Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.Glücksinsoln und Träume Ganzes unter mir, und dann erkannte ich auch gleich die drei "Dorfteile," in Dem Fremden, der von einer der Höhen herabstieg, die Eichelberg umgeben, Die Landstraße, die durch das Dorf führt -- und zwar so, daß der drei¬ Glücksinsoln und Träume Ganzes unter mir, und dann erkannte ich auch gleich die drei „Dorfteile," in Dem Fremden, der von einer der Höhen herabstieg, die Eichelberg umgeben, Die Landstraße, die durch das Dorf führt — und zwar so, daß der drei¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0339" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295558"/> <fw type="header" place="top"> Glücksinsoln und Träume</fw><lb/> <p xml:id="ID_1568" prev="#ID_1567"> Ganzes unter mir, und dann erkannte ich auch gleich die drei „Dorfteile," in<lb/> die seine achtundneunzig Hauser und siebenhundert Einwohner zerfielen. Ich sah<lb/> nämlich gleich unter mir in den Kirchhof hinein und auf die Kirche, von der er<lb/> wie ein Garten ausging, und um diesen Kern standen im Halbkreis die Apotheke,<lb/> das Doktorhaus, das protestantische Pfarrhaus und die Mühle; diese vier fühlten<lb/> offenbar eine starke Zusammengehörigkeit, denu sie waren nicht bloß alle blendend<lb/> weiß getüncht, sondern jedes hatte auch zwei Oleander voll rosenroter Blüten in<lb/> grünen Kübeln zu beiden Seiten der Tür. Weiter stand dann an der Straße<lb/> das Gasthaus, ein vergrößertes, aber nicht verschönertes Bauernhaus mit einem<lb/> langen Flügel voll Ställen und Remisen und den Räumlichkeiten für eine kleine<lb/> Bierbrauerei. Vom Giebel hing das an eisernem Arm sich knarrend bewegende<lb/> Wahrzeichen, das weiße Lamm, über die Straße. Von da an lagen die Bauern-<lb/> häuser bunt durcheinander, bis am andern Ende ein großer höher gelegner Hof<lb/> mit weithin leuchtender weißer Kapelle den Abschluß machte, die mit ihm ein Ganzes<lb/> zu bilden schien: der weithin bekannte Lauterbacherhof mit dem katholischen Kirch¬<lb/> lein, von dem ein schmaler Kirchhof talab zog; eine Anzahl von kleinern Häuschen<lb/> mit entsprechend kleinen Gärtchen lag dort versteckt unter uralten Linden, denen<lb/> man ansah, daß sie eher zu dem Hofe und seiner alten Kapelle als zu den kleinen<lb/> Wohnstätten gehörten, die nun in ihrem Schatten lagen. Gegenüber diesem drei¬<lb/> gliedrigen Bogen des Dorfes zogen Wiesen und Gartengrundstücke an dem Bache<lb/> hin, der sich in einen dichten Park verlor, aus dem fern ein hohes braunes Dach<lb/> und ein grauer Turm heraufschauten: das Haus des Herrn Barons, das fast das<lb/> ganze Jahr mit geschlossenen Läden und Türen wie im Schlafe dastand.</p><lb/> <p xml:id="ID_1569"> Dem Fremden, der von einer der Höhen herabstieg, die Eichelberg umgeben,<lb/> mochte wohl manches Städtchen keinen so stolzen Anblick bieten, wie das Dorf mit<lb/> seinen in ungleicher Höhe stehenden, einander überragenden Häusern. Zwar sind<lb/> viele graue Dächer mit roten Ziegelsteinen geflickt, auch gibt es Strohdächer, die<lb/> silbergrau schimmern, aber das Profil des Dorfes ist wie ein kleines Gebirge mit<lb/> Giebelgipfeln und Graten. Leuchtend treten auf neugedeckten Dächern die mit<lb/> Ziegeln hineingelegten Jahreszahlen hervor. Der schönste Schmuck dieser Ausicht<lb/> aber bleiben die Bäume, die ebenfalls teils hoch hervorragen, teils nur die Lücken<lb/> zwischen den Häusern und Häusergruppen ausfüllen; sie sind wie die Wolken in<lb/> dem Bild. Und wie alles in dem Dorfe lebt, so wie Halme und Bäume leben,<lb/> und wie es, vorausgesetzt, daß du die Sprache kennst, aus Hütten und Häusern<lb/> z>: dir spricht, so zeigt auch der Schatten, worin ein Haus steht, durch seine Tiefe<lb/> die Zeit an, die es an dieser Stelle steht: eine schöne und untrügliche Ahnentafel.