Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Glücksinseln und Träume

und in Nebelwolken hcrcmfzuwogen begann, die das zerstreute junge Sonnenlicht
golden cmglühte. Auf dem runden Gipfel, wo die schwarzen Blöcke des Basalts
wie eine zerbrochne Mauer liegen, stand der Nebel vor dem West- und Nordhimmel
dicht, als gelte es, eine neue Mauer aufzubauen, und nur hoch oben blaute es un¬
bestimmt. Mit der Aussicht war es nichts. Von Osten her drang nur noch ein
silbernes Licht durch, dieses aber warf unmerklich dunkler deu Schatten des Berges
auf die graue Wand vor uns, sodaß mau jeden Block unterscheiden konnte, und
unsre Gestalten dazu, seltsam in die Höhe gereckt. Es war sonderbar, wie jede
Bewegung in die Höhe zu schießen schien. Manchmal umgaben goldne und bläuliche
Säume die Umrisse. Als ich hinter Luise trat, wollten unsre Nebelbilder sich ver¬
schmelzen, Luise aber trat zur Seite und beeilte den Abstieg zu einer mauer¬
geschützten Stelle, wo wir uns mit befrenndeten Wandrern trafen, die vou ander"
Seiten heraufgestiegen waren. Diese hielten nicht viel von einem Berggipfel im
Nebel und saßen schon um ein loderndes Reisigfeuer, über dem der Kaffeekessel
hing. Wir aber waren in aller Stille stolz, früher oben gewesen zu sein und mehr
gesehen zu haben, und aus Luisens Gesprächen hörte ich mit inniger Freude ihren
warmen Anteil an unsrer gemeinsamen Wanderung heraus. Welches Glück in dem
gemeinsamen Besitz noch so beschränkter Erfahrungen! Waren nicht sogar die Sterne
unser, die wir am Morgen bewundert hatten und am Abend bei der geräuschvollem
Heimkehr wiedererkannten?

Ich vermied es, auf dem ganzen Wege Luisen zu berühren, da ich ahnen
mochte, daß ein für Körperelektrizität nicht leitender Zwischenraum für uns von
Heil sei. Ich war es zufrieden, wenn ihr freundlicher Blick dem meinen antwortete,
und wenn wir in unsrer Unterhaltung dem Gewöhnlichsten den Reiz persönlichen
Interesses beilegten, der allen Dingen Wärme und Leben gibt. Freundschaft und
Liebe übertreffe" noch weit Kunst und Dichtung in der Gabe, alles und jedes ans
der Sphäre der Gleichgiltigkeit erheben, beseelen, idealisieren zu können. Sicherlich
haben beide dazu beigetragen, die Welt schöner, befreundeter zu machen, denn nicht
alle Gefühle dieser Art gehen mit dem Augenblick verloren, der sie hatte entstehn
lassen. Die Schlüsselblumen haben dauernd für mich an Wert gewonnen, seitdem
ich wußte, daß Luise sie so sehr liebte. Und das Brückengeländer, wo wir beide
oft standen und in Pausen ernster Gespräche den stillen Bach unter uns wegfließen
ließen, kam mir wie ein Sinnbild des Glücks vor, das fest steht, während die Zeit
darunter unmerklich rasch vorübergeht. Freunde sollen einander fördern, sagte ich
einmal, als wir zusammen dem Bache nachblickten. Das können sie am besten, wenn
jeder die Arme frei hat. Nehmen wir an, wir sollten diesen Bach auf einer schmalen
Planke überschreiten, Sie gehen hinüber, ich halte die Planke, damit sie nicht zittert.
Leute, die einander lieb haben, meinen, sie müssen mit verschlungnen Armen zu¬
sammen hinübergehn, und eins zieht das andre hinab. Ein Frenndespaar handelt
also vernünftiger als ein Liebespaar. Ist es nicht so in vielen andern Fällen?

Luise lächelte fein. Ihre Rechnung wäre richtig, wenn nicht diese Leute sich
glücklicher fühlten, wenn sie zusammen ins Wasser gefallen sind, als andre, die den
Weg trocken zurückgelegt haben.

Es mag nicht ganz ungefährlich sein, in das Wasser zu fallen, über das die Planke
der Freundschaft führt. Ich habe die Idee, es sei tief. Es ist so schön, in stilles tiefes
Wasser einzutauchen. Aber werden die beiden so leicht wieder ans Licht kommen?

Das brauchen sie vielleicht gar nicht. Es soll Augenblicke geben so voll Glück,
daß dahinter nichts mehr ist, was die Mühe zu leben lohnte.

Was mochte das Mädchen denken? Ich verstand es nicht. Daß diese Freund¬
schaft jeden Tag verschönte, stand mir fest genng! Nichts auf der Welt kam mir
so sicher vor. Ein Händedruck, ein stummer Vertrag, und daruntergesetzt die Unter¬
schrift eines jungen Herzens voll Glaube: was gibt es sichereres für dieses Herz?

Ich ging ganz in dem Genuß des Umganges mit einem Menschen auf, der
besser, schöner nud viel, viel gescheiter war als ich. Im Grunde war es der Ehrgeiz,


Glücksinseln und Träume

und in Nebelwolken hcrcmfzuwogen begann, die das zerstreute junge Sonnenlicht
golden cmglühte. Auf dem runden Gipfel, wo die schwarzen Blöcke des Basalts
wie eine zerbrochne Mauer liegen, stand der Nebel vor dem West- und Nordhimmel
dicht, als gelte es, eine neue Mauer aufzubauen, und nur hoch oben blaute es un¬
bestimmt. Mit der Aussicht war es nichts. Von Osten her drang nur noch ein
silbernes Licht durch, dieses aber warf unmerklich dunkler deu Schatten des Berges
auf die graue Wand vor uns, sodaß mau jeden Block unterscheiden konnte, und
unsre Gestalten dazu, seltsam in die Höhe gereckt. Es war sonderbar, wie jede
Bewegung in die Höhe zu schießen schien. Manchmal umgaben goldne und bläuliche
Säume die Umrisse. Als ich hinter Luise trat, wollten unsre Nebelbilder sich ver¬
schmelzen, Luise aber trat zur Seite und beeilte den Abstieg zu einer mauer¬
geschützten Stelle, wo wir uns mit befrenndeten Wandrern trafen, die vou ander«
Seiten heraufgestiegen waren. Diese hielten nicht viel von einem Berggipfel im
Nebel und saßen schon um ein loderndes Reisigfeuer, über dem der Kaffeekessel
hing. Wir aber waren in aller Stille stolz, früher oben gewesen zu sein und mehr
gesehen zu haben, und aus Luisens Gesprächen hörte ich mit inniger Freude ihren
warmen Anteil an unsrer gemeinsamen Wanderung heraus. Welches Glück in dem
gemeinsamen Besitz noch so beschränkter Erfahrungen! Waren nicht sogar die Sterne
unser, die wir am Morgen bewundert hatten und am Abend bei der geräuschvollem
Heimkehr wiedererkannten?

Ich vermied es, auf dem ganzen Wege Luisen zu berühren, da ich ahnen
mochte, daß ein für Körperelektrizität nicht leitender Zwischenraum für uns von
Heil sei. Ich war es zufrieden, wenn ihr freundlicher Blick dem meinen antwortete,
und wenn wir in unsrer Unterhaltung dem Gewöhnlichsten den Reiz persönlichen
Interesses beilegten, der allen Dingen Wärme und Leben gibt. Freundschaft und
Liebe übertreffe» noch weit Kunst und Dichtung in der Gabe, alles und jedes ans
der Sphäre der Gleichgiltigkeit erheben, beseelen, idealisieren zu können. Sicherlich
haben beide dazu beigetragen, die Welt schöner, befreundeter zu machen, denn nicht
alle Gefühle dieser Art gehen mit dem Augenblick verloren, der sie hatte entstehn
lassen. Die Schlüsselblumen haben dauernd für mich an Wert gewonnen, seitdem
ich wußte, daß Luise sie so sehr liebte. Und das Brückengeländer, wo wir beide
oft standen und in Pausen ernster Gespräche den stillen Bach unter uns wegfließen
ließen, kam mir wie ein Sinnbild des Glücks vor, das fest steht, während die Zeit
darunter unmerklich rasch vorübergeht. Freunde sollen einander fördern, sagte ich
einmal, als wir zusammen dem Bache nachblickten. Das können sie am besten, wenn
jeder die Arme frei hat. Nehmen wir an, wir sollten diesen Bach auf einer schmalen
Planke überschreiten, Sie gehen hinüber, ich halte die Planke, damit sie nicht zittert.
Leute, die einander lieb haben, meinen, sie müssen mit verschlungnen Armen zu¬
sammen hinübergehn, und eins zieht das andre hinab. Ein Frenndespaar handelt
also vernünftiger als ein Liebespaar. Ist es nicht so in vielen andern Fällen?

Luise lächelte fein. Ihre Rechnung wäre richtig, wenn nicht diese Leute sich
glücklicher fühlten, wenn sie zusammen ins Wasser gefallen sind, als andre, die den
Weg trocken zurückgelegt haben.

Es mag nicht ganz ungefährlich sein, in das Wasser zu fallen, über das die Planke
der Freundschaft führt. Ich habe die Idee, es sei tief. Es ist so schön, in stilles tiefes
Wasser einzutauchen. Aber werden die beiden so leicht wieder ans Licht kommen?

Das brauchen sie vielleicht gar nicht. Es soll Augenblicke geben so voll Glück,
daß dahinter nichts mehr ist, was die Mühe zu leben lohnte.

Was mochte das Mädchen denken? Ich verstand es nicht. Daß diese Freund¬
schaft jeden Tag verschönte, stand mir fest genng! Nichts auf der Welt kam mir
so sicher vor. Ein Händedruck, ein stummer Vertrag, und daruntergesetzt die Unter¬
schrift eines jungen Herzens voll Glaube: was gibt es sichereres für dieses Herz?

Ich ging ganz in dem Genuß des Umganges mit einem Menschen auf, der
besser, schöner nud viel, viel gescheiter war als ich. Im Grunde war es der Ehrgeiz,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0226" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295445"/>
          <fw type="header" place="top"> Glücksinseln und Träume</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1003" prev="#ID_1002"> und in Nebelwolken hcrcmfzuwogen begann, die das zerstreute junge Sonnenlicht<lb/>
golden cmglühte. Auf dem runden Gipfel, wo die schwarzen Blöcke des Basalts<lb/>
wie eine zerbrochne Mauer liegen, stand der Nebel vor dem West- und Nordhimmel<lb/>
dicht, als gelte es, eine neue Mauer aufzubauen, und nur hoch oben blaute es un¬<lb/>
bestimmt. Mit der Aussicht war es nichts. Von Osten her drang nur noch ein<lb/>
silbernes Licht durch, dieses aber warf unmerklich dunkler deu Schatten des Berges<lb/>
auf die graue Wand vor uns, sodaß mau jeden Block unterscheiden konnte, und<lb/>
unsre Gestalten dazu, seltsam in die Höhe gereckt. Es war sonderbar, wie jede<lb/>
Bewegung in die Höhe zu schießen schien. Manchmal umgaben goldne und bläuliche<lb/>
Säume die Umrisse. Als ich hinter Luise trat, wollten unsre Nebelbilder sich ver¬<lb/>
schmelzen, Luise aber trat zur Seite und beeilte den Abstieg zu einer mauer¬<lb/>
geschützten Stelle, wo wir uns mit befrenndeten Wandrern trafen, die vou ander«<lb/>
Seiten heraufgestiegen waren. Diese hielten nicht viel von einem Berggipfel im<lb/>
Nebel und saßen schon um ein loderndes Reisigfeuer, über dem der Kaffeekessel<lb/>
hing. Wir aber waren in aller Stille stolz, früher oben gewesen zu sein und mehr<lb/>
gesehen zu haben, und aus Luisens Gesprächen hörte ich mit inniger Freude ihren<lb/>
warmen Anteil an unsrer gemeinsamen Wanderung heraus. Welches Glück in dem<lb/>
gemeinsamen Besitz noch so beschränkter Erfahrungen! Waren nicht sogar die Sterne<lb/>
unser, die wir am Morgen bewundert hatten und am Abend bei der geräuschvollem<lb/>
Heimkehr wiedererkannten?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1004"> Ich vermied es, auf dem ganzen Wege Luisen zu berühren, da ich ahnen<lb/>
mochte, daß ein für Körperelektrizität nicht leitender Zwischenraum für uns von<lb/>
Heil sei. Ich war es zufrieden, wenn ihr freundlicher Blick dem meinen antwortete,<lb/>
und wenn wir in unsrer Unterhaltung dem Gewöhnlichsten den Reiz persönlichen<lb/>
Interesses beilegten, der allen Dingen Wärme und Leben gibt. Freundschaft und<lb/>
Liebe übertreffe» noch weit Kunst und Dichtung in der Gabe, alles und jedes ans<lb/>
der Sphäre der Gleichgiltigkeit erheben, beseelen, idealisieren zu können. Sicherlich<lb/>
haben beide dazu beigetragen, die Welt schöner, befreundeter zu machen, denn nicht<lb/>
alle Gefühle dieser Art gehen mit dem Augenblick verloren, der sie hatte entstehn<lb/>
lassen. Die Schlüsselblumen haben dauernd für mich an Wert gewonnen, seitdem<lb/>
ich wußte, daß Luise sie so sehr liebte. Und das Brückengeländer, wo wir beide<lb/>
oft standen und in Pausen ernster Gespräche den stillen Bach unter uns wegfließen<lb/>
ließen, kam mir wie ein Sinnbild des Glücks vor, das fest steht, während die Zeit<lb/>
darunter unmerklich rasch vorübergeht. Freunde sollen einander fördern, sagte ich<lb/>
einmal, als wir zusammen dem Bache nachblickten. Das können sie am besten, wenn<lb/>
jeder die Arme frei hat. Nehmen wir an, wir sollten diesen Bach auf einer schmalen<lb/>
Planke überschreiten, Sie gehen hinüber, ich halte die Planke, damit sie nicht zittert.<lb/>
Leute, die einander lieb haben, meinen, sie müssen mit verschlungnen Armen zu¬<lb/>
sammen hinübergehn, und eins zieht das andre hinab. Ein Frenndespaar handelt<lb/>
also vernünftiger als ein Liebespaar. Ist es nicht so in vielen andern Fällen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1005"> Luise lächelte fein. Ihre Rechnung wäre richtig, wenn nicht diese Leute sich<lb/>
glücklicher fühlten, wenn sie zusammen ins Wasser gefallen sind, als andre, die den<lb/>
Weg trocken zurückgelegt haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1006"> Es mag nicht ganz ungefährlich sein, in das Wasser zu fallen, über das die Planke<lb/>
der Freundschaft führt. Ich habe die Idee, es sei tief. Es ist so schön, in stilles tiefes<lb/>
Wasser einzutauchen. Aber werden die beiden so leicht wieder ans Licht kommen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1007"> Das brauchen sie vielleicht gar nicht. Es soll Augenblicke geben so voll Glück,<lb/>
daß dahinter nichts mehr ist, was die Mühe zu leben lohnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1008"> Was mochte das Mädchen denken? Ich verstand es nicht. Daß diese Freund¬<lb/>
schaft jeden Tag verschönte, stand mir fest genng! Nichts auf der Welt kam mir<lb/>
so sicher vor. Ein Händedruck, ein stummer Vertrag, und daruntergesetzt die Unter¬<lb/>
schrift eines jungen Herzens voll Glaube: was gibt es sichereres für dieses Herz?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1009" next="#ID_1010"> Ich ging ganz in dem Genuß des Umganges mit einem Menschen auf, der<lb/>
besser, schöner nud viel, viel gescheiter war als ich. Im Grunde war es der Ehrgeiz,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0226] Glücksinseln und Träume und in Nebelwolken hcrcmfzuwogen begann, die das zerstreute junge Sonnenlicht golden cmglühte. Auf dem runden Gipfel, wo die schwarzen Blöcke des Basalts wie eine zerbrochne Mauer liegen, stand der Nebel vor dem West- und Nordhimmel dicht, als gelte es, eine neue Mauer aufzubauen, und nur hoch oben blaute es un¬ bestimmt. Mit der Aussicht war es nichts. Von Osten her drang nur noch ein silbernes Licht durch, dieses aber warf unmerklich dunkler deu Schatten des Berges auf die graue Wand vor uns, sodaß mau jeden Block unterscheiden konnte, und unsre Gestalten dazu, seltsam in die Höhe gereckt. Es war sonderbar, wie jede Bewegung in die Höhe zu schießen schien. Manchmal umgaben goldne und bläuliche Säume die Umrisse. Als ich hinter Luise trat, wollten unsre Nebelbilder sich ver¬ schmelzen, Luise aber trat zur Seite und beeilte den Abstieg zu einer mauer¬ geschützten Stelle, wo wir uns mit befrenndeten Wandrern trafen, die vou ander« Seiten heraufgestiegen waren. Diese hielten nicht viel von einem Berggipfel im Nebel und saßen schon um ein loderndes Reisigfeuer, über dem der Kaffeekessel hing. Wir aber waren in aller Stille stolz, früher oben gewesen zu sein und mehr gesehen zu haben, und aus Luisens Gesprächen hörte ich mit inniger Freude ihren warmen Anteil an unsrer gemeinsamen Wanderung heraus. Welches Glück in dem gemeinsamen Besitz noch so beschränkter Erfahrungen! Waren nicht sogar die Sterne unser, die wir am Morgen bewundert hatten und am Abend bei der geräuschvollem Heimkehr wiedererkannten? Ich vermied es, auf dem ganzen Wege Luisen zu berühren, da ich ahnen mochte, daß ein für Körperelektrizität nicht leitender Zwischenraum für uns von Heil sei. Ich war es zufrieden, wenn ihr freundlicher Blick dem meinen antwortete, und wenn wir in unsrer Unterhaltung dem Gewöhnlichsten den Reiz persönlichen Interesses beilegten, der allen Dingen Wärme und Leben gibt. Freundschaft und Liebe übertreffe» noch weit Kunst und Dichtung in der Gabe, alles und jedes ans der Sphäre der Gleichgiltigkeit erheben, beseelen, idealisieren zu können. Sicherlich haben beide dazu beigetragen, die Welt schöner, befreundeter zu machen, denn nicht alle Gefühle dieser Art gehen mit dem Augenblick verloren, der sie hatte entstehn lassen. Die Schlüsselblumen haben dauernd für mich an Wert gewonnen, seitdem ich wußte, daß Luise sie so sehr liebte. Und das Brückengeländer, wo wir beide oft standen und in Pausen ernster Gespräche den stillen Bach unter uns wegfließen ließen, kam mir wie ein Sinnbild des Glücks vor, das fest steht, während die Zeit darunter unmerklich rasch vorübergeht. Freunde sollen einander fördern, sagte ich einmal, als wir zusammen dem Bache nachblickten. Das können sie am besten, wenn jeder die Arme frei hat. Nehmen wir an, wir sollten diesen Bach auf einer schmalen Planke überschreiten, Sie gehen hinüber, ich halte die Planke, damit sie nicht zittert. Leute, die einander lieb haben, meinen, sie müssen mit verschlungnen Armen zu¬ sammen hinübergehn, und eins zieht das andre hinab. Ein Frenndespaar handelt also vernünftiger als ein Liebespaar. Ist es nicht so in vielen andern Fällen? Luise lächelte fein. Ihre Rechnung wäre richtig, wenn nicht diese Leute sich glücklicher fühlten, wenn sie zusammen ins Wasser gefallen sind, als andre, die den Weg trocken zurückgelegt haben. Es mag nicht ganz ungefährlich sein, in das Wasser zu fallen, über das die Planke der Freundschaft führt. Ich habe die Idee, es sei tief. Es ist so schön, in stilles tiefes Wasser einzutauchen. Aber werden die beiden so leicht wieder ans Licht kommen? Das brauchen sie vielleicht gar nicht. Es soll Augenblicke geben so voll Glück, daß dahinter nichts mehr ist, was die Mühe zu leben lohnte. Was mochte das Mädchen denken? Ich verstand es nicht. Daß diese Freund¬ schaft jeden Tag verschönte, stand mir fest genng! Nichts auf der Welt kam mir so sicher vor. Ein Händedruck, ein stummer Vertrag, und daruntergesetzt die Unter¬ schrift eines jungen Herzens voll Glaube: was gibt es sichereres für dieses Herz? Ich ging ganz in dem Genuß des Umganges mit einem Menschen auf, der besser, schöner nud viel, viel gescheiter war als ich. Im Grunde war es der Ehrgeiz,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/226
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/226>, abgerufen am 23.07.2024.