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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksinseln und Träume

von der heiligen Katharina von Siena: sie sah künftige Ereignisse voraus und
hatte die Kenntnis der Herzen. Als der grausame Domitian den heiligen Johannes
in einen Kessel siedenden Öls werfen ließ, freute sich dieser seiner Qualen und
stieg neu erfrischt aus der Glut hervor; das Wunder geschah vor dein lateinischen
Tore, und Johannes heißt mit Bezug auf das Wunder "von der ladinischen
Pforte." Das alles prägte sich mir tief ein, Zweifel kamen mir dabei gar nicht in
den Sinn, und ich wundre mich uicht über dieses "Mitglcmben," da wir doch so
viel andres leichtgläubig hinnahmen, was viel weniger groß und imposant war. Ich
erinnere mich einer Unterredung in meinem protestantischen Familienkreis, wo der
Legendenglaube getadelt wurde; zwar drang ich mit meiner Ansicht nicht durch,
daß es schön sei, zu glauben, daß der heilige Thomas von Aguin, einer der
größten Weisen aller Zeit, Unbekannten, die ihn angingen, aus reiner Demut ihre
Lasten getragen habe, oder daß Gregor der Große aus Bescheidenheit aus Rom
geflohen sei, um der Papstwürde zu entgehn, oder daß der heilige Jro ein Buch
zum Kopfkissen nahm, um immer wachbereit zu bleiben. Aber im stillen hing ich so
gläubig wie irgend ein Katholik an diesen Wundergeschichten und dachte oft und lange
über die Sentenzen nach, die darin vorkamen, zum Beispiel: Wer Gott für sich hat,
verwirkt nichts. Wenn ich mir überlege, was mir bis zum heutigen Tage die Freude
an den Legenden frisch erhalten hat, so ist es die anziehende Mischung von leicht
glaubbaren und deutlichen Geschehnissen des Alltaglcbens mit wunderbaren großen
Kundgebuuge" der unbegreiflichen Mächte des Himmels. Es gibt Begebenheiten,
in denen sich die ganze Welt zu offenbaren scheint. Und diese gehören dazu.

Von dem, was das Leben wirklich ausmacht, wußte ich aber damals so wenig,
daß ich nur im Rückblick auf jene Zeit wie einer vorkam, der am Strome hingeht,
in den andre untertauche". Dagegen fühlte ich mich im Leben der Natur immer
heimischer. Da schwamm ich immer weiter hinaus. Kaum verging eine Woche, daß
ich nicht eine neue Entdeckung machte. Ich meine damit weniger den Nachweis
neuer Standorte von Pflanzen und dergleichen, auf die man oft noch in spätern
Jahren stolz ist, als etwa den ersten Blick ans die Stelle, wo ein etwas rascherer
Bach, auf dessen Boden weiße Kiesel wie unter Glas lagen, in ein breiteres
Flüßchen mündete, dessen sumpfige Ufer dicht von Pfeilkraut und Kalmus umstanden
waren. Sie blieb mir geheimnisvoll und unbeschreiblich interessant vom ersten Er¬
blicken an und ist es durch meine ganze Jugend geblieben. Der Bach kam aus
einem Walde, der sich weit hinzog, und der mir, da ich ihn damals nie betreten hatte,
der Jubegriff vou Öde, Einsamkeit, Wildheit war. Als ich ihn nun zum erstenmal
betrat, sah ich gleich am Rande eine hohe Epipaktis, die stolze braunrot blühende
Orchidee im Schatten alter Buchen stehn. Warum auch dieses Bild mich so ergriff,
daß es noch heute klar in meiner Erinnerung steht, weiß ich nicht. Doch verstand
ich von da an das Geheimnis der blauen Blume vom Grunde aus. Wanderte ich
mich solchen reichen Stunden mit gefüllter Pflanzenkapsel heimwärts, mit Vorliebe
auf einsamen Wiesenwegen, und alles ruhte bis auf die weißen Wolken, die, un¬
unterbrochen sich verwandelnd, über mir anzogen, so wäre ich ganz glücklich ge¬
wesen, wenn nicht der Hochmut, sich so allein freuen, so "selbst sein" zu können, sich
geregt, eitle Gedanken geweckt hätte, die ich zurückdrängen mußte.

