Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.Massalu mustern wir die spärlichen Überbleibsel einer verschwundnen Kultur: manches Der Nebstock, den der Herr mit Wasser tränkt, Zehnmal derselbe Satz! Sollte man schon im griechischen Altertum die Massalu mustern wir die spärlichen Überbleibsel einer verschwundnen Kultur: manches Der Nebstock, den der Herr mit Wasser tränkt, Zehnmal derselbe Satz! Sollte man schon im griechischen Altertum die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0658" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295075"/> <fw type="header" place="top"> Massalu</fw><lb/> <p xml:id="ID_3005" prev="#ID_3004"> mustern wir die spärlichen Überbleibsel einer verschwundnen Kultur: manches<lb/> ist allerdings verschleppt wurden; so ist eine in Marseille gefundne Aphrodite<lb/> jetzt in Lyon. Dafür sind freilich aus andern Gegenden Funde ins Borclymnseum<lb/> gekommen, die wenigstens teilweise die Lücken ausfüllen. So können wir uns<lb/> eine lebhafte Vorstellung machen, wie es etwa zweihundert Jahre nach Mcissalias<lb/> Gründung auf seiner Begräbnisstätte aussah, wenn wir eine schöne attische Grab¬<lb/> stele betrachten. Ein Gatte nimmt Abschied von der vor ihm sitzenden Frau;<lb/> ihm zur Seite steht die Amme, die das Wickelkind an die Brust drückt und so<lb/> der scheidenden Mutter die stumme Versicherung gibt, daß sie das Kleine in<lb/> sorgender Liebe behüten wird. Kopf und rechte Hand der Amme fehlen, aber<lb/> die linke Hand genügt schon, die treue, tätige Dienerin zu kennzeichnen. Und<lb/> wie sprechend wirkt neben der knochigen, kräftigen Hand der Sklavin die kurze,<lb/> fleischige, feinfingrige der Herrin: eine Charakteristik, die an die berühmten<lb/> Hände auf Tizians Zinsgroschen erinnert. War dieser Grabstein auch einer<lb/> attischen Mutter gesetzt, mancher ähnliche mag um dieselbe Zeit Massalischen<lb/> Toten errichtet sein. Zahlreicher sind Massalische Denkmäler aus der Kaiserzeit,<lb/> das interessanteste für uns ist aber auch nicht einheimisch: es ist ein griechisches<lb/> Schülerschreibheft: vier Täfelchen aus Sykomorenholz; die mittlern Tafeln sind<lb/> auf beiden Seiten, die beiden Außendasein nur auf der Innenseite mit Wachs<lb/> überzogen. Der etwas vorspringende Rand zeigt die Löcher, durch die der<lb/> bindende Faden lief. Danach besteht das Schülerschreibheft also ans sechs<lb/> Seiten, die mit großen eckigen Buchstaben auf dem von der Zeit geschwärzten<lb/> Wachs angefüllt sind. Wir lesen und finden zehnmal denselben Satz:</p><lb/> <quote> Der Nebstock, den der Herr mit Wasser tränkt,<lb/> Er lohnt es doppelt ihm mit reinem Wein:<lb/> Sei fleißig!</quote><lb/> <p xml:id="ID_3006" next="#ID_3007"> Zehnmal derselbe Satz! Sollte man schon im griechischen Altertum die<lb/> bedenkliche Strafe des zehn- und des Hundertmaligen Abschreibens gekannt haben,<lb/> und sollte die Schlußmahnung vielleicht den Grund der Bestrafung andeuten,<lb/> die Faulheit? Glücklicherweise findet sich der Beweis, daß wir eine Schreib¬<lb/> übung vor uns haben. Wie bei unsern Abcschützen sind, und zwar mit der<lb/> Nadel, sorgfältig die beiden Linien gezogen, zwischen denen sich die Buchstabe»<lb/> zu halten haben. Diese, ungewöhnlich groß, eckig und steif, verraten deutlich<lb/> die unbeholfne Kinderhand. Dreimal hat der Lehrer sein „gut" dazugesetzt<lb/> und einmal statt eines eckigen einen abgerundeten Buchstaben daneben geschrieben-<lb/> Orthographische Fehler hat er nicht verbessert, vielleicht nicht bemerkt, vermutlich<lb/> kam es ihm nur auf die Schrift an. Wie unsre kleinen Schreibschüler hat auch<lb/> der griechische Knabe Namen, Jahr und Tag verzeichnet: so erfahren wir, daß<lb/> an einem Sonntag um das Jahr 300 n. Chr. dieses Heft geschrieben ist. Welchem<lb/> Umstände mag es seine Erhaltung verdanken? Es ist mit ihm zusammen noch<lb/> eine Holztafel gefunden worden, die im Schranke daneben steht; auf diese<lb/> sind von derselben Hand Buchstaben mit Tinte geschrieben: offenbar auch eine<lb/> Anfängcrleistung. So scheint es wahrscheinlich, daß ein zärtlicher Vater die<lb/> ersten Schreibnbnngen seines Kindes liebevoll aufgehoben und sie dann in<lb/> trauriger Resignation dein frühverstorbnen Träger schöner Hoffnungen mit ins</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0658]
Massalu
mustern wir die spärlichen Überbleibsel einer verschwundnen Kultur: manches
ist allerdings verschleppt wurden; so ist eine in Marseille gefundne Aphrodite
jetzt in Lyon. Dafür sind freilich aus andern Gegenden Funde ins Borclymnseum
gekommen, die wenigstens teilweise die Lücken ausfüllen. So können wir uns
eine lebhafte Vorstellung machen, wie es etwa zweihundert Jahre nach Mcissalias
Gründung auf seiner Begräbnisstätte aussah, wenn wir eine schöne attische Grab¬
stele betrachten. Ein Gatte nimmt Abschied von der vor ihm sitzenden Frau;
ihm zur Seite steht die Amme, die das Wickelkind an die Brust drückt und so
der scheidenden Mutter die stumme Versicherung gibt, daß sie das Kleine in
sorgender Liebe behüten wird. Kopf und rechte Hand der Amme fehlen, aber
die linke Hand genügt schon, die treue, tätige Dienerin zu kennzeichnen. Und
wie sprechend wirkt neben der knochigen, kräftigen Hand der Sklavin die kurze,
fleischige, feinfingrige der Herrin: eine Charakteristik, die an die berühmten
Hände auf Tizians Zinsgroschen erinnert. War dieser Grabstein auch einer
attischen Mutter gesetzt, mancher ähnliche mag um dieselbe Zeit Massalischen
Toten errichtet sein. Zahlreicher sind Massalische Denkmäler aus der Kaiserzeit,
das interessanteste für uns ist aber auch nicht einheimisch: es ist ein griechisches
Schülerschreibheft: vier Täfelchen aus Sykomorenholz; die mittlern Tafeln sind
auf beiden Seiten, die beiden Außendasein nur auf der Innenseite mit Wachs
überzogen. Der etwas vorspringende Rand zeigt die Löcher, durch die der
bindende Faden lief. Danach besteht das Schülerschreibheft also ans sechs
Seiten, die mit großen eckigen Buchstaben auf dem von der Zeit geschwärzten
Wachs angefüllt sind. Wir lesen und finden zehnmal denselben Satz:
Der Nebstock, den der Herr mit Wasser tränkt,
Er lohnt es doppelt ihm mit reinem Wein:
Sei fleißig!
Zehnmal derselbe Satz! Sollte man schon im griechischen Altertum die
bedenkliche Strafe des zehn- und des Hundertmaligen Abschreibens gekannt haben,
und sollte die Schlußmahnung vielleicht den Grund der Bestrafung andeuten,
die Faulheit? Glücklicherweise findet sich der Beweis, daß wir eine Schreib¬
übung vor uns haben. Wie bei unsern Abcschützen sind, und zwar mit der
Nadel, sorgfältig die beiden Linien gezogen, zwischen denen sich die Buchstabe»
zu halten haben. Diese, ungewöhnlich groß, eckig und steif, verraten deutlich
die unbeholfne Kinderhand. Dreimal hat der Lehrer sein „gut" dazugesetzt
und einmal statt eines eckigen einen abgerundeten Buchstaben daneben geschrieben-
Orthographische Fehler hat er nicht verbessert, vielleicht nicht bemerkt, vermutlich
kam es ihm nur auf die Schrift an. Wie unsre kleinen Schreibschüler hat auch
der griechische Knabe Namen, Jahr und Tag verzeichnet: so erfahren wir, daß
an einem Sonntag um das Jahr 300 n. Chr. dieses Heft geschrieben ist. Welchem
Umstände mag es seine Erhaltung verdanken? Es ist mit ihm zusammen noch
eine Holztafel gefunden worden, die im Schranke daneben steht; auf diese
sind von derselben Hand Buchstaben mit Tinte geschrieben: offenbar auch eine
Anfängcrleistung. So scheint es wahrscheinlich, daß ein zärtlicher Vater die
ersten Schreibnbnngen seines Kindes liebevoll aufgehoben und sie dann in
trauriger Resignation dein frühverstorbnen Träger schöner Hoffnungen mit ins
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