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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksinseln und Träume

der Hof verschwunden, der eben noch hinter uns stand, vielleicht sieht man noch
eben seinen neu aufgesetzten Schornstein, das einzige Weiße zwischen Himmel und
Wiese, zwischen Blau und Grün und an dem braunen Hause. Dafür taucht auf
der andern Seite ein glänzender Kirchturmhahn auf oder die Kreuzung von zwei
Dachsparren oder die lange Horizontale eines Schennendaches; noch viel öfter
schwillt und quillt das Dunkel einer Baumkrone wie das tiefe Schattenbild einer
Wolke hervor. Aller paar Schritte ändert sich das Bild, immer ist es im Wachsen
oder Abnehmen, wie angesteckt vom Mond mit seiner Wandelbarkeit. Ein solches
Land zerlegt die Aussichte" in Höhenschichten. Von einem Punkte über Eichelberg,
wo ich gern lag, sah ich zuerst einen breiten, grünen Rücken, den man für flach
gehalten hätte, wenn nicht alle Ackerfurchen und Raine auf ihm in Bogen verlaufen
wären, dann den blendend weißen Turm von Altenloch mit einer grauschwarzen
Zwiebelkuppel. Einsam steht er wie ein Leuchtturm am wogenden Meere; das
Schiff der Kirche sieht man von hier nicht. Dahinter und darüber zieht ein
dunkler Waldsaum, den überragen noch eben ein paar Baumkronen und das lange
braune Dach von einem ganz oben liegenden Hof. Soviel Dinge ich sehe, soviel
Bodenschwellen zieh" von mir hinaus. Und da Kirchtürme, Schennendächer und
die Kronen von Eichen-, Ahorn- und Birnbäumen immer am höchsten ragen, bilden
sie eine Art von Aristokratie in dieser Landschaft. Nur Raubvögel, die man manch¬
mal über ihnen kreisen sieht, streben noch höher hinaus. Und über allem schweben
die Wolken, die wegen der höhern Berge, die nicht fern sind, und wegen des
feuchten und warmen Rheintals auf der andern Seite oft sehr schön sind. Wir
haben besonders schöne, leuchtend weiße Wolkenballen des Nachmittags und herrliche
Wolken schichten über deu blauen Westbergen des Abends. Frühmorgens liegen im
Spätsommer und Herbst weiße Wolkendecken und -schlangen im Rheintal.

Da es in unserm Lande sehr viel einzelne Höfe und hohe Bäume im Felde
gibt, hat jede Bodenwelle ihr besondres. Eine trägt Wiesen und schaut hellgrün
über eine andre mit goldbraunem Haferfeldern, und darüber hinaus wogt es wald¬
dunkel. Ein unvergeßlich anheimelndes Bild ist der Hof mit seinem langen, hohen
Dach, das stolz den reichen Erntesegen birgt, die Glocke darauf, die zur Arbeit und
zur Rast ruft, und darüber steigt die dunkle Krone eines mächtigen Ahornbaums
wie eine Abendsommerwolke in den Himmel hinein. Auch daß die Bäume ver¬
einzelt oder in kleinen Gruppen auf den Höfen stehn, gibt dem Land eine Art von
Sprache. Denn jeder Baum meint etwas: der beschattet eine kleine Kapelle, bis
zu der am Erntefest die Dankprozession geht, dort steht zwischen zwei Linden ein
uraltes Kreuz, dessen Grundstein in den Boden gesunken ist; jene Eiche, deren
dunkle Blättergruppen so phantastische eckige Figuren in den Himmel schneiden,
steht auf der Grenze von vier Dorfgemarkungen, und unter dem Holzbirnbaum
dort, dessen Krone so sonderbar niederflutet, ist der alte X-Bauer gestorben, den