Dinge, die das Gemüt eingehn, besprach man bei uns zuhause nicht, Gefühle
hatten in den gewöhnlichen Zeiten keine Worte. Es erinnerte mich an den tiefen
Brunnen eines hochgelegnen Dorfes über der Tauber, an dem ich an einem Gluttage
vorbeikam, ich ging mit Leuten, die Kübel und Kannen trugen, den rauhen Weg
hinauf. Warum schöpft ihr nicht Wasser ans dein Brunnen? Sie antworteten: Aus
dem darf mir geschöpft werden, wenn die Not groß ist, Ihr seht, daß er verschlossen
ist. Ich erinnere mich, daß mich sehr oft der Wunsch tief innerlich bewegte, meinen
Eltern etwas Liebes zu sage". Aber über den Neujahrswuusch und den Wunsch
zum Geburtstage hinaus gab es nichts. Dieses Bedürfnis nahm sonderbare Ge¬
statte" an. Wir durften unsre Eltern mit Du anreden, wir hörten aber die Anrede


Glücksinseln und Träume

von der heiligen Katharina von Siena: sie sah künftige Ereignisse voraus und
hatte die Kenntnis der Herzen. Als der grausame Domitian den heiligen Johannes
in einen Kessel siedenden Öls werfen ließ, freute sich dieser seiner Qualen und
stieg neu erfrischt aus der Glut hervor; das Wunder geschah vor dein lateinischen
Tore, und Johannes heißt mit Bezug auf das Wunder „von der ladinischen
Pforte." Das alles prägte sich mir tief ein, Zweifel kamen mir dabei gar nicht in
den Sinn, und ich wundre mich uicht über dieses „Mitglcmben," da wir doch so
viel andres leichtgläubig hinnahmen, was viel weniger groß und imposant war. Ich
erinnere mich einer Unterredung in meinem protestantischen Familienkreis, wo der
Legendenglaube getadelt wurde; zwar drang ich mit meiner Ansicht nicht durch,
daß es schön sei, zu glauben, daß der heilige Thomas von Aguin, einer der
größten Weisen aller Zeit, Unbekannten, die ihn angingen, aus reiner Demut ihre
Lasten getragen habe, oder daß Gregor der Große aus Bescheidenheit aus Rom
geflohen sei, um der Papstwürde zu entgehn, oder daß der heilige Jro ein Buch
zum Kopfkissen nahm, um immer wachbereit zu bleiben. Aber im stillen hing ich so
gläubig wie irgend ein Katholik an diesen Wundergeschichten und dachte oft und lange
über die Sentenzen nach, die darin vorkamen, zum Beispiel: Wer Gott für sich hat,
verwirkt nichts. Wenn ich mir überlege, was mir bis zum heutigen Tage die Freude
an den Legenden frisch erhalten hat, so ist es die anziehende Mischung von leicht
glaubbaren und deutlichen Geschehnissen des Alltaglcbens mit wunderbaren großen
Kundgebuuge» der unbegreiflichen Mächte des Himmels. Es gibt Begebenheiten,
in denen sich die ganze Welt zu offenbaren scheint. Und diese gehören dazu.

