkannt guter Kunstbücher sind immer willkommen
zu heißen, wenn auch, was die beiden ersten anlangt, die uns heute
vorliegen, anzunehmen sein wird, daß wer sich theoretisch mit
der Kunst beschäftigt, so viel Französisch versteht, daß er eine
! Übersetzung allenfalls entbehren kann. Die Franzosen haben die
große Gabe, sich in anziehender Form über wissenschaftliche Gegenstände aus¬
zusprechen, ohne die Eierschalen einer äußerlichen Gelehrsamkeit als Zeugnisse
ihrer fachmännischer Zuständigkeit dem Leser in den Weg zu streuen. Eugen
Fromentin war ein feiner Maler kleiner Figuren, Landschaften aus Algerien
und der Sahara, einer der Führer der zahlreichen sogenannten Orientalisten,
und ein ebenso feiner Schriftsteller in seinen Romanen und Reisebeschreibungen.
Sein weitaus berühmtestes Buch behandelt die Maler vou Belgien und Hol¬
land, d. h. einige von ihnen ausführlich, Rubens und Vandyck, Frans Hals,
Rembrandt und Ruisdael, und am Schluß noch bei einem Abstecher nach
Brügge Memling, die übrigen in kurzen Strichen als Umgebung, als ihre
künstlerische Umwelt. Das Eigentümliche Fromentins besteht darin, daß er
einmal auf eine ungemein lebendige Weise diese Maler als Kinder ihres Landes,
ihre Werke als Erzeugnisse seiner Geschichte und Kultur schildert, sodann daß
er als Künstler sieht und spricht. Und zwar nicht, wie es sonst Wohl Künstler


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[0385] Kunstlitercitur ein Urwesen zurückführen müssen. Daß dieses Urwesen und seine Wirkungs¬ weise ebensowenig in unser Bewußtsein tritt wie die Einzelmanifestation von ihm, die wir unsre Seele nennen, versteht sich von selbst. Es erhebt sich nun aber die Frage, ob dieses Urwesen nicht bloß uns, sondern auch sich selbst unbewußt bleibt. Hartmann bejaht diese Frage und gibt damit dem Worte einen zweiten, vom ersten abweichenden Sinn. In dem oben angegebnen Sinne genommen ist die Unbewußtheit unleugbare Tatsache, in diesem zweiten nur Hypothese, eine Hypothese, der wir nicht beizupflichten vermögen; eine unbe¬ wußte, also blinde Vorsehung scheint uns eine eoutracUetic) in ^feto zu sein. Da Hartmann selbst zugibt, daß alle metaphysischen Hypothesen nur einen ge¬ wissen Grad von Wahrscheinlichkeit zu erreichen, niemals Gewißheit zu gewähren vermögen, so bleibt die Entscheidung für die eine oder die andre zuguderletzt immer Glaubenssache. Wir unsrerseits finden die christliche Hypothese oder das christliche Bild für das Wesen Gottes annehmbarer als die Hartmannische. Selbstverständlich können alle Beschreibungen des unbeschreiblichen Gottes nur unzutreffende Bilder sein, es kann aber trotzdem der Glaube an das unter diesen Bildern vorgestellte Wesen, der dem philosophierenden Verstände Hypothese bleiben muß, dem religiösen Gemüte Gewißheit werde». Kunstliteratur (Fortsetzung) 2 ! Versetzungen anerkannt guter Kunstbücher sind immer willkommen zu heißen, wenn auch, was die beiden ersten anlangt, die uns heute vorliegen, anzunehmen sein wird, daß wer sich theoretisch mit der Kunst beschäftigt, so viel Französisch versteht, daß er eine ! Übersetzung allenfalls entbehren kann. Die Franzosen haben die große Gabe, sich in anziehender Form über wissenschaftliche Gegenstände aus¬ zusprechen, ohne die Eierschalen einer äußerlichen Gelehrsamkeit als Zeugnisse ihrer fachmännischer Zuständigkeit dem Leser in den Weg zu streuen. Eugen Fromentin war ein feiner Maler kleiner Figuren, Landschaften aus Algerien und der Sahara, einer der Führer der zahlreichen sogenannten Orientalisten, und ein ebenso feiner Schriftsteller in seinen Romanen und Reisebeschreibungen. Sein weitaus berühmtestes Buch behandelt die Maler vou Belgien und Hol¬ land, d. h. einige von ihnen ausführlich, Rubens und Vandyck, Frans Hals, Rembrandt und Ruisdael, und am Schluß noch bei einem Abstecher nach Brügge Memling, die übrigen in kurzen Strichen als Umgebung, als ihre künstlerische Umwelt. Das Eigentümliche Fromentins besteht darin, daß er einmal auf eine ungemein lebendige Weise diese Maler als Kinder ihres Landes, ihre Werke als Erzeugnisse seiner Geschichte und Kultur schildert, sodann daß er als Künstler sieht und spricht. Und zwar nicht, wie es sonst Wohl Künstler

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/385>, abgerufen am 23.07.2024.