Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Glücksinseln und Träume

Ich pflanzte vielerlei in diesem Frühling, ein Apothekergarten trägt alle die
Würzpflanzen, deren Pflege Karl der Große in einem berühmten Briefe seinen
Gutsverwaltern ans Herz gelegt hat, und dazu noch vieles andre, was die Zeit
dazugefügt hat. Außerdem sind die Apothekersleute Menschen wie andre, die Ge¬
müse und Salate, Redliche und Gurken, Lauch und Zwiebeln brauchen. Das alles
ist beetweise abgeteilt, und während einiges fortwächst, wie es gesät wurde, sät nun
andres in besondre geschützte Kastenbeete, aus denen dann die Pflänzlinge, wenn sie
stark geworden sind, ins freie Land verpflanzt werden. Kressen gehören zu den Garten¬
pflanzen, die man am frühesten aussät; wenn der Winter früh gegangen ist, vertraut
man die kleinen rotbraunen Körnchen schon in den letzten Tagen des Februars der
Erde an. Man sät sie, um einen frühen Ostersalat zu haben, und weil ihr Grün
früh die braunen Beete verschönt.

So wie der Malerlehrling, der zum erstenmal einen vollen Pinsel in die
Hand bekommt, an die nächste beste Wand unfehlbar die Linien kleckst, die ihm
gerade als schaffenswert vorschweben, so trieb es mich, von der Keimkraft der
Körnchen, die mir anvertraut waren, den schönsten besten Gebrauch zu machen. Wie
oft schon hatte ich der unverständigen Neigung nachgegeben, ihren Namen dorthin
zu schreiben, wohin nur die Sonnenstrahlen ihn zu lesen kamen. Und so säte ich
denn, oder es säte ein Wille in mir, der halb Spieltrieb war, ein schöngeschwuugnes L
auf ein noch freies Beet. Nach zehn warmen Frühlingstagen, die ein kräftiger
Regen unterbrach, sah ich die winzig kleinen Doppelblättchen der Sämlinge hervor¬
keimen, alle rundlich, auseinandergefaltet, wie bittende Händchen, in deren Mitte
dann erst die zerschnittenen und krausen Blättchen der Gartenkresse wie zierliche
grüne Blutader auftnvspten. Dazwischen kamen junge Gräser, die senkrecht wie ganz
feine grüne Linien, ein Heer von Spießen, erschienen; manche waren auch zusammen¬
gebogen, und die Spitze konnte sich nur freimachen, indem sie die dunkle Erde mit
Schnellkraft empor und beiseite schob. Mein erster Gedanke war Freude über
das gelungne Werk. Wenn das so fortsproßte, mußte das L bald sichtbar sein, und
schon sah man einige Umrisse seiner Bogenlinien. Den nächste" Tag war es schon
fast zu erkennen. Da kam mir eine Art Schaul über die unzarte Entschleierung
eines tiefen Gefühls, verschärft durch Zweifel, wie Luise meine Freiheit aufnehmen
werde; und zum erstenmal dachte ich daran, daß alle es sehen würden, und was
ich antworten würde, wenn sie fragen: Warum? Ich trat an das Beet herau und
sah die Pflänzchen und Keime zerstreut stehn und die braune Erde dazwischen Vor¬
schauen; da war kein L zu sehen, ich schöpfte die Hoffnung, es sei nicht aufgegangen.
Aber wenn ich zurücktrat, da leuchtete der liebe, gefürchtete Buchstabe mich ver¬
hängnisvoll deutlich an, und der folgende Tag verscheuchte jeden Zweifel. Nun
mußten es auch die sehen, denen es im Grunde gleichgiltig sein konnte, ob ein L
oder ein X, für die aber die Frage von brennendem Interesse war: Wer hat den
Buchstaben hiugesät? Und was hatte er für eine Absicht dabei?