Von dem, was das Leben wirklich ausmacht, wußte ich aber damals so wenig,
daß ich nur im Rückblick auf jene Zeit wie einer vorkam, der am Strome hingeht,
in den andre untertauche». Dagegen fühlte ich mich im Leben der Natur immer
heimischer. Da schwamm ich immer weiter hinaus. Kaum verging eine Woche, daß
ich nicht eine neue Entdeckung machte. Ich meine damit weniger den Nachweis
neuer Standorte von Pflanzen und dergleichen, auf die man oft noch in spätern
Jahren stolz ist, als etwa den ersten Blick ans die Stelle, wo ein etwas rascherer
Bach, auf dessen Boden weiße Kiesel wie unter Glas lagen, in ein breiteres
Flüßchen mündete, dessen sumpfige Ufer dicht von Pfeilkraut und Kalmus umstanden
waren. Sie blieb mir geheimnisvoll und unbeschreiblich interessant vom ersten Er¬
blicken an und ist es durch meine ganze Jugend geblieben. Der Bach kam aus
einem Walde, der sich weit hinzog, und der mir, da ich ihn damals nie betreten hatte,
der Jubegriff vou Öde, Einsamkeit, Wildheit war. Als ich ihn nun zum erstenmal
betrat, sah ich gleich am Rande eine hohe Epipaktis, die stolze braunrot blühende
Orchidee im Schatten alter Buchen stehn. Warum auch dieses Bild mich so ergriff,
daß es noch heute klar in meiner Erinnerung steht, weiß ich nicht. Doch verstand
ich von da an das Geheimnis der blauen Blume vom Grunde aus. Wanderte ich
mich solchen reichen Stunden mit gefüllter Pflanzenkapsel heimwärts, mit Vorliebe
auf einsamen Wiesenwegen, und alles ruhte bis auf die weißen Wolken, die, un¬
unterbrochen sich verwandelnd, über mir anzogen, so wäre ich ganz glücklich ge¬
wesen, wenn nicht der Hochmut, sich so allein freuen, so „selbst sein" zu können, sich
geregt, eitle Gedanken geweckt hätte, die ich zurückdrängen mußte.

Dinge, die das Gemüt eingehn, besprach man bei uns zuhause nicht, Gefühle
hatten in den gewöhnlichen Zeiten keine Worte. Es erinnerte mich an den tiefen
Brunnen eines hochgelegnen Dorfes über der Tauber, an dem ich an einem Gluttage
vorbeikam, ich ging mit Leuten, die Kübel und Kannen trugen, den rauhen Weg
hinauf. Warum schöpft ihr nicht Wasser ans dein Brunnen? Sie antworteten: Aus
dem darf mir geschöpft werden, wenn die Not groß ist, Ihr seht, daß er verschlossen
ist. Ich erinnere mich, daß mich sehr oft der Wunsch tief innerlich bewegte, meinen
Eltern etwas Liebes zu sage». Aber über den Neujahrswuusch und den Wunsch
zum Geburtstage hinaus gab es nichts. Dieses Bedürfnis nahm sonderbare Ge¬
statte» an. Wir durften unsre Eltern mit Du anreden, wir hörten aber die Anrede


