Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.Kleriknlismus; die religiöse Strömung ist hier so stark, daß sie zu einer ge¬ Für die neun Zehntel des übrigen Frankreichs trifft es aber zu, daß mau Bei der französischen Frau der höhern Schichten ist der Gang zur Messe Kleriknlismus; die religiöse Strömung ist hier so stark, daß sie zu einer ge¬ Für die neun Zehntel des übrigen Frankreichs trifft es aber zu, daß mau Bei der französischen Frau der höhern Schichten ist der Gang zur Messe <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0750" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295167"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_3629" prev="#ID_3628"> Kleriknlismus; die religiöse Strömung ist hier so stark, daß sie zu einer ge¬<lb/> wissen national-separatistischen Bewegung geführt hat. Eine von Fanatikern<lb/> geleitete bretonische Presse hetzt zum Abfall von dem gotteslästerlichen, in<lb/> preußischem Solde stehenden Frankreich Combes, mit dem das reine Bretonen-<lb/> tnm nichts zu tun habe. Auch im Departement du Nord lebt die etwa<lb/> 150000 Seelen zählende „dietsch" sprechende flamändische Bevölkerung unter<lb/> priesterlichen Einflüssen in glaubensstarker Absonderung vou den gottlosen<lb/> „Franzosen." Das zähe Festhalten an bretonischer und „dietscher" Kirchen¬<lb/> sprache hat schon zu manchen Zusammenstößen mit der Regierung geführt.</p><lb/> <p xml:id="ID_3630"> Für die neun Zehntel des übrigen Frankreichs trifft es aber zu, daß mau<lb/> überwiegend bei deu Wahlen für einen Mann des Bloe stimmt und auch sonst<lb/> für die radikalsten Ideen schwärmt; die Abneigung gegen die Priester nimmt<lb/> oft die lächerlichsten Formen an, und man schwärmt für die Freimaurer, ohne<lb/> sie zu kennen, und nur um deu Herrn Cure zu ärgern. Drei Viertel aber<lb/> von denen, die im Kaffeehaus gegen die Kirche gewettert und gegen die<lb/> Pfaffen mit der Faust auf den Tisch geschlagen haben, finden sich Sonntags<lb/> zur Messe ein. Sie halten das für selbstverständlich, und kein Mensch wundert<lb/> sich über diese Inkonsequenz. Für den gebildeten Franzosen ist es ein pein¬<lb/> licher Gedanke, ohne priesterlichen Segen dereinst ins Grab gesenkt werden<lb/> zu sollen. Er erfüllt deshalb mit derselben pedantischen Genauigkeit seiue<lb/> kirchlichen Pflichten — nicht mehr und uicht weniger, als er Steuern zahlt<lb/> oder die vorschriftsmüßigen Anmeldungen ans der Polizei oder Mairie besorgt.<lb/> Auch der am freiesten denkende Franzose wird sich fast nie dazu entschließen,<lb/> seine Kinder uicht laufen zu lassen, und die Französin würde eine Ehe ohne<lb/> kirchliche Trauung für ungiltig halten. Der bekannte Sozialistenführcr und<lb/> Kirchenfcind Jaures hat seine Kinder mit Jordanwasscr laufen lassen, Waldeck-<lb/> Nousseau soll zwei Monate vor seinem Tode gebeichtet haben, und er, der<lb/> den ersten Hieb gegen Rom führte, duldete, daß seine Gattin in streng kirch¬<lb/> lichem Sinne mit den Blumen, die ihr der deutsche Kaiser zur Genesung ge¬<lb/> sandt hatte, ein Marienbild schmückte. Herr Combes, den die wahrhaften<lb/> Frommen für Beelzebub in eigner Person halten, hat bei der Trauerfeierlich-<lb/> keit für seinen Vorgänger sein Haupt geneigt und mit geweihtem Wasser das<lb/> Kreuzeszeichen gemacht, und mit ihm haben es fast sämtliche Minister getan.<lb/> Wir könnten diese Beispiele zu Tausenden vermehren. Diese Einhaltung kirch¬<lb/> licher Formeln bei sonst dem Christentum ganz abgewandtem Leben ist gewiß<lb/> kein Zeichen tiefen religiösen Empfindens, aber doch auch mehr als eine nur<lb/> durch Aberglauben oder nur aus Gewohnheit festgehaltne gesellschaftliche An-<lb/> standsregel.</p><lb/> <p xml:id="ID_3631" next="#ID_3632"> Bei der französischen Frau der höhern Schichten ist der Gang zur Messe<lb/> in einer der „mondainen" Kirchen ebenso selbstverständlich wie die Einhaltung<lb/> des ^our llxo und der Besuch einer Theaterpremiere. Im legitimistischen<lb/> Fnnbourg Se. Germain gehört der Katholizismus mit zum royalistischen<lb/> Dogma, und der Nationalismus ist kirchlich aus Opposition gegen die Re¬<lb/> gierung. Die freidenkerische Bewegung, die vor vier und vor fünf Jahren<lb/> einen neuen gewaltigen Anlauf nahm, ist heute schon wieder im Abflauen be-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0750]
Kleriknlismus; die religiöse Strömung ist hier so stark, daß sie zu einer ge¬
wissen national-separatistischen Bewegung geführt hat. Eine von Fanatikern
geleitete bretonische Presse hetzt zum Abfall von dem gotteslästerlichen, in
preußischem Solde stehenden Frankreich Combes, mit dem das reine Bretonen-
tnm nichts zu tun habe. Auch im Departement du Nord lebt die etwa
150000 Seelen zählende „dietsch" sprechende flamändische Bevölkerung unter
priesterlichen Einflüssen in glaubensstarker Absonderung vou den gottlosen
„Franzosen." Das zähe Festhalten an bretonischer und „dietscher" Kirchen¬
sprache hat schon zu manchen Zusammenstößen mit der Regierung geführt.
