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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Die Kamorra Neapels

die Gegner die Hände, umarmen und küssen sich, und das Ganze endigt in
einer machen Osteria. Kann man zu keinem Einverständnis kommen, so greift
man bei schweren Beleidigungen zum Revolver, bei leichtern zum Messer, es
gibt also eine sxaratg, oder eine numMs. Eine Flut von widerwärtigen Schimpf¬
worten geht dem Beginne des Ehrenhandels voraus, dann gibt man beiden die
Revolver in die Hand, und sogleich geht die Knallerei los, ohne Rücksicht
darauf, wer sonst wohl den ersten Schuß hätte. Beim Schießen sind sie die
Beweglichkeit selber, springen, ducken sich, laufen vorwärts und rückwärts usw.,
und sie hören nicht eher auf, bis einer wirklich kampfunfähig geworden ist.
Beim Messerkampfe gebraucht jeder sein eignes Messer, gleichgiltig, ob es in
Form und Länge verschieden ist von dem des Gegners. Der älteste der an¬
wesenden Kamorristen, oaxuotioo genannt, gibt das Zeichen zum Beginn des
Kampfes. Währenddessen beschimpfen sich die Anhänger der beiden Gegner in
der unglaublichsten Weise, und sehr oft geraten auch sie sich in die Haare, und
dann geht eine Messerstecherei los, in der einfach blindlings dreingchauen wird,
gleichgiltig, ob Freunde oder Verwandte vor die Klinge kommen oder nicht.
Das Ende vom Liede ist dann entweder das Eingreifen der Polizei, oder aber
es bleiben schließlich Tote und Schwerverwundete auf dem Platze, während sich
die Unverletzten und die Leichtverwundeten aus dem Staube macheu. Unterwegs
benachrichtigen sie einige Bauern, daß dort Verwundete liegen, und tragen ihnen
im Namen der Kamorra auf, sie ins Hospital zu schaffen, wo dann keiner der
Verwundeten den andern kennen will- Jeder erzählt seine eigne, freierfundne
Geschichte, wie er zu seiner Verwundung gekommen sein will, ohne daß der
wachthabende Polizist ein Wort davon glaubt. Aber in den meisten Fällen ge¬
lingt es nicht, den Zusammenhang aufzudecken, und die Messerhelden müssen
nach ihrer Heilung straflos entlassen werden.




In der vorstehenden Darstellung habe ich nur die wichtigsten Punkte in
der Organisation dieser Verbrechergesellschaft hervorgehoben und mich dabei in
der Hauptsache an die äußerst bemerkenswerten Aufsätze gehalten, die