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[0111] Glücksinseln und Träume von der heiligen Katharina von Siena: sie sah künftige Ereignisse voraus und hatte die Kenntnis der Herzen. Als der grausame Domitian den heiligen Johannes in einen Kessel siedenden Öls werfen ließ, freute sich dieser seiner Qualen und stieg neu erfrischt aus der Glut hervor; das Wunder geschah vor dein lateinischen Tore, und Johannes heißt mit Bezug auf das Wunder „von der ladinischen Pforte." Das alles prägte sich mir tief ein, Zweifel kamen mir dabei gar nicht in den Sinn, und ich wundre mich uicht über dieses „Mitglcmben," da wir doch so viel andres leichtgläubig hinnahmen, was viel weniger groß und imposant war. Ich erinnere mich einer Unterredung in meinem protestantischen Familienkreis, wo der Legendenglaube getadelt wurde; zwar drang ich mit meiner Ansicht nicht durch, daß es schön sei, zu glauben, daß der heilige Thomas von Aguin, einer der größten Weisen aller Zeit, Unbekannten, die ihn angingen, aus reiner Demut ihre Lasten getragen habe, oder daß Gregor der Große aus Bescheidenheit aus Rom geflohen sei, um der Papstwürde zu entgehn, oder daß der heilige Jro ein Buch zum Kopfkissen nahm, um immer wachbereit zu bleiben. Aber im stillen hing ich so gläubig wie irgend ein Katholik an diesen Wundergeschichten und dachte oft und lange über die Sentenzen nach, die darin vorkamen, zum Beispiel: Wer Gott für sich hat, verwirkt nichts. Wenn ich mir überlege, was mir bis zum heutigen Tage die Freude an den Legenden frisch erhalten hat, so ist es die anziehende Mischung von leicht glaubbaren und deutlichen Geschehnissen des Alltaglcbens mit wunderbaren großen Kundgebuuge» der unbegreiflichen Mächte des Himmels. Es gibt Begebenheiten, in denen sich die ganze Welt zu offenbaren scheint. Und diese gehören dazu. Von dem, was das Leben wirklich ausmacht, wußte ich aber damals so wenig, daß ich nur im Rückblick auf jene Zeit wie einer vorkam, der am Strome hingeht, in den andre untertauche». Dagegen fühlte ich mich im Leben der Natur immer heimischer. Da schwamm ich immer weiter hinaus. Kaum verging eine Woche, daß ich nicht eine neue Entdeckung machte. Ich meine damit weniger den Nachweis neuer Standorte von Pflanzen und dergleichen, auf die man oft noch in spätern Jahren stolz ist, als etwa den ersten Blick ans die Stelle, wo ein etwas rascherer Bach, auf dessen Boden weiße Kiesel wie unter Glas lagen, in ein breiteres Flüßchen mündete, dessen sumpfige Ufer dicht von Pfeilkraut und Kalmus umstanden waren. Sie blieb mir geheimnisvoll und unbeschreiblich interessant vom ersten Er¬ blicken an und ist es durch meine ganze Jugend geblieben. Der Bach kam aus einem Walde, der sich weit hinzog, und der mir, da ich ihn damals nie betreten hatte, der Jubegriff vou Öde, Einsamkeit, Wildheit war. Als ich ihn nun zum erstenmal betrat, sah ich gleich am Rande eine hohe Epipaktis, die stolze braunrot blühende Orchidee im Schatten alter Buchen stehn. Warum auch dieses Bild mich so ergriff, daß es noch heute klar in meiner Erinnerung steht, weiß ich nicht. Doch verstand ich von da an das Geheimnis der blauen Blume vom Grunde aus. Wanderte ich mich solchen reichen Stunden mit gefüllter Pflanzenkapsel heimwärts, mit Vorliebe auf einsamen Wiesenwegen, und alles ruhte bis auf die weißen Wolken, die, un¬ unterbrochen sich verwandelnd, über mir anzogen, so wäre ich ganz glücklich ge¬ wesen, wenn nicht der Hochmut, sich so allein freuen, so „selbst sein" zu können, sich geregt, eitle Gedanken geweckt hätte, die ich zurückdrängen mußte. Dinge, die das Gemüt eingehn, besprach man bei uns zuhause nicht, Gefühle hatten in den gewöhnlichen Zeiten keine Worte. Es erinnerte mich an den tiefen Brunnen eines hochgelegnen Dorfes über der Tauber, an dem ich an einem Gluttage vorbeikam, ich ging mit Leuten, die Kübel und Kannen trugen, den rauhen Weg hinauf. Warum schöpft ihr nicht Wasser ans dein Brunnen? Sie antworteten: Aus dem darf mir geschöpft werden, wenn die Not groß ist, Ihr seht, daß er verschlossen ist. Ich erinnere mich, daß mich sehr oft der Wunsch tief innerlich bewegte, meinen Eltern etwas Liebes zu sage». Aber über den Neujahrswuusch und den Wunsch zum Geburtstage hinaus gab es nichts. Dieses Bedürfnis nahm sonderbare Ge¬ statte» an. Wir durften unsre Eltern mit Du anreden, wir hörten aber die Anrede

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/111>, abgerufen am 23.07.2024.