auf seinem nahen Felde beim Grummetladen der Schlag getroffen hat; man liest die
Tafel dort. So sagt jeder Baum sein Sprüchlein, und die, die keins wissen, fragen
dich: Warum steh ich gerade auf diesem Hügel, am Rande dieser Mulde oder an
diesem Hohlwege? Da nun auch noch dazukommt, daß gerade wie die Höfe und
die Bäume so auch die Wege auf- und untertauchen, sodaß man nur immer Stücke
davon sieht und ihren Zusammenhang sich aus der allgemeinen Richtung denken
muß, so ist das ein gesprächiges, unterhaltliches Land. Und wer über diese Hügel¬
wellen von Dorf zu Dorf wandert, ist sozusagen nie allein und kommt nie aus
der Gesellschaft heraus. Früher muß es noch anders gewesen sein, als auf den
Höhen Burgen standen, deren Reste man aufgedeckt hat, sogar römische. Auch
Galgen und Ding- oder Richtstätten, diese mit niedern Steinkreuzen bezeichnet, gab
es in angemessenen Entfernungen. Hoffentlich waren es mehr als nötig; wenn
nicht, war jene Welt noch schlechter als unsre. Sicherlich gibt es jetzt mehr Felder
und Menschen. Höchstens die steinigen Höhen und Rücken liegen brach, das ver¬
künden von weitem schon die hohen gelbblumigen Königskerzen, die kleinen violetten


Grenzboten IV 1904 45
Glücksinseln und Träume

der Hof verschwunden, der eben noch hinter uns stand, vielleicht sieht man noch
eben seinen neu aufgesetzten Schornstein, das einzige Weiße zwischen Himmel und
Wiese, zwischen Blau und Grün und an dem braunen Hause. Dafür taucht auf
der andern Seite ein glänzender Kirchturmhahn auf oder die Kreuzung von zwei
Dachsparren oder die lange Horizontale eines Schennendaches; noch viel öfter
schwillt und quillt das Dunkel einer Baumkrone wie das tiefe Schattenbild einer
Wolke hervor. Aller paar Schritte ändert sich das Bild, immer ist es im Wachsen
oder Abnehmen, wie angesteckt vom Mond mit seiner Wandelbarkeit. Ein solches
Land zerlegt die Aussichte» in Höhenschichten. Von einem Punkte über Eichelberg,
wo ich gern lag, sah ich zuerst einen breiten, grünen Rücken, den man für flach
gehalten hätte, wenn nicht alle Ackerfurchen und Raine auf ihm in Bogen verlaufen
wären, dann den blendend weißen Turm von Altenloch mit einer grauschwarzen
Zwiebelkuppel. Einsam steht er wie ein Leuchtturm am wogenden Meere; das
Schiff der Kirche sieht man von hier nicht. Dahinter und darüber zieht ein
dunkler Waldsaum, den überragen noch eben ein paar Baumkronen und das lange
braune Dach von einem ganz oben liegenden Hof. Soviel Dinge ich sehe, soviel
Bodenschwellen zieh» von mir hinaus. Und da Kirchtürme, Schennendächer und
die Kronen von Eichen-, Ahorn- und Birnbäumen immer am höchsten ragen, bilden
sie eine Art von Aristokratie in dieser Landschaft. Nur Raubvögel, die man manch¬
mal über ihnen kreisen sieht, streben noch höher hinaus. Und über allem schweben
die Wolken, die wegen der höhern Berge, die nicht fern sind, und wegen des
feuchten und warmen Rheintals auf der andern Seite oft sehr schön sind. Wir
haben besonders schöne, leuchtend weiße Wolkenballen des Nachmittags und herrliche
Wolken schichten über deu blauen Westbergen des Abends. Frühmorgens liegen im
Spätsommer und Herbst weiße Wolkendecken und -schlangen im Rheintal.

Da es in unserm Lande sehr viel einzelne Höfe und hohe Bäume im Felde
gibt, hat jede Bodenwelle ihr besondres. Eine trägt Wiesen und schaut hellgrün
über eine andre mit goldbraunem Haferfeldern, und darüber hinaus wogt es wald¬
dunkel. Ein unvergeßlich anheimelndes Bild ist der Hof mit seinem langen, hohen
Dach, das stolz den reichen Erntesegen birgt, die Glocke darauf, die zur Arbeit und
zur Rast ruft, und darüber steigt die dunkle Krone eines mächtigen Ahornbaums
wie eine Abendsommerwolke in den Himmel hinein. Auch daß die Bäume ver¬
einzelt oder in kleinen Gruppen auf den Höfen stehn, gibt dem Land eine Art von
Sprache. Denn jeder Baum meint etwas: der beschattet eine kleine Kapelle, bis
zu der am Erntefest die Dankprozession geht, dort steht zwischen zwei Linden ein
uraltes Kreuz, dessen Grundstein in den Boden gesunken ist; jene Eiche, deren
dunkle Blättergruppen so phantastische eckige Figuren in den Himmel schneiden,
steht auf der Grenze von vier Dorfgemarkungen, und unter dem Holzbirnbaum
dort, dessen Krone so sonderbar niederflutet, ist der alte X-Bauer gestorben, den
auf seinem nahen Felde beim Grummetladen der Schlag getroffen hat; man liest die
Tafel dort. So sagt jeder Baum sein Sprüchlein, und die, die keins wissen, fragen
dich: Warum steh ich gerade auf diesem Hügel, am Rande dieser Mulde oder an
diesem Hohlwege? Da nun auch noch dazukommt, daß gerade wie die Höfe und
die Bäume so auch die Wege auf- und untertauchen, sodaß man nur immer Stücke
davon sieht und ihren Zusammenhang sich aus der allgemeinen Richtung denken
muß, so ist das ein gesprächiges, unterhaltliches Land. Und wer über diese Hügel¬
wellen von Dorf zu Dorf wandert, ist sozusagen nie allein und kommt nie aus
der Gesellschaft heraus. Früher muß es noch anders gewesen sein, als auf den
Höhen Burgen standen, deren Reste man aufgedeckt hat, sogar römische. Auch
Galgen und Ding- oder Richtstätten, diese mit niedern Steinkreuzen bezeichnet, gab
es in angemessenen Entfernungen. Hoffentlich waren es mehr als nötig; wenn
nicht, war jene Welt noch schlechter als unsre. Sicherlich gibt es jetzt mehr Felder
und Menschen. Höchstens die steinigen Höhen und Rücken liegen brach, das ver¬
künden von weitem schon die hohen gelbblumigen Königskerzen, die kleinen violetten


Grenzboten IV 1904 45
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[0335] Glücksinseln und Träume der Hof verschwunden, der eben noch hinter uns stand, vielleicht sieht man noch eben seinen neu aufgesetzten Schornstein, das einzige Weiße zwischen Himmel und Wiese, zwischen Blau und Grün und an dem braunen Hause. Dafür taucht auf der andern Seite ein glänzender Kirchturmhahn auf oder die Kreuzung von zwei Dachsparren oder die lange Horizontale eines Schennendaches; noch viel öfter schwillt und quillt das Dunkel einer Baumkrone wie das tiefe Schattenbild einer Wolke hervor. Aller paar Schritte ändert sich das Bild, immer ist es im Wachsen oder Abnehmen, wie angesteckt vom Mond mit seiner Wandelbarkeit. Ein solches Land zerlegt die Aussichte» in Höhenschichten. Von einem Punkte über Eichelberg, wo ich gern lag, sah ich zuerst einen breiten, grünen Rücken, den man für flach gehalten hätte, wenn nicht alle Ackerfurchen und Raine auf ihm in Bogen verlaufen wären, dann den blendend weißen Turm von Altenloch mit einer grauschwarzen Zwiebelkuppel. Einsam steht er wie ein Leuchtturm am wogenden Meere; das Schiff der Kirche sieht man von hier nicht. Dahinter und darüber zieht ein dunkler Waldsaum, den überragen noch eben ein paar Baumkronen und das lange braune Dach von einem ganz oben liegenden Hof. Soviel Dinge ich sehe, soviel Bodenschwellen zieh» von mir hinaus. Und da Kirchtürme, Schennendächer und die Kronen von Eichen-, Ahorn- und Birnbäumen immer am höchsten ragen, bilden sie eine Art von Aristokratie in dieser Landschaft. Nur Raubvögel, die man manch¬ mal über ihnen kreisen sieht, streben noch höher hinaus. Und über allem schweben die Wolken, die wegen der höhern Berge, die nicht fern sind, und wegen des feuchten und warmen Rheintals auf der andern Seite oft sehr schön sind. Wir haben besonders schöne, leuchtend weiße Wolkenballen des Nachmittags und herrliche Wolken schichten über deu blauen Westbergen des Abends. Frühmorgens liegen im Spätsommer und Herbst weiße Wolkendecken und -schlangen im Rheintal. Da es in unserm Lande sehr viel einzelne Höfe und hohe Bäume im Felde gibt, hat jede Bodenwelle ihr besondres. Eine trägt Wiesen und schaut hellgrün über eine andre mit goldbraunem Haferfeldern, und darüber hinaus wogt es wald¬ dunkel. Ein unvergeßlich anheimelndes Bild ist der Hof mit seinem langen, hohen Dach, das stolz den reichen Erntesegen birgt, die Glocke darauf, die zur Arbeit und zur Rast ruft, und darüber steigt die dunkle Krone eines mächtigen Ahornbaums wie eine Abendsommerwolke in den Himmel hinein. Auch daß die Bäume ver¬ einzelt oder in kleinen Gruppen auf den Höfen stehn, gibt dem Land eine Art von Sprache. Denn jeder Baum meint etwas: der beschattet eine kleine Kapelle, bis zu der am Erntefest die Dankprozession geht, dort steht zwischen zwei Linden ein uraltes Kreuz, dessen Grundstein in den Boden gesunken ist; jene Eiche, deren dunkle Blättergruppen so phantastische eckige Figuren in den Himmel schneiden, steht auf der Grenze von vier Dorfgemarkungen, und unter dem Holzbirnbaum dort, dessen Krone so sonderbar niederflutet, ist der alte X-Bauer gestorben, den auf seinem nahen Felde beim Grummetladen der Schlag getroffen hat; man liest die Tafel dort. So sagt jeder Baum sein Sprüchlein, und die, die keins wissen, fragen dich: Warum steh ich gerade auf diesem Hügel, am Rande dieser Mulde oder an diesem Hohlwege? Da nun auch noch dazukommt, daß gerade wie die Höfe und die Bäume so auch die Wege auf- und untertauchen, sodaß man nur immer Stücke davon sieht und ihren Zusammenhang sich aus der allgemeinen Richtung denken muß, so ist das ein gesprächiges, unterhaltliches Land. Und wer über diese Hügel¬ wellen von Dorf zu Dorf wandert, ist sozusagen nie allein und kommt nie aus der Gesellschaft heraus. Früher muß es noch anders gewesen sein, als auf den Höhen Burgen standen, deren Reste man aufgedeckt hat, sogar römische. Auch Galgen und Ding- oder Richtstätten, diese mit niedern Steinkreuzen bezeichnet, gab es in angemessenen Entfernungen. Hoffentlich waren es mehr als nötig; wenn nicht, war jene Welt noch schlechter als unsre. Sicherlich gibt es jetzt mehr Felder und Menschen. Höchstens die steinigen Höhen und Rücken liegen brach, das ver¬ künden von weitem schon die hohen gelbblumigen Königskerzen, die kleinen violetten Grenzboten IV 1904 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/335>, abgerufen am 23.07.2024.