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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

deutscher Steuerzahler nach Hamburg gefahren, um -- wiederum auf Kosten
dieser -- in einer Irrenanstalt untersucht zu werden, aus der er vermutlich ent¬
springen wird. Ein solches Verfahren ist geradezu eine Ironie auf die Rechts¬
pflege im Kriege; man kann nur bedauern, daß auf dem ganzen Eisenbahnzüge
kein Mensch die Geistesgegenwart hatte, den Kerl niederzuschießen. Übrigens ist
mir aus dem siebziger Kriege ein ähnlicher Fall in Erinnerung. Wahrend der
Kämpfe bei Metz zu Ende August erwischte eines Abends eine Patrouille einen
Leichenräuber bei der Arbeit, bezahlte ihn mit dem Bajonett und ließ ihn für tot
liegen, wahrscheinlich stellte er sich tot. Am nächsten Tage kam eine andre Pa¬
trouille, sah den noch lebenden Verwundeten und transportierte ihn ohne Kenntnis
des Sachverhalts nach Ars in das dortige Etappenlnzarett. Dort wurde er ent¬
kleidet, um verbunden zu werden. Bei dieser Gelegenheit fand man in seinen
Taschen Uhren, Ringe, ja sogar Finger, die um der Ringe willen abgeschnitten
worden waren. Er wurde verhört und fortan als Arrestant behandelt, d. h. ein
Landwehrmann mit scharf geladnem Gewehr stand Tag und Nacht bei ihm Posten.
Das wäre soweit ganz gut gewesen, wenn dieser Posten nicht aller zwei Stunden
hätte abgelöst werden müssen. Die Ablösung klopfte Nachts regelmäßig mit mächtigen
Kolbenschlägen an die Tür des großen Fabriksaales, der als Lazarett diente, zur
Abwechslung auch noch die Route, und so geschah es, daß die Nachtruhe von
etwa zweihundert Verwundeten, darunter vielen recht schwer Verwundeten, tagelang
um dieses Lumpen willen gestört wurde! Obendrein hatte sich noch herausgestellt,
daß er früher preußischer Feldwebel und wegen grober Schwindeleien vor Jahren
aus Saarlouis desertiert war. Er sprach geläufig französisch und wandte sich
wiederholt an die im Lazarett zahlreich anwesenden verwundeten Franzosen, die sich
aber mit dem größten Abscheu von ihm abwandten und ihrem Erstaunen über die
Umstände, die die Preußen mit solchem Schurken machten, lebhaft Ausdruck gaben.
Nach drei oder vier Tagen kam der Befehl, nicht etwa ihn standrechtlich abzu¬
urteilen, sondern -- nach Koblenz abzuführen! Begreifs, wer kann. An dem
Morgen, wo er abgeführt werden sollte, erklärte er, keine Stiefel anziehn zu können;
es wurden vier, fünf Paare gebracht, anstatt daß man ihn barfuß laufen ließ, alle
waren ihm angeblich zu eng. Endlich riß denn auch der biedern Wachmannschaft,
sechzehner Landwehr, die Geduld: vier Mann zogen ihm die Stiefel an, der fünfte
half mit dem Gewehrkolben nach, und uuter lauten Verwünschungen der Lazarett¬
insassen, deren Unwille schon einen sehr hohen Grad erreicht hatte, wurde er im
Geschwindschritt, den Kolben im Rücken, abgeführt. Ob er nicht etwa auch erst
zur Beobachtung seines Geisteszustandes in eine Irrenanstalt gebracht worden ist,
*§* vermag ich nicht zu sagen.




Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Karl Marquart in Leipzig

^Äuskapelle 6er Sektkellerei Xupferder^, Nain?


Maßgebliches und Unmaßgebliches

deutscher Steuerzahler nach Hamburg gefahren, um — wiederum auf Kosten
dieser — in einer Irrenanstalt untersucht zu werden, aus der er vermutlich ent¬
springen wird. Ein solches Verfahren ist geradezu eine Ironie auf die Rechts¬
pflege im Kriege; man kann nur bedauern, daß auf dem ganzen Eisenbahnzüge
kein Mensch die Geistesgegenwart hatte, den Kerl niederzuschießen. Übrigens ist
mir aus dem siebziger Kriege ein ähnlicher Fall in Erinnerung. Wahrend der
Kämpfe bei Metz zu Ende August erwischte eines Abends eine Patrouille einen
Leichenräuber bei der Arbeit, bezahlte ihn mit dem Bajonett und ließ ihn für tot
liegen, wahrscheinlich stellte er sich tot. Am nächsten Tage kam eine andre Pa¬
trouille, sah den noch lebenden Verwundeten und transportierte ihn ohne Kenntnis
des Sachverhalts nach Ars in das dortige Etappenlnzarett. Dort wurde er ent¬
kleidet, um verbunden zu werden. Bei dieser Gelegenheit fand man in seinen
Taschen Uhren, Ringe, ja sogar Finger, die um der Ringe willen abgeschnitten
worden waren. Er wurde verhört und fortan als Arrestant behandelt, d. h. ein
Landwehrmann mit scharf geladnem Gewehr stand Tag und Nacht bei ihm Posten.
Das wäre soweit ganz gut gewesen, wenn dieser Posten nicht aller zwei Stunden
hätte abgelöst werden müssen. Die Ablösung klopfte Nachts regelmäßig mit mächtigen
Kolbenschlägen an die Tür des großen Fabriksaales, der als Lazarett diente, zur
Abwechslung auch noch die Route, und so geschah es, daß die Nachtruhe von
etwa zweihundert Verwundeten, darunter vielen recht schwer Verwundeten, tagelang
um dieses Lumpen willen gestört wurde! Obendrein hatte sich noch herausgestellt,
daß er früher preußischer Feldwebel und wegen grober Schwindeleien vor Jahren
aus Saarlouis desertiert war. Er sprach geläufig französisch und wandte sich
wiederholt an die im Lazarett zahlreich anwesenden verwundeten Franzosen, die sich
aber mit dem größten Abscheu von ihm abwandten und ihrem Erstaunen über die
Umstände, die die Preußen mit solchem Schurken machten, lebhaft Ausdruck gaben.
Nach drei oder vier Tagen kam der Befehl, nicht etwa ihn standrechtlich abzu¬
urteilen, sondern — nach Koblenz abzuführen! Begreifs, wer kann. An dem
Morgen, wo er abgeführt werden sollte, erklärte er, keine Stiefel anziehn zu können;
es wurden vier, fünf Paare gebracht, anstatt daß man ihn barfuß laufen ließ, alle
waren ihm angeblich zu eng. Endlich riß denn auch der biedern Wachmannschaft,
sechzehner Landwehr, die Geduld: vier Mann zogen ihm die Stiefel an, der fünfte
half mit dem Gewehrkolben nach, und uuter lauten Verwünschungen der Lazarett¬
insassen, deren Unwille schon einen sehr hohen Grad erreicht hatte, wurde er im
Geschwindschritt, den Kolben im Rücken, abgeführt. Ob er nicht etwa auch erst
zur Beobachtung seines Geisteszustandes in eine Irrenanstalt gebracht worden ist,
*§* vermag ich nicht zu sagen.




Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig

^Äuskapelle 6er Sektkellerei Xupferder^, Nain?


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[0126] Maßgebliches und Unmaßgebliches deutscher Steuerzahler nach Hamburg gefahren, um — wiederum auf Kosten dieser — in einer Irrenanstalt untersucht zu werden, aus der er vermutlich ent¬ springen wird. Ein solches Verfahren ist geradezu eine Ironie auf die Rechts¬ pflege im Kriege; man kann nur bedauern, daß auf dem ganzen Eisenbahnzüge kein Mensch die Geistesgegenwart hatte, den Kerl niederzuschießen. Übrigens ist mir aus dem siebziger Kriege ein ähnlicher Fall in Erinnerung. Wahrend der Kämpfe bei Metz zu Ende August erwischte eines Abends eine Patrouille einen Leichenräuber bei der Arbeit, bezahlte ihn mit dem Bajonett und ließ ihn für tot liegen, wahrscheinlich stellte er sich tot. Am nächsten Tage kam eine andre Pa¬ trouille, sah den noch lebenden Verwundeten und transportierte ihn ohne Kenntnis des Sachverhalts nach Ars in das dortige Etappenlnzarett. Dort wurde er ent¬ kleidet, um verbunden zu werden. Bei dieser Gelegenheit fand man in seinen Taschen Uhren, Ringe, ja sogar Finger, die um der Ringe willen abgeschnitten worden waren. Er wurde verhört und fortan als Arrestant behandelt, d. h. ein Landwehrmann mit scharf geladnem Gewehr stand Tag und Nacht bei ihm Posten. Das wäre soweit ganz gut gewesen, wenn dieser Posten nicht aller zwei Stunden hätte abgelöst werden müssen. Die Ablösung klopfte Nachts regelmäßig mit mächtigen Kolbenschlägen an die Tür des großen Fabriksaales, der als Lazarett diente, zur Abwechslung auch noch die Route, und so geschah es, daß die Nachtruhe von etwa zweihundert Verwundeten, darunter vielen recht schwer Verwundeten, tagelang um dieses Lumpen willen gestört wurde! Obendrein hatte sich noch herausgestellt, daß er früher preußischer Feldwebel und wegen grober Schwindeleien vor Jahren aus Saarlouis desertiert war. Er sprach geläufig französisch und wandte sich wiederholt an die im Lazarett zahlreich anwesenden verwundeten Franzosen, die sich aber mit dem größten Abscheu von ihm abwandten und ihrem Erstaunen über die Umstände, die die Preußen mit solchem Schurken machten, lebhaft Ausdruck gaben. Nach drei oder vier Tagen kam der Befehl, nicht etwa ihn standrechtlich abzu¬ urteilen, sondern — nach Koblenz abzuführen! Begreifs, wer kann. An dem Morgen, wo er abgeführt werden sollte, erklärte er, keine Stiefel anziehn zu können; es wurden vier, fünf Paare gebracht, anstatt daß man ihn barfuß laufen ließ, alle waren ihm angeblich zu eng. Endlich riß denn auch der biedern Wachmannschaft, sechzehner Landwehr, die Geduld: vier Mann zogen ihm die Stiefel an, der fünfte half mit dem Gewehrkolben nach, und uuter lauten Verwünschungen der Lazarett¬ insassen, deren Unwille schon einen sehr hohen Grad erreicht hatte, wurde er im Geschwindschritt, den Kolben im Rücken, abgeführt. Ob er nicht etwa auch erst zur Beobachtung seines Geisteszustandes in eine Irrenanstalt gebracht worden ist, *§* vermag ich nicht zu sagen. Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig ^Äuskapelle 6er Sektkellerei Xupferder^, Nain?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/126>, abgerufen am 23.07.2024.