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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Gliicksinseln und Träume

sahen die Kinder unermüdlich halbe Tage zu, wie beim Graben eins Brunnens
Kübel um Kübel voll Erde und Sand heraufgewunden wurden. Nie ein Karfunkel¬
stein! Nie ein kleines Tier, das mit leuchtenden Augen auf Goldhaufen lag und
wachte!

Eines Tages vertraute mir ein Kamerad, der von ebensogroßer Sammel¬
leidenschaft ergriffen war, daß neben einer Hintertür des Naturalienkabinetts ein
Haufen Steine vom höchsten Werte liege, die herrenlos zu sein schienen. Die
erste freie Stunde kramten wir in dem Gerümpel, und kein Märchenschatz kann
seine Finder höher beglückt haben. Nicht glaubend, daß man diese Abdrücke von
Kohleupflanzen, diese Fragmente oder schlechten Abdrücke von Clymenien, Nautilen,
Spyrüen und was sonst noch auf dem Haufen lag, ohne weiteres an sich nehmen
dürfe, holten wir uns die Erlaubnis, sie anzusehen, und waren außer uus vor
Freude, als uus gesagt wurde, wir sollten nehmen, was wir wollten. Wir füllten
unsre Taschen und trugen alles auf zweimal nach Hause, wo niemand über diese
schwerwiegende Bereicherung der Büchergestelle erfreut war. Das war der erste
Anfang des Sammelns mit wissenschaftlichem Zweck. Der war zuerst freilich nur
Nebenzweck, aber da wir nun öfters das Museum besuchten, wo viel mehr und
vollkommnere Exemplare aufgestellt waren, begann das Vergleichen und Beneuneu,
und unwillkürlich wurden wir in das Klassifizieren hineingeführt, das die Grund¬
lage aller weitern Fortschritte war. Es dauerte nicht lange, so machten wir auf
eigne Hand Entdeckungsexpeditionen in die Sandstein- und Muschelkalkbrüche der
Umgebung. Ich war kaum dem Knabenalter entwachsen, als ich die Fnnna des
Keupers und des Muschelkalks mit zwei ausgezeichneten Formen bereicherte.
Niemand, am wenigsten ich selbst, ließ sich damals träumen, daß damit ein Weg
betreten war, der mich viel später weit führen sollte, nachdem ich einige andre
schon gewandert war. Damals bewegte sich mein Sammeln und Ordnen noch
ganz im Spiel. Im besten Fall galt es als Liebhaberei.

Liebhabereien, sonderbares Wort! Oft bin ich dir in meinem Leben begegnet
und habe dir nicht nachgedacht. Als aus der Liebhaberei wissenschaftliche Arbeit
geworden war, kam es mir zum erstenmal in den Sinn, wie dn eigentlich gering¬
schätzig lauten möchtest und doch so manches Edles meinst. Wie manche Liebhaberei
ist das einzige, was ein Mensch auf dieser Welt lieb hat und lieb haben kann!

Man erzählte uus Sagen und Märchen, und sogar Andersens Märchen gehörten
zu meiner frühen Lektüre. Die Sage rankte sich aber bei uns Kindern lieber in
das junge Gebüsch der Gegenwart als um die alten Bäume der grauen Ver¬
gangenheit. Dort war der Gegensatz zwischen ihr und der Wirklichkeit größer,
die Wirkung war stärker, wo sie das Leben selbst zu bedrohen schien. Darum
lasen wir gleichgiltig in den Märchenbüchern, hörten aber mit Grauen von dem
kürzlich verstorbnen Bürgermeister von M., der Nachts ächzend einen Grenzstein,
den er zu Unrecht versetzt hatte, wieder an seine Stelle schleppte, und hörten mit
halb angenehmen Schauern den Boten Bender von Eichelberg erzählen, der Arzneien
in tiefer Nacht über den Berg zu deu Typhuskranken in Tiefenbach trug, wie ein
Schatten neben ihm gewandert sei, der jedesmal zusammengeschrumpft sei, wenn
Bender an Jesum dachte. In unsrer allernächsten Nachbarschaft hausten Geister,
die sich nach den zuversichtlich vorgetragnen Erfahrungen der ältern Spielgenossen
sogar in die Spiele einmischten. Ein beliebtes Spiel war Haschen in Verbindung
mit Verstecken, wobei der an sicherer Stelle angelangte an die Mauer schlug und
"Lupard" rief. Wir spielten es mit Vorliebe vor einer Gruppe von Felsgrotten,
die aus der romantischen Gartenkunst stammten und eigens für Knabenspiele gebaut
zu sein schien. "Wenn man immer Lupard ruft, kann kein Geist hier schlafen,"
sollte es dort einmal ans der Höhle zurückgerufen haben. Es fiel niemand auf,
daß dieser Ruf nicht ganz im Geisterstil gehalten war, vielmehr etwas alltäglich
klang. Eine Zeit lang unterließ man das Spiel. Als aber ein mutvoller Knabe
doppelt laut sein Lupard in die Höhle hineingernfen hatte und keine Geister-


Gliicksinseln und Träume

sahen die Kinder unermüdlich halbe Tage zu, wie beim Graben eins Brunnens
Kübel um Kübel voll Erde und Sand heraufgewunden wurden. Nie ein Karfunkel¬
stein! Nie ein kleines Tier, das mit leuchtenden Augen auf Goldhaufen lag und
wachte!

Eines Tages vertraute mir ein Kamerad, der von ebensogroßer Sammel¬
leidenschaft ergriffen war, daß neben einer Hintertür des Naturalienkabinetts ein
Haufen Steine vom höchsten Werte liege, die herrenlos zu sein schienen. Die
erste freie Stunde kramten wir in dem Gerümpel, und kein Märchenschatz kann
seine Finder höher beglückt haben. Nicht glaubend, daß man diese Abdrücke von
Kohleupflanzen, diese Fragmente oder schlechten Abdrücke von Clymenien, Nautilen,
Spyrüen und was sonst noch auf dem Haufen lag, ohne weiteres an sich nehmen
dürfe, holten wir uns die Erlaubnis, sie anzusehen, und waren außer uus vor
Freude, als uus gesagt wurde, wir sollten nehmen, was wir wollten. Wir füllten
unsre Taschen und trugen alles auf zweimal nach Hause, wo niemand über diese
schwerwiegende Bereicherung der Büchergestelle erfreut war. Das war der erste
Anfang des Sammelns mit wissenschaftlichem Zweck. Der war zuerst freilich nur
Nebenzweck, aber da wir nun öfters das Museum besuchten, wo viel mehr und
vollkommnere Exemplare aufgestellt waren, begann das Vergleichen und Beneuneu,
und unwillkürlich wurden wir in das Klassifizieren hineingeführt, das die Grund¬
lage aller weitern Fortschritte war. Es dauerte nicht lange, so machten wir auf
eigne Hand Entdeckungsexpeditionen in die Sandstein- und Muschelkalkbrüche der
Umgebung. Ich war kaum dem Knabenalter entwachsen, als ich die Fnnna des
Keupers und des Muschelkalks mit zwei ausgezeichneten Formen bereicherte.
Niemand, am wenigsten ich selbst, ließ sich damals träumen, daß damit ein Weg
betreten war, der mich viel später weit führen sollte, nachdem ich einige andre
schon gewandert war. Damals bewegte sich mein Sammeln und Ordnen noch
ganz im Spiel. Im besten Fall galt es als Liebhaberei.

Liebhabereien, sonderbares Wort! Oft bin ich dir in meinem Leben begegnet
und habe dir nicht nachgedacht. Als aus der Liebhaberei wissenschaftliche Arbeit
geworden war, kam es mir zum erstenmal in den Sinn, wie dn eigentlich gering¬
schätzig lauten möchtest und doch so manches Edles meinst. Wie manche Liebhaberei
ist das einzige, was ein Mensch auf dieser Welt lieb hat und lieb haben kann!

Man erzählte uus Sagen und Märchen, und sogar Andersens Märchen gehörten
zu meiner frühen Lektüre. Die Sage rankte sich aber bei uns Kindern lieber in
das junge Gebüsch der Gegenwart als um die alten Bäume der grauen Ver¬
gangenheit. Dort war der Gegensatz zwischen ihr und der Wirklichkeit größer,
die Wirkung war stärker, wo sie das Leben selbst zu bedrohen schien. Darum
lasen wir gleichgiltig in den Märchenbüchern, hörten aber mit Grauen von dem
kürzlich verstorbnen Bürgermeister von M., der Nachts ächzend einen Grenzstein,
den er zu Unrecht versetzt hatte, wieder an seine Stelle schleppte, und hörten mit
halb angenehmen Schauern den Boten Bender von Eichelberg erzählen, der Arzneien
in tiefer Nacht über den Berg zu deu Typhuskranken in Tiefenbach trug, wie ein
Schatten neben ihm gewandert sei, der jedesmal zusammengeschrumpft sei, wenn
Bender an Jesum dachte. In unsrer allernächsten Nachbarschaft hausten Geister,
die sich nach den zuversichtlich vorgetragnen Erfahrungen der ältern Spielgenossen
sogar in die Spiele einmischten. Ein beliebtes Spiel war Haschen in Verbindung
mit Verstecken, wobei der an sicherer Stelle angelangte an die Mauer schlug und
„Lupard" rief. Wir spielten es mit Vorliebe vor einer Gruppe von Felsgrotten,
die aus der romantischen Gartenkunst stammten und eigens für Knabenspiele gebaut
zu sein schien. „Wenn man immer Lupard ruft, kann kein Geist hier schlafen,"
sollte es dort einmal ans der Höhle zurückgerufen haben. Es fiel niemand auf,
daß dieser Ruf nicht ganz im Geisterstil gehalten war, vielmehr etwas alltäglich
klang. Eine Zeit lang unterließ man das Spiel. Als aber ein mutvoller Knabe
doppelt laut sein Lupard in die Höhle hineingernfen hatte und keine Geister-


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[0104] Gliicksinseln und Träume sahen die Kinder unermüdlich halbe Tage zu, wie beim Graben eins Brunnens Kübel um Kübel voll Erde und Sand heraufgewunden wurden. Nie ein Karfunkel¬ stein! Nie ein kleines Tier, das mit leuchtenden Augen auf Goldhaufen lag und wachte! Eines Tages vertraute mir ein Kamerad, der von ebensogroßer Sammel¬ leidenschaft ergriffen war, daß neben einer Hintertür des Naturalienkabinetts ein Haufen Steine vom höchsten Werte liege, die herrenlos zu sein schienen. Die erste freie Stunde kramten wir in dem Gerümpel, und kein Märchenschatz kann seine Finder höher beglückt haben. Nicht glaubend, daß man diese Abdrücke von Kohleupflanzen, diese Fragmente oder schlechten Abdrücke von Clymenien, Nautilen, Spyrüen und was sonst noch auf dem Haufen lag, ohne weiteres an sich nehmen dürfe, holten wir uns die Erlaubnis, sie anzusehen, und waren außer uus vor Freude, als uus gesagt wurde, wir sollten nehmen, was wir wollten. Wir füllten unsre Taschen und trugen alles auf zweimal nach Hause, wo niemand über diese schwerwiegende Bereicherung der Büchergestelle erfreut war. Das war der erste Anfang des Sammelns mit wissenschaftlichem Zweck. Der war zuerst freilich nur Nebenzweck, aber da wir nun öfters das Museum besuchten, wo viel mehr und vollkommnere Exemplare aufgestellt waren, begann das Vergleichen und Beneuneu, und unwillkürlich wurden wir in das Klassifizieren hineingeführt, das die Grund¬ lage aller weitern Fortschritte war. Es dauerte nicht lange, so machten wir auf eigne Hand Entdeckungsexpeditionen in die Sandstein- und Muschelkalkbrüche der Umgebung. Ich war kaum dem Knabenalter entwachsen, als ich die Fnnna des Keupers und des Muschelkalks mit zwei ausgezeichneten Formen bereicherte. Niemand, am wenigsten ich selbst, ließ sich damals träumen, daß damit ein Weg betreten war, der mich viel später weit führen sollte, nachdem ich einige andre schon gewandert war. Damals bewegte sich mein Sammeln und Ordnen noch ganz im Spiel. Im besten Fall galt es als Liebhaberei. Liebhabereien, sonderbares Wort! Oft bin ich dir in meinem Leben begegnet und habe dir nicht nachgedacht. Als aus der Liebhaberei wissenschaftliche Arbeit geworden war, kam es mir zum erstenmal in den Sinn, wie dn eigentlich gering¬ schätzig lauten möchtest und doch so manches Edles meinst. Wie manche Liebhaberei ist das einzige, was ein Mensch auf dieser Welt lieb hat und lieb haben kann! Man erzählte uus Sagen und Märchen, und sogar Andersens Märchen gehörten zu meiner frühen Lektüre. Die Sage rankte sich aber bei uns Kindern lieber in das junge Gebüsch der Gegenwart als um die alten Bäume der grauen Ver¬ gangenheit. Dort war der Gegensatz zwischen ihr und der Wirklichkeit größer, die Wirkung war stärker, wo sie das Leben selbst zu bedrohen schien. Darum lasen wir gleichgiltig in den Märchenbüchern, hörten aber mit Grauen von dem kürzlich verstorbnen Bürgermeister von M., der Nachts ächzend einen Grenzstein, den er zu Unrecht versetzt hatte, wieder an seine Stelle schleppte, und hörten mit halb angenehmen Schauern den Boten Bender von Eichelberg erzählen, der Arzneien in tiefer Nacht über den Berg zu deu Typhuskranken in Tiefenbach trug, wie ein Schatten neben ihm gewandert sei, der jedesmal zusammengeschrumpft sei, wenn Bender an Jesum dachte. In unsrer allernächsten Nachbarschaft hausten Geister, die sich nach den zuversichtlich vorgetragnen Erfahrungen der ältern Spielgenossen sogar in die Spiele einmischten. Ein beliebtes Spiel war Haschen in Verbindung mit Verstecken, wobei der an sicherer Stelle angelangte an die Mauer schlug und „Lupard" rief. Wir spielten es mit Vorliebe vor einer Gruppe von Felsgrotten, die aus der romantischen Gartenkunst stammten und eigens für Knabenspiele gebaut zu sein schien. „Wenn man immer Lupard ruft, kann kein Geist hier schlafen," sollte es dort einmal ans der Höhle zurückgerufen haben. Es fiel niemand auf, daß dieser Ruf nicht ganz im Geisterstil gehalten war, vielmehr etwas alltäglich klang. Eine Zeit lang unterließ man das Spiel. Als aber ein mutvoller Knabe doppelt laut sein Lupard in die Höhle hineingernfen hatte und keine Geister-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/104>, abgerufen am 29.09.2024.