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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Vie Aamorra Neapels

"In Neapel gibt es nur zu sehr einen Überschuß von Elementen, die für
die öffentliche Sicherheit gefährlich sind. In der Tat haben wir dort Tausende
und Tausende von Menschen -- einige geben sogar die Zahl von Hundert¬
tausend an, obgleich mir das übertrieben zu sein scheint --, die ohne Dach und
ohne Brot sind und Abends nicht wissen, wo sie schlafen sollen.

Auf jeden Fall ist in dieser außergewöhnlich hohen Zahl ein guter Teil
der Neapolitaner Verbrecherwelt. Zudem strömen auch die schlechtesten Ele¬
mente aller der zahlreichen und bevölkerten Städte, die Neapel umsäumen, hier
zusammen, sodciß die Bandenbildung zum Begehen von Verbrechen nur gar zu
häufig ist, und alle diese Banden in die hohe und die niedre Kamorra einmünden,
besonders aber in die hohe Kamorra, die noch viel gefährlicher ist als die
niedre. Leider hat es die liberale Regierung in vierzig Jahren nicht fertig
bringen können, die Kamorra niederzukämpfen. Außerdem muß man aber auch
die topographische Konfiguration der Stadt im Auge behalten. Unzählbar find
die Gäßchen, die hö-ssi (d. h. die Erdgeschoßwohnungen von einem oder zwei
Zimmern), in denen eine ungeheure Bevölkerung zusammengedrängt wohnt, wo
wirklich der Hauptsitz des Elends und des Verbrechertums ist, wo hinein die
Sonne und leider auch oft die öffentlichen Sicherheitsbehörden nicht zu dringen
vermögen.

Endlich macht die Charaktcranlage des Volks selbst die Tätigkeit der
Sicherheitsbehörden zu einer schwierigen; denn während sie anderswo eine
willige und wirksame Unterstützung durch die Bürger finden, bewahrheitet sich
das leider in Neapel nicht immer. Wenn eine Untat vorkommt, so findet der
Täter oft Erleichterungen und Beihilfe zur Flucht.

Untersuchen wir jetzt die Mittel, über die die Regierung verfügen kann.
Das Korps der Kambinieri geht vollständig in seinem Sonderdienst auf und
kann nur fünf oder sechs feste Posten stellen, während die Staatspolizei in
Neapel satzungsgemäß über 1175 Mann verfügt. Zieht man die 63 Mann,
die an die Umgebung der Stadt und die Provinz abgetreten werden, ab, so
bleiben, nach Abzug von 200 Mann, die im Durchschnitt aus verschiednen
Gründen immer fehlen, noch ungefähr 900 übrig.

Von dieser Zahl muß man alle Mannschaften abziehn, die im Spezial-
dienste verwandt werden, sodciß täglich nur 469 Mann zur Verfügung stehn.
Wegen der Ablösung im Dienste kann man aber tatsächlich nur über ein
Drittel davon wirklich verfügen. Mit nur 156 Polizisten, die für den aktiven
Dienst frei sind, wird der Überwachungsdienst schwierig und wenig erfolgreich,
und der Dienst der Verhütung von Verbrechen für alle Punkte der aus¬
gedehnten Stadt wenig wirksam. Dazu kommt, daß man kein übermäßiges
Vertrauen auf die Mitarbeit der städtischen Polizisten haben kann, die bis
vor kurzem in einem Zustande großer Regellosigkeit waren und erst jetzt wieder
durch die rege Tätigkeit der gegenwärtigen Stadtverwaltung beginnen, sich
einigermaßen zu ordnen. Demgemäß ist es ein Gebot der Notwendigkeit, daß
der Dienst der festen Posten (an bestimmten Punkten) auf die Hauptstraßen
beschränkt wird, während die Beaufsichtigung der übrigen Straßen nur sprung¬
eise durch Patrouillen geschehn kann, wenn die außerordentlichen Anforde-


Vie Aamorra Neapels

„In Neapel gibt es nur zu sehr einen Überschuß von Elementen, die für
die öffentliche Sicherheit gefährlich sind. In der Tat haben wir dort Tausende
und Tausende von Menschen — einige geben sogar die Zahl von Hundert¬
tausend an, obgleich mir das übertrieben zu sein scheint —, die ohne Dach und
ohne Brot sind und Abends nicht wissen, wo sie schlafen sollen.