<lb/> In der Sonne schattenlos zu stehn, ertragen nur die wenigen neugebauten Tage¬<lb/> löhnerhäuschen, und auch diese streben durch Anpflanzungen den andern nach. Denn<lb/> nichts ist im Dorfe zeitlos wie die Mauern und Steine der Städte, in denen man<lb/> wohnt, ohne zu wissen, von wann oder von wem sie sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_1570" next="#ID_1571"> Die Landstraße, die durch das Dorf führt — und zwar so, daß der drei¬<lb/> zehnte Kilometerstein genau vor dem Pfarrhause steht, was dem Herr« Pfarrer<lb/> aus Gründen, von denen er nicht gern spricht, unangenehm ist —, ist eigentlich<lb/> nur ein ganz äußerliches Zubehör, das erkennt man daran, daß alle die alten<lb/> Bauernhäuser seitab von ihr stehn oder ihr den Rücken kehren. Die Straße ist<lb/> angelegt worden, als das Dorf schon Jahrhunderte auf seiner Stelle stand, nicht<lb/> einmal die Honoratiorenhäuser reihen sich an ihr auf, sondern stehn um die Kirche;<lb/> sie sind ans einer Gruppe von Wirtschaftsgebäude« hervorgegangen, die dem ver-<lb/> schwuudnen Kloster Gottreich gehört hatten. Die wahren Wege des Dorfes führen<lb/> zwischen den Häusern und zum Teil sogar durch Anbauten der Häuser durch,<lb/> schmale, beraste Pfade, an Hecken hin, wo uralte, zum Teil mächtige Holunder-<lb/> sträuche und wilde Rosenbüsche stehn; diese sind für den Verkehr der Menschen,<lb/> und es besteht ein stillschweigendes Übereinkommen, daß nicht einmal Pferde auf<lb/> ihnen geführt werden. Aber jedes Haus hat seine Zufahrt von den Wegen her,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0339]
Glücksinsoln und Träume
Ganzes unter mir, und dann erkannte ich auch gleich die drei „Dorfteile," in
die seine achtundneunzig Hauser und siebenhundert Einwohner zerfielen. Ich sah
nämlich gleich unter mir in den Kirchhof hinein und auf die Kirche, von der er
wie ein Garten ausging, und um diesen Kern standen im Halbkreis die Apotheke,
das Doktorhaus, das protestantische Pfarrhaus und die Mühle; diese vier fühlten
offenbar eine starke Zusammengehörigkeit, denu sie waren nicht bloß alle blendend
weiß getüncht, sondern jedes hatte auch zwei Oleander voll rosenroter Blüten in
grünen Kübeln zu beiden Seiten der Tür. Weiter stand dann an der Straße
das Gasthaus, ein vergrößertes, aber nicht verschönertes Bauernhaus mit einem
langen Flügel voll Ställen und Remisen und den Räumlichkeiten für eine kleine
Bierbrauerei. Vom Giebel hing das an eisernem Arm sich knarrend bewegende
Wahrzeichen, das weiße Lamm, über die Straße. Von da an lagen die Bauern-
häuser bunt durcheinander, bis am andern Ende ein großer höher gelegner Hof
mit weithin leuchtender weißer Kapelle den Abschluß machte, die mit ihm ein Ganzes
zu bilden schien: der weithin bekannte Lauterbacherhof mit dem katholischen Kirch¬
lein, von dem ein schmaler Kirchhof talab zog; eine Anzahl von kleinern Häuschen
mit entsprechend kleinen Gärtchen lag dort versteckt unter uralten Linden, denen
man ansah, daß sie eher zu dem Hofe und seiner alten Kapelle als zu den kleinen
Wohnstätten gehörten, die nun in ihrem Schatten lagen. Gegenüber diesem drei¬
gliedrigen Bogen des Dorfes zogen Wiesen und Gartengrundstücke an dem Bache
hin, der sich in einen dichten Park verlor, aus dem fern ein hohes braunes Dach
und ein grauer Turm heraufschauten: das Haus des Herrn Barons, das fast das
ganze Jahr mit geschlossenen Läden und Türen wie im Schlafe dastand.