Für die neun Zehntel des übrigen Frankreichs trifft es aber zu, daß mau
überwiegend bei deu Wahlen für einen Mann des Bloe stimmt und auch sonst
für die radikalsten Ideen schwärmt; die Abneigung gegen die Priester nimmt
oft die lächerlichsten Formen an, und man schwärmt für die Freimaurer, ohne
sie zu kennen, und nur um deu Herrn Cure zu ärgern. Drei Viertel aber
von denen, die im Kaffeehaus gegen die Kirche gewettert und gegen die
Pfaffen mit der Faust auf den Tisch geschlagen haben, finden sich Sonntags
zur Messe ein. Sie halten das für selbstverständlich, und kein Mensch wundert
sich über diese Inkonsequenz. Für den gebildeten Franzosen ist es ein pein¬
licher Gedanke, ohne priesterlichen Segen dereinst ins Grab gesenkt werden
zu sollen. Er erfüllt deshalb mit derselben pedantischen Genauigkeit seiue
kirchlichen Pflichten — nicht mehr und uicht weniger, als er Steuern zahlt
oder die vorschriftsmüßigen Anmeldungen ans der Polizei oder Mairie besorgt.
Auch der am freiesten denkende Franzose wird sich fast nie dazu entschließen,
seine Kinder uicht laufen zu lassen, und die Französin würde eine Ehe ohne
kirchliche Trauung für ungiltig halten. Der bekannte Sozialistenführcr und
Kirchenfcind Jaures hat seine Kinder mit Jordanwasscr laufen lassen, Waldeck-
Nousseau soll zwei Monate vor seinem Tode gebeichtet haben, und er, der
den ersten Hieb gegen Rom führte, duldete, daß seine Gattin in streng kirch¬
lichem Sinne mit den Blumen, die ihr der deutsche Kaiser zur Genesung ge¬
sandt hatte, ein Marienbild schmückte. Herr Combes, den die wahrhaften
Frommen für Beelzebub in eigner Person halten, hat bei der Trauerfeierlich-
keit für seinen Vorgänger sein Haupt geneigt und mit geweihtem Wasser das
Kreuzeszeichen gemacht, und mit ihm haben es fast sämtliche Minister getan.
Wir könnten diese Beispiele zu Tausenden vermehren. Diese Einhaltung kirch¬
licher Formeln bei sonst dem Christentum ganz abgewandtem Leben ist gewiß
kein Zeichen tiefen religiösen Empfindens, aber doch auch mehr als eine nur
durch Aberglauben oder nur aus Gewohnheit festgehaltne gesellschaftliche An-
standsregel.
Bei der französischen Frau der höhern Schichten ist der Gang zur Messe
in einer der „mondainen" Kirchen ebenso selbstverständlich wie die Einhaltung
des ^our llxo und der Besuch einer Theaterpremiere. Im legitimistischen
Fnnbourg Se. Germain gehört der Katholizismus mit zum royalistischen
Dogma, und der Nationalismus ist kirchlich aus Opposition gegen die Re¬
gierung. Die freidenkerische Bewegung, die vor vier und vor fünf Jahren
einen neuen gewaltigen Anlauf nahm, ist heute schon wieder im Abflauen be-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |