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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksinseln und Träume

Als ich aber dem Mädchen sagte: Ich habe Ihnen da eine Schlüsselblume gereicht,
um der schon ein paar Blüten verwelkt sind, werfen Sie sie weg, wir finden gleich
schönere! -- antwortete es: Es ist mir so schwer, mich von dieser Schlüsselblume
zu trennen, wenn auch einige von den chromgelben Blüteuköpfchen schon bräunlich
angehaucht sind. Warum sie deshalb gleich wegwerfen? Sie bleiben doch immer
ein herrliches Werk der Schöpfung, das ich ungern von mir tue. Wir werfen
doch auch ein Kunstwerk nicht in den Staub, wenn es alt geworden ist. Und diese
Blumen sind außerdem lebende Wesen, die verschmachten, wenn wir unsre Hand
von ihnen abziehen. Wir haben sie nun einmal aus ihrem Boden gerissen, sorgen
wir nun dafür, daß sie solange wie möglich am Leben bleiben, es ist doch eigentlich
eine Art Pflicht. Gleich nach der Ankunft werde ich sie ins Wasser stellen.

Ich mag das Mädchen erstaunt angesehen haben; das klang ja wie aus Stifter;
so hatte ich überhaupt noch niemand sprechen hören, nicht einmal meinen alten Lehrer
der Naturgeschichte, der mich zuerst die Pflanzen kennen und lieben gelehrt hatte.
Ich schwieg, da mir die Empfindung, die da ausgesprochen worden war, zu fein
und zu eigentümlich vorkam, sie zu wiederholen oder mich nachträglich dazu zu be¬
kennen. Aber ich fühlte tief, daß ich eigentlich ebenso denken und handeln müßte,
wenn ich nicht noch zu tief in schlechten Gewohnheiten steckte, und ich war gespannt,
was dieser feine Mund mir wohl noch offenbaren werde. Einstweilen ahmte er
mein Schweigen nach, und ich hatte Zeit, über den wundervollen Effekt nachzudenken,
den der Mannheimer Dialekt, aus solchem Munde solche Empfindungen tragend,
in dem Ohre eines Hörers hervorbrachte, der ihn bisher als das Idiom von Ge¬
treide- und Hopfenhändlern oder Rhein- und Neckarschiffern vernommen hatte.

In den angebräunten niedern Räumen des Apothekerhauses, wo sonst nur die
Alten grämlich und heiser redeten und die Jungen verdrossen schwiegen, klang
Luisens Stimme hell und heiter. Diese Stimme war vielleicht in ihrer Weise ebenso
um einen Ton zu hell, wie Luisens Auge um eine Idee zu groß und zu klar war.
Wenn es singend den dunkeln Gang herklang, bald ferner, bald naher, mußte ich
an Töne einer Glasharmonika denken, und es drängte sich mir die Frage auf: Kann
in so hohem, feinem Tone Seele sein? Lebt etwas darin? Oder klingt nur kalter,
Heller Kristall? Luisens Auge beruhigte darüber. Es war nur eines. Wer in
dieses Gesicht blickte, sah zuerst den viereckigen schwarzen Fleck eines an einem
seidnen Band um den Kopf befestigten Stückchens Seide, das das rechte Ange
bedeckte. Das Auge war bei einer Operation entfernt worden, die Lider hatten
sich für immer geschlossen, die Augenhöhle war etwas eingesunken. Ich fand die
Stelle nicht häßlich, aber es lag mir ein schmerzlicher Zug um die zusnmmen-
gezognen Lider, den der schöne heitere Schwung der Augenbrauen und die freie
glatte Stirn wie ein trübes Wölkchen an einem völlig heitern Himmel erscheinen
ließ. Jedenfalls stießen sich auch viele andre nicht an dem schwarzen Band und
Fleck, denn das übrig gebliebne Auge war von einer solchen Klarheit, daß es mehr
als genügte, das Gesicht des Mädchens zu erleuchten, zu beleben. Ich weiß
nicht, ob es auch auf andre einen so seltsam anziehenden Eindruck machte, jetzt die
augenlose Hälfte dieses Gesichtes, und denn wieder die Hälfte mit dem Leben und
Leuchten des Auges zu sehe". Der Wechsel von Schatten und Licht erinnerte an den
Neumond und den Vollmond. Kehrten sie mir die Seite mit dem schwarzen Seiden¬
viereck zu, so lag es wie ein leichter Schatten ans allem, was uus umgab. Jeder
Sonnenstrahl, jede Blume leuchtete weniger, und ich glaubte über das feine Gesicht
eine" Hauch von Trübung sich ausbreiten zu sehen. Wandte Luise den Kopf, da
ging es hell durchs Zimmer, und mir kam es vor. als müßte ich im Strahl ihres
Auges Sonnenstäubchen tanzen sehen. Ja, diese sonnige Bläue strahlte für mehr als
ein Gesicht Licht und Frohsinn aus, das konnte man sehen, wenn Luise unter andern
Menschen war: unwillkürlich blieb der Blick an diesem Auge haften. Ich nehme
an, daß es etwas größer war, als ein Auge gewöhnlich ist, jedoch gewiß nur um
so viel, daß es sie eben gerade überstrahlte; damals dachte ich übrigens niemals


Glücksinseln und Träume

Als ich aber dem Mädchen sagte: Ich habe Ihnen da eine Schlüsselblume gereicht,
um der schon ein paar Blüten verwelkt sind, werfen Sie sie weg, wir finden gleich
schönere! — antwortete es: Es ist mir so schwer, mich von dieser Schlüsselblume
zu trennen, wenn auch einige von den chromgelben Blüteuköpfchen schon bräunlich
angehaucht sind. Warum sie deshalb gleich wegwerfen? Sie bleiben doch immer
ein herrliches Werk der Schöpfung, das ich ungern von mir tue. Wir werfen
doch auch ein Kunstwerk nicht in den Staub, wenn es alt geworden ist. Und diese
Blumen sind außerdem lebende Wesen, die verschmachten, wenn wir unsre Hand
von ihnen abziehen. Wir haben sie nun einmal aus ihrem Boden gerissen, sorgen
wir nun dafür, daß sie solange wie möglich am Leben bleiben, es ist doch eigentlich
eine Art Pflicht. Gleich nach der Ankunft werde ich sie ins Wasser stellen.

Ich mag das Mädchen erstaunt angesehen haben; das klang ja wie aus Stifter;
so hatte ich überhaupt noch niemand sprechen hören, nicht einmal meinen alten Lehrer
der Naturgeschichte, der mich zuerst die Pflanzen kennen und lieben gelehrt hatte.
Ich schwieg, da mir die Empfindung, die da ausgesprochen worden war, zu fein
und zu eigentümlich vorkam, sie zu wiederholen oder mich nachträglich dazu zu be¬
kennen. Aber ich fühlte tief, daß ich eigentlich ebenso denken und handeln müßte,
wenn ich nicht noch zu tief in schlechten Gewohnheiten steckte, und ich war gespannt,
was dieser feine Mund mir wohl noch offenbaren werde. Einstweilen ahmte er
mein Schweigen nach, und ich hatte Zeit, über den wundervollen Effekt nachzudenken,
den der Mannheimer Dialekt, aus solchem Munde solche Empfindungen tragend,
in dem Ohre eines Hörers hervorbrachte, der ihn bisher als das Idiom von Ge¬
treide- und Hopfenhändlern oder Rhein- und Neckarschiffern vernommen hatte.

In den angebräunten niedern Räumen des Apothekerhauses, wo sonst nur die
Alten grämlich und heiser redeten und die Jungen verdrossen schwiegen, klang
Luisens Stimme hell und heiter. Diese Stimme war vielleicht in ihrer Weise ebenso
um einen Ton zu hell, wie Luisens Auge um eine Idee zu groß und zu klar war.
Wenn es singend den dunkeln Gang herklang, bald ferner, bald naher, mußte ich
an Töne einer Glasharmonika denken, und es drängte sich mir die Frage auf: Kann
in so hohem, feinem Tone Seele sein? Lebt etwas darin? Oder klingt nur kalter,
Heller Kristall? Luisens Auge beruhigte darüber. Es war nur eines. Wer in
dieses Gesicht blickte, sah zuerst den viereckigen schwarzen Fleck eines an einem
seidnen Band um den Kopf befestigten Stückchens Seide, das das rechte Ange
bedeckte. Das Auge war bei einer Operation entfernt worden, die Lider hatten
sich für immer geschlossen, die Augenhöhle war etwas eingesunken. Ich fand die
Stelle nicht häßlich, aber es lag mir ein schmerzlicher Zug um die zusnmmen-
gezognen Lider, den der schöne heitere Schwung der Augenbrauen und die freie
glatte Stirn wie ein trübes Wölkchen an einem völlig heitern Himmel erscheinen
ließ. Jedenfalls stießen sich auch viele andre nicht an dem schwarzen Band und
Fleck, denn das übrig gebliebne Auge war von einer solchen Klarheit, daß es mehr
als genügte, das Gesicht des Mädchens zu erleuchten, zu beleben. Ich weiß
nicht, ob es auch auf andre einen so seltsam anziehenden Eindruck machte, jetzt die
augenlose Hälfte dieses Gesichtes, und denn wieder die Hälfte mit dem Leben und
Leuchten des Auges zu sehe». Der Wechsel von Schatten und Licht erinnerte an den
Neumond und den Vollmond. Kehrten sie mir die Seite mit dem schwarzen Seiden¬
viereck zu, so lag es wie ein leichter Schatten ans allem, was uus umgab. Jeder
Sonnenstrahl, jede Blume leuchtete weniger, und ich glaubte über das feine Gesicht
eine» Hauch von Trübung sich ausbreiten zu sehen. Wandte Luise den Kopf, da
ging es hell durchs Zimmer, und mir kam es vor. als müßte ich im Strahl ihres
Auges Sonnenstäubchen tanzen sehen. Ja, diese sonnige Bläue strahlte für mehr als
ein Gesicht Licht und Frohsinn aus, das konnte man sehen, wenn Luise unter andern
Menschen war: unwillkürlich blieb der Blick an diesem Auge haften. Ich nehme
an, daß es etwas größer war, als ein Auge gewöhnlich ist, jedoch gewiß nur um
so viel, daß es sie eben gerade überstrahlte; damals dachte ich übrigens niemals


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[0223] Glücksinseln und Träume Als ich aber dem Mädchen sagte: Ich habe Ihnen da eine Schlüsselblume gereicht, um der schon ein paar Blüten verwelkt sind, werfen Sie sie weg, wir finden gleich schönere! — antwortete es: Es ist mir so schwer, mich von dieser Schlüsselblume zu trennen, wenn auch einige von den chromgelben Blüteuköpfchen schon bräunlich angehaucht sind. Warum sie deshalb gleich wegwerfen? Sie bleiben doch immer ein herrliches Werk der Schöpfung, das ich ungern von mir tue. Wir werfen doch auch ein Kunstwerk nicht in den Staub, wenn es alt geworden ist. Und diese Blumen sind außerdem lebende Wesen, die verschmachten, wenn wir unsre Hand von ihnen abziehen. Wir haben sie nun einmal aus ihrem Boden gerissen, sorgen wir nun dafür, daß sie solange wie möglich am Leben bleiben, es ist doch eigentlich eine Art Pflicht. Gleich nach der Ankunft werde ich sie ins Wasser stellen. Ich mag das Mädchen erstaunt angesehen haben; das klang ja wie aus Stifter; so hatte ich überhaupt noch niemand sprechen hören, nicht einmal meinen alten Lehrer der Naturgeschichte, der mich zuerst die Pflanzen kennen und lieben gelehrt hatte. Ich schwieg, da mir die Empfindung, die da ausgesprochen worden war, zu fein und zu eigentümlich vorkam, sie zu wiederholen oder mich nachträglich dazu zu be¬ kennen. Aber ich fühlte tief, daß ich eigentlich ebenso denken und handeln müßte, wenn ich nicht noch zu tief in schlechten Gewohnheiten steckte, und ich war gespannt, was dieser feine Mund mir wohl noch offenbaren werde. Einstweilen ahmte er mein Schweigen nach, und ich hatte Zeit, über den wundervollen Effekt nachzudenken, den der Mannheimer Dialekt, aus solchem Munde solche Empfindungen tragend, in dem Ohre eines Hörers hervorbrachte, der ihn bisher als das Idiom von Ge¬ treide- und Hopfenhändlern oder Rhein- und Neckarschiffern vernommen hatte. In den angebräunten niedern Räumen des Apothekerhauses, wo sonst nur die Alten grämlich und heiser redeten und die Jungen verdrossen schwiegen, klang Luisens Stimme hell und heiter. Diese Stimme war vielleicht in ihrer Weise ebenso um einen Ton zu hell, wie Luisens Auge um eine Idee zu groß und zu klar war. Wenn es singend den dunkeln Gang herklang, bald ferner, bald naher, mußte ich an Töne einer Glasharmonika denken, und es drängte sich mir die Frage auf: Kann in so hohem, feinem Tone Seele sein? Lebt etwas darin? Oder klingt nur kalter, Heller Kristall? Luisens Auge beruhigte darüber. Es war nur eines. Wer in dieses Gesicht blickte, sah zuerst den viereckigen schwarzen Fleck eines an einem seidnen Band um den Kopf befestigten Stückchens Seide, das das rechte Ange bedeckte. Das Auge war bei einer Operation entfernt worden, die Lider hatten sich für immer geschlossen, die Augenhöhle war etwas eingesunken. Ich fand die Stelle nicht häßlich, aber es lag mir ein schmerzlicher Zug um die zusnmmen- gezognen Lider, den der schöne heitere Schwung der Augenbrauen und die freie glatte Stirn wie ein trübes Wölkchen an einem völlig heitern Himmel erscheinen ließ. Jedenfalls stießen sich auch viele andre nicht an dem schwarzen Band und Fleck, denn das übrig gebliebne Auge war von einer solchen Klarheit, daß es mehr als genügte, das Gesicht des Mädchens zu erleuchten, zu beleben. Ich weiß nicht, ob es auch auf andre einen so seltsam anziehenden Eindruck machte, jetzt die augenlose Hälfte dieses Gesichtes, und denn wieder die Hälfte mit dem Leben und Leuchten des Auges zu sehe». Der Wechsel von Schatten und Licht erinnerte an den Neumond und den Vollmond. Kehrten sie mir die Seite mit dem schwarzen Seiden¬ viereck zu, so lag es wie ein leichter Schatten ans allem, was uus umgab. Jeder Sonnenstrahl, jede Blume leuchtete weniger, und ich glaubte über das feine Gesicht eine» Hauch von Trübung sich ausbreiten zu sehen. Wandte Luise den Kopf, da ging es hell durchs Zimmer, und mir kam es vor. als müßte ich im Strahl ihres Auges Sonnenstäubchen tanzen sehen. Ja, diese sonnige Bläue strahlte für mehr als ein Gesicht Licht und Frohsinn aus, das konnte man sehen, wenn Luise unter andern Menschen war: unwillkürlich blieb der Blick an diesem Auge haften. Ich nehme an, daß es etwas größer war, als ein Auge gewöhnlich ist, jedoch gewiß nur um so viel, daß es sie eben gerade überstrahlte; damals dachte ich übrigens niemals

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/223>, abgerufen am 23.07.2024.