Dem Fremden, der von einer der Höhen herabstieg, die Eichelberg umgeben,
mochte wohl manches Städtchen keinen so stolzen Anblick bieten, wie das Dorf mit
seinen in ungleicher Höhe stehenden, einander überragenden Häusern. Zwar sind
viele graue Dächer mit roten Ziegelsteinen geflickt, auch gibt es Strohdächer, die
silbergrau schimmern, aber das Profil des Dorfes ist wie ein kleines Gebirge mit
Giebelgipfeln und Graten. Leuchtend treten auf neugedeckten Dächern die mit
Ziegeln hineingelegten Jahreszahlen hervor. Der schönste Schmuck dieser Ausicht
aber bleiben die Bäume, die ebenfalls teils hoch hervorragen, teils nur die Lücken
zwischen den Häusern und Häusergruppen ausfüllen; sie sind wie die Wolken in
dem Bild. Und wie alles in dem Dorfe lebt, so wie Halme und Bäume leben,
und wie es, vorausgesetzt, daß du die Sprache kennst, aus Hütten und Häusern
z>: dir spricht, so zeigt auch der Schatten, worin ein Haus steht, durch seine Tiefe
die Zeit an, die es an dieser Stelle steht: eine schöne und untrügliche Ahnentafel.
In der Sonne schattenlos zu stehn, ertragen nur die wenigen neugebauten Tage¬
löhnerhäuschen, und auch diese streben durch Anpflanzungen den andern nach. Denn
nichts ist im Dorfe zeitlos wie die Mauern und Steine der Städte, in denen man
wohnt, ohne zu wissen, von wann oder von wem sie sind.
Die Landstraße, die durch das Dorf führt — und zwar so, daß der drei¬
zehnte Kilometerstein genau vor dem Pfarrhause steht, was dem Herr« Pfarrer
aus Gründen, von denen er nicht gern spricht, unangenehm ist —, ist eigentlich
nur ein ganz äußerliches Zubehör, das erkennt man daran, daß alle die alten
Bauernhäuser seitab von ihr stehn oder ihr den Rücken kehren. Die Straße ist
angelegt worden, als das Dorf schon Jahrhunderte auf seiner Stelle stand, nicht
einmal die Honoratiorenhäuser reihen sich an ihr auf, sondern stehn um die Kirche;
sie sind ans einer Gruppe von Wirtschaftsgebäude« hervorgegangen, die dem ver-
schwuudnen Kloster Gottreich gehört hatten. Die wahren Wege des Dorfes führen
zwischen den Häusern und zum Teil sogar durch Anbauten der Häuser durch,
schmale, beraste Pfade, an Hecken hin, wo uralte, zum Teil mächtige Holunder-
sträuche und wilde Rosenbüsche stehn; diese sind für den Verkehr der Menschen,
und es besteht ein stillschweigendes Übereinkommen, daß nicht einmal Pferde auf
ihnen geführt werden. Aber jedes Haus hat seine Zufahrt von den Wegen her,
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