Auf jeden Fall ist in dieser außergewöhnlich hohen Zahl ein guter Teil
der Neapolitaner Verbrecherwelt. Zudem strömen auch die schlechtesten Ele¬
mente aller der zahlreichen und bevölkerten Städte, die Neapel umsäumen, hier
zusammen, sodciß die Bandenbildung zum Begehen von Verbrechen nur gar zu
häufig ist, und alle diese Banden in die hohe und die niedre Kamorra einmünden,
besonders aber in die hohe Kamorra, die noch viel gefährlicher ist als die
niedre. Leider hat es die liberale Regierung in vierzig Jahren nicht fertig
bringen können, die Kamorra niederzukämpfen. Außerdem muß man aber auch
die topographische Konfiguration der Stadt im Auge behalten. Unzählbar find
die Gäßchen, die hö-ssi (d. h. die Erdgeschoßwohnungen von einem oder zwei
Zimmern), in denen eine ungeheure Bevölkerung zusammengedrängt wohnt, wo
wirklich der Hauptsitz des Elends und des Verbrechertums ist, wo hinein die
Sonne und leider auch oft die öffentlichen Sicherheitsbehörden nicht zu dringen
vermögen.

Endlich macht die Charaktcranlage des Volks selbst die Tätigkeit der
Sicherheitsbehörden zu einer schwierigen; denn während sie anderswo eine
willige und wirksame Unterstützung durch die Bürger finden, bewahrheitet sich
das leider in Neapel nicht immer. Wenn eine Untat vorkommt, so findet der
Täter oft Erleichterungen und Beihilfe zur Flucht.

Untersuchen wir jetzt die Mittel, über die die Regierung verfügen kann.
Das Korps der Kambinieri geht vollständig in seinem Sonderdienst auf und
kann nur fünf oder sechs feste Posten stellen, während die Staatspolizei in
Neapel satzungsgemäß über 1175 Mann verfügt. Zieht man die 63 Mann,
die an die Umgebung der Stadt und die Provinz abgetreten werden, ab, so
bleiben, nach Abzug von 200 Mann, die im Durchschnitt aus verschiednen
Gründen immer fehlen, noch ungefähr 900 übrig.

Von dieser Zahl muß man alle Mannschaften abziehn, die im Spezial-
dienste verwandt werden, sodciß täglich nur 469 Mann zur Verfügung stehn.
Wegen der Ablösung im Dienste kann man aber tatsächlich nur über ein
Drittel davon wirklich verfügen. Mit nur 156 Polizisten, die für den aktiven
Dienst frei sind, wird der Überwachungsdienst schwierig und wenig erfolgreich,
und der Dienst der Verhütung von Verbrechen für alle Punkte der aus¬
gedehnten Stadt wenig wirksam. Dazu kommt, daß man kein übermäßiges
Vertrauen auf die Mitarbeit der städtischen Polizisten haben kann, die bis
vor kurzem in einem Zustande großer Regellosigkeit waren und erst jetzt wieder
durch die rege Tätigkeit der gegenwärtigen Stadtverwaltung beginnen, sich
einigermaßen zu ordnen. Demgemäß ist es ein Gebot der Notwendigkeit, daß
der Dienst der festen Posten (an bestimmten Punkten) auf die Hauptstraßen
beschränkt wird, während die Beaufsichtigung der übrigen Straßen nur sprung¬
eise durch Patrouillen geschehn kann, wenn die außerordentlichen Anforde-


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[0650] Vie Aamorra Neapels „In Neapel gibt es nur zu sehr einen Überschuß von Elementen, die für die öffentliche Sicherheit gefährlich sind. In der Tat haben wir dort Tausende und Tausende von Menschen — einige geben sogar die Zahl von Hundert¬ tausend an, obgleich mir das übertrieben zu sein scheint —, die ohne Dach und ohne Brot sind und Abends nicht wissen, wo sie schlafen sollen. Auf jeden Fall ist in dieser außergewöhnlich hohen Zahl ein guter Teil der Neapolitaner Verbrecherwelt. Zudem strömen auch die schlechtesten Ele¬ mente aller der zahlreichen und bevölkerten Städte, die Neapel umsäumen, hier zusammen, sodciß die Bandenbildung zum Begehen von Verbrechen nur gar zu häufig ist, und alle diese Banden in die hohe und die niedre Kamorra einmünden, besonders aber in die hohe Kamorra, die noch viel gefährlicher ist als die niedre. Leider hat es die liberale Regierung in vierzig Jahren nicht fertig bringen können, die Kamorra niederzukämpfen. Außerdem muß man aber auch die topographische Konfiguration der Stadt im Auge behalten. Unzählbar find die Gäßchen, die hö-ssi (d. h. die Erdgeschoßwohnungen von einem oder zwei Zimmern), in denen eine ungeheure Bevölkerung zusammengedrängt wohnt, wo wirklich der Hauptsitz des Elends und des Verbrechertums ist, wo hinein die Sonne und leider auch oft die öffentlichen Sicherheitsbehörden nicht zu dringen vermögen. Endlich macht die Charaktcranlage des Volks selbst die Tätigkeit der Sicherheitsbehörden zu einer schwierigen; denn während sie anderswo eine willige und wirksame Unterstützung durch die Bürger finden, bewahrheitet sich das leider in Neapel nicht immer. Wenn eine Untat vorkommt, so findet der Täter oft Erleichterungen und Beihilfe zur Flucht. Untersuchen wir jetzt die Mittel, über die die Regierung verfügen kann. Das Korps der Kambinieri geht vollständig in seinem Sonderdienst auf und kann nur fünf oder sechs feste Posten stellen, während die Staatspolizei in Neapel satzungsgemäß über 1175 Mann verfügt. Zieht man die 63 Mann, die an die Umgebung der Stadt und die Provinz abgetreten werden, ab, so bleiben, nach Abzug von 200 Mann, die im Durchschnitt aus verschiednen Gründen immer fehlen, noch ungefähr 900 übrig. Von dieser Zahl muß man alle Mannschaften abziehn, die im Spezial- dienste verwandt werden, sodciß täglich nur 469 Mann zur Verfügung stehn. Wegen der Ablösung im Dienste kann man aber tatsächlich nur über ein Drittel davon wirklich verfügen. Mit nur 156 Polizisten, die für den aktiven Dienst frei sind, wird der Überwachungsdienst schwierig und wenig erfolgreich, und der Dienst der Verhütung von Verbrechen für alle Punkte der aus¬ gedehnten Stadt wenig wirksam. Dazu kommt, daß man kein übermäßiges Vertrauen auf die Mitarbeit der städtischen Polizisten haben kann, die bis vor kurzem in einem Zustande großer Regellosigkeit waren und erst jetzt wieder durch die rege Tätigkeit der gegenwärtigen Stadtverwaltung beginnen, sich einigermaßen zu ordnen. Demgemäß ist es ein Gebot der Notwendigkeit, daß der Dienst der festen Posten (an bestimmten Punkten) auf die Hauptstraßen beschränkt wird, während die Beaufsichtigung der übrigen Straßen nur sprung¬ eise durch Patrouillen geschehn kann, wenn die außerordentlichen Anforde-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/650>, abgerufen am 23.07.2024.