Des Mittags nach der Suppe kam die Frage, die kommen mußte: Wer hat
nur die Kressen in so sonderbaren Schnörkeln gesät? Die Hälfte des Beetes ist
leer. Das ist sehr unökonomisch und hat doch gar keinen weitern Zweck. Also
sprach der Mann mit der Schraube und rückte seine Mütze aufs Ohr. -- Die Kressen
habe ich gesät, antwortete ich mit einer Stimme, von der ich mir später vorredete,
sie sei eisig gewesen; vielleicht zitterte sie jedoch etwas, denn ich fühlte mein Herz
so gegen die Ttschkante pochen, daß ich von ihr abrückte in der Furcht, der Tisch
mit allem, was darauf war, werde ins Pulsieren und Klirren kommen. -- Und
warum haben Sie das Beet nicht vollgesät? -- Ich hätte nun antworten können:
Weil der Samen nicht reichte, schämte mich aber jeder Ausflucht. -- Es kam mir
so der Gedanke, es sei schöner, auch einmal eine Figur hineinzusäen. -- Und was
soll es denn vorstellen? -- Das weiß ich augenblicklich selbst nicht, es wird mir erst
einfallen, wenn es weiter heraus ist.

Die fragende Miene des Inquisitors belehrte mich, daß er das L noch nicht


Glücksinseln und Träume

Ich pflanzte vielerlei in diesem Frühling, ein Apothekergarten trägt alle die
Würzpflanzen, deren Pflege Karl der Große in einem berühmten Briefe seinen
Gutsverwaltern ans Herz gelegt hat, und dazu noch vieles andre, was die Zeit
dazugefügt hat. Außerdem sind die Apothekersleute Menschen wie andre, die Ge¬
müse und Salate, Redliche und Gurken, Lauch und Zwiebeln brauchen. Das alles
ist beetweise abgeteilt, und während einiges fortwächst, wie es gesät wurde, sät nun
andres in besondre geschützte Kastenbeete, aus denen dann die Pflänzlinge, wenn sie
stark geworden sind, ins freie Land verpflanzt werden. Kressen gehören zu den Garten¬
pflanzen, die man am frühesten aussät; wenn der Winter früh gegangen ist, vertraut
man die kleinen rotbraunen Körnchen schon in den letzten Tagen des Februars der
Erde an. Man sät sie, um einen frühen Ostersalat zu haben, und weil ihr Grün
früh die braunen Beete verschönt.

So wie der Malerlehrling, der zum erstenmal einen vollen Pinsel in die
Hand bekommt, an die nächste beste Wand unfehlbar die Linien kleckst, die ihm
gerade als schaffenswert vorschweben, so trieb es mich, von der Keimkraft der
Körnchen, die mir anvertraut waren, den schönsten besten Gebrauch zu machen. Wie
oft schon hatte ich der unverständigen Neigung nachgegeben, ihren Namen dorthin
zu schreiben, wohin nur die Sonnenstrahlen ihn zu lesen kamen. Und so säte ich
denn, oder es säte ein Wille in mir, der halb Spieltrieb war, ein schöngeschwuugnes L
auf ein noch freies Beet. Nach zehn warmen Frühlingstagen, die ein kräftiger
Regen unterbrach, sah ich die winzig kleinen Doppelblättchen der Sämlinge hervor¬
keimen, alle rundlich, auseinandergefaltet, wie bittende Händchen, in deren Mitte
dann erst die zerschnittenen und krausen Blättchen der Gartenkresse wie zierliche
grüne Blutader auftnvspten. Dazwischen kamen junge Gräser, die senkrecht wie ganz
feine grüne Linien, ein Heer von Spießen, erschienen; manche waren auch zusammen¬
gebogen, und die Spitze konnte sich nur freimachen, indem sie die dunkle Erde mit
Schnellkraft empor und beiseite schob. Mein erster Gedanke war Freude über
das gelungne Werk. Wenn das so fortsproßte, mußte das L bald sichtbar sein, und
schon sah man einige Umrisse seiner Bogenlinien. Den nächste» Tag war es schon
fast zu erkennen. Da kam mir eine Art Schaul über die unzarte Entschleierung
eines tiefen Gefühls, verschärft durch Zweifel, wie Luise meine Freiheit aufnehmen
werde; und zum erstenmal dachte ich daran, daß alle es sehen würden, und was
ich antworten würde, wenn sie fragen: Warum? Ich trat an das Beet herau und
sah die Pflänzchen und Keime zerstreut stehn und die braune Erde dazwischen Vor¬
schauen; da war kein L zu sehen, ich schöpfte die Hoffnung, es sei nicht aufgegangen.
Aber wenn ich zurücktrat, da leuchtete der liebe, gefürchtete Buchstabe mich ver¬
hängnisvoll deutlich an, und der folgende Tag verscheuchte jeden Zweifel. Nun
mußten es auch die sehen, denen es im Grunde gleichgiltig sein konnte, ob ein L
oder ein X, für die aber die Frage von brennendem Interesse war: Wer hat den
Buchstaben hiugesät? Und was hatte er für eine Absicht dabei?

Des Mittags nach der Suppe kam die Frage, die kommen mußte: Wer hat
nur die Kressen in so sonderbaren Schnörkeln gesät? Die Hälfte des Beetes ist
leer. Das ist sehr unökonomisch und hat doch gar keinen weitern Zweck. Also
sprach der Mann mit der Schraube und rückte seine Mütze aufs Ohr. — Die Kressen
habe ich gesät, antwortete ich mit einer Stimme, von der ich mir später vorredete,
sie sei eisig gewesen; vielleicht zitterte sie jedoch etwas, denn ich fühlte mein Herz
so gegen die Ttschkante pochen, daß ich von ihr abrückte in der Furcht, der Tisch
mit allem, was darauf war, werde ins Pulsieren und Klirren kommen. — Und
warum haben Sie das Beet nicht vollgesät? — Ich hätte nun antworten können:
Weil der Samen nicht reichte, schämte mich aber jeder Ausflucht. — Es kam mir
so der Gedanke, es sei schöner, auch einmal eine Figur hineinzusäen. — Und was
soll es denn vorstellen? — Das weiß ich augenblicklich selbst nicht, es wird mir erst
einfallen, wenn es weiter heraus ist.

Die fragende Miene des Inquisitors belehrte mich, daß er das L noch nicht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0228" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295447"/>
          <fw type="header" place="top"> Glücksinseln und Träume</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1015"> Ich pflanzte vielerlei in diesem Frühling, ein Apothekergarten trägt alle die<lb/>
Würzpflanzen, deren Pflege Karl der Große in einem berühmten Briefe seinen<lb/>
Gutsverwaltern ans Herz gelegt hat, und dazu noch vieles andre, was die Zeit<lb/>
dazugefügt hat. Außerdem sind die Apothekersleute Menschen wie andre, die Ge¬<lb/>
müse und Salate, Redliche und Gurken, Lauch und Zwiebeln brauchen. Das alles<lb/>
ist beetweise abgeteilt, und während einiges fortwächst, wie es gesät wurde, sät nun<lb/>
andres in besondre geschützte Kastenbeete, aus denen dann die Pflänzlinge, wenn sie<lb/>
stark geworden sind, ins freie Land verpflanzt werden. Kressen gehören zu den Garten¬<lb/>
pflanzen, die man am frühesten aussät; wenn der Winter früh gegangen ist, vertraut<lb/>
man die kleinen rotbraunen Körnchen schon in den letzten Tagen des Februars der<lb/>
Erde an. Man sät sie, um einen frühen Ostersalat zu haben, und weil ihr Grün<lb/>
früh die braunen Beete verschönt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1016"> So wie der Malerlehrling, der zum erstenmal einen vollen Pinsel in die<lb/>
Hand bekommt, an die nächste beste Wand unfehlbar die Linien kleckst, die ihm<lb/>
gerade als schaffenswert vorschweben, so trieb es mich, von der Keimkraft der<lb/>
Körnchen, die mir anvertraut waren, den schönsten besten Gebrauch zu machen. Wie<lb/>
oft schon hatte ich der unverständigen Neigung nachgegeben, ihren Namen dorthin<lb/>
zu schreiben, wohin nur die Sonnenstrahlen ihn zu lesen kamen. Und so säte ich<lb/>
denn, oder es säte ein Wille in mir, der halb Spieltrieb war, ein schöngeschwuugnes L<lb/>
auf ein noch freies Beet. Nach zehn warmen Frühlingstagen, die ein kräftiger<lb/>
Regen unterbrach, sah ich die winzig kleinen Doppelblättchen der Sämlinge hervor¬<lb/>
keimen, alle rundlich, auseinandergefaltet, wie bittende Händchen, in deren Mitte<lb/>
dann erst die zerschnittenen und krausen Blättchen der Gartenkresse wie zierliche<lb/>
grüne Blutader auftnvspten. Dazwischen kamen junge Gräser, die senkrecht wie ganz<lb/>
feine grüne Linien, ein Heer von Spießen, erschienen; manche waren auch zusammen¬<lb/>
gebogen, und die Spitze konnte sich nur freimachen, indem sie die dunkle Erde mit<lb/>
Schnellkraft empor und beiseite schob. Mein erster Gedanke war Freude über<lb/>
das gelungne Werk. Wenn das so fortsproßte, mußte das L bald sichtbar sein, und<lb/>
schon sah man einige Umrisse seiner Bogenlinien. Den nächste» Tag war es schon<lb/>
fast zu erkennen. Da kam mir eine Art Schaul über die unzarte Entschleierung<lb/>
eines tiefen Gefühls, verschärft durch Zweifel, wie Luise meine Freiheit aufnehmen<lb/>
werde; und zum erstenmal dachte ich daran, daß alle es sehen würden, und was<lb/>
ich antworten würde, wenn sie fragen: Warum? Ich trat an das Beet herau und<lb/>
sah die Pflänzchen und Keime zerstreut stehn und die braune Erde dazwischen Vor¬<lb/>
schauen; da war kein L zu sehen, ich schöpfte die Hoffnung, es sei nicht aufgegangen.<lb/>
Aber wenn ich zurücktrat, da leuchtete der liebe, gefürchtete Buchstabe mich ver¬<lb/>
hängnisvoll deutlich an, und der folgende Tag verscheuchte jeden Zweifel. Nun<lb/>
mußten es auch die sehen, denen es im Grunde gleichgiltig sein konnte, ob ein L<lb/>
oder ein X, für die aber die Frage von brennendem Interesse war: Wer hat den<lb/>
Buchstaben hiugesät?  Und was hatte er für eine Absicht dabei?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1017"> Des Mittags nach der Suppe kam die Frage, die kommen mußte: Wer hat<lb/>
nur die Kressen in so sonderbaren Schnörkeln gesät? Die Hälfte des Beetes ist<lb/>
leer. Das ist sehr unökonomisch und hat doch gar keinen weitern Zweck. Also<lb/>
sprach der Mann mit der Schraube und rückte seine Mütze aufs Ohr. &#x2014; Die Kressen<lb/>
habe ich gesät, antwortete ich mit einer Stimme, von der ich mir später vorredete,<lb/>
sie sei eisig gewesen; vielleicht zitterte sie jedoch etwas, denn ich fühlte mein Herz<lb/>
so gegen die Ttschkante pochen, daß ich von ihr abrückte in der Furcht, der Tisch<lb/>
mit allem, was darauf war, werde ins Pulsieren und Klirren kommen. &#x2014; Und<lb/>
warum haben Sie das Beet nicht vollgesät? &#x2014; Ich hätte nun antworten können:<lb/>
Weil der Samen nicht reichte, schämte mich aber jeder Ausflucht. &#x2014; Es kam mir<lb/>
so der Gedanke, es sei schöner, auch einmal eine Figur hineinzusäen. &#x2014; Und was<lb/>
soll es denn vorstellen? &#x2014; Das weiß ich augenblicklich selbst nicht, es wird mir erst<lb/>
einfallen, wenn es weiter heraus ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1018" next="#ID_1019"> Die fragende Miene des Inquisitors belehrte mich, daß er das L noch nicht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0228] Glücksinseln und Träume Ich pflanzte vielerlei in diesem Frühling, ein Apothekergarten trägt alle die Würzpflanzen, deren Pflege Karl der Große in einem berühmten Briefe seinen Gutsverwaltern ans Herz gelegt hat, und dazu noch vieles andre, was die Zeit dazugefügt hat. Außerdem sind die Apothekersleute Menschen wie andre, die Ge¬ müse und Salate, Redliche und Gurken, Lauch und Zwiebeln brauchen. Das alles ist beetweise abgeteilt, und während einiges fortwächst, wie es gesät wurde, sät nun andres in besondre geschützte Kastenbeete, aus denen dann die Pflänzlinge, wenn sie stark geworden sind, ins freie Land verpflanzt werden. Kressen gehören zu den Garten¬ pflanzen, die man am frühesten aussät; wenn der Winter früh gegangen ist, vertraut man die kleinen rotbraunen Körnchen schon in den letzten Tagen des Februars der Erde an. Man sät sie, um einen frühen Ostersalat zu haben, und weil ihr Grün früh die braunen Beete verschönt. So wie der Malerlehrling, der zum erstenmal einen vollen Pinsel in die Hand bekommt, an die nächste beste Wand unfehlbar die Linien kleckst, die ihm gerade als schaffenswert vorschweben, so trieb es mich, von der Keimkraft der Körnchen, die mir anvertraut waren, den schönsten besten Gebrauch zu machen. Wie oft schon hatte ich der unverständigen Neigung nachgegeben, ihren Namen dorthin zu schreiben, wohin nur die Sonnenstrahlen ihn zu lesen kamen. Und so säte ich denn, oder es säte ein Wille in mir, der halb Spieltrieb war, ein schöngeschwuugnes L auf ein noch freies Beet. Nach zehn warmen Frühlingstagen, die ein kräftiger Regen unterbrach, sah ich die winzig kleinen Doppelblättchen der Sämlinge hervor¬ keimen, alle rundlich, auseinandergefaltet, wie bittende Händchen, in deren Mitte dann erst die zerschnittenen und krausen Blättchen der Gartenkresse wie zierliche grüne Blutader auftnvspten. Dazwischen kamen junge Gräser, die senkrecht wie ganz feine grüne Linien, ein Heer von Spießen, erschienen; manche waren auch zusammen¬ gebogen, und die Spitze konnte sich nur freimachen, indem sie die dunkle Erde mit Schnellkraft empor und beiseite schob. Mein erster Gedanke war Freude über das gelungne Werk. Wenn das so fortsproßte, mußte das L bald sichtbar sein, und schon sah man einige Umrisse seiner Bogenlinien. Den nächste» Tag war es schon fast zu erkennen. Da kam mir eine Art Schaul über die unzarte Entschleierung eines tiefen Gefühls, verschärft durch Zweifel, wie Luise meine Freiheit aufnehmen werde; und zum erstenmal dachte ich daran, daß alle es sehen würden, und was ich antworten würde, wenn sie fragen: Warum? Ich trat an das Beet herau und sah die Pflänzchen und Keime zerstreut stehn und die braune Erde dazwischen Vor¬ schauen; da war kein L zu sehen, ich schöpfte die Hoffnung, es sei nicht aufgegangen. Aber wenn ich zurücktrat, da leuchtete der liebe, gefürchtete Buchstabe mich ver¬ hängnisvoll deutlich an, und der folgende Tag verscheuchte jeden Zweifel. Nun mußten es auch die sehen, denen es im Grunde gleichgiltig sein konnte, ob ein L oder ein X, für die aber die Frage von brennendem Interesse war: Wer hat den Buchstaben hiugesät? Und was hatte er für eine Absicht dabei? Des Mittags nach der Suppe kam die Frage, die kommen mußte: Wer hat nur die Kressen in so sonderbaren Schnörkeln gesät? Die Hälfte des Beetes ist leer. Das ist sehr unökonomisch und hat doch gar keinen weitern Zweck. Also sprach der Mann mit der Schraube und rückte seine Mütze aufs Ohr. — Die Kressen habe ich gesät, antwortete ich mit einer Stimme, von der ich mir später vorredete, sie sei eisig gewesen; vielleicht zitterte sie jedoch etwas, denn ich fühlte mein Herz so gegen die Ttschkante pochen, daß ich von ihr abrückte in der Furcht, der Tisch mit allem, was darauf war, werde ins Pulsieren und Klirren kommen. — Und warum haben Sie das Beet nicht vollgesät? — Ich hätte nun antworten können: Weil der Samen nicht reichte, schämte mich aber jeder Ausflucht. — Es kam mir so der Gedanke, es sei schöner, auch einmal eine Figur hineinzusäen. — Und was soll es denn vorstellen? — Das weiß ich augenblicklich selbst nicht, es wird mir erst einfallen, wenn es weiter heraus ist. Die fragende Miene des Inquisitors belehrte mich, daß er das L noch nicht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/228
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/228>, abgerufen am 23.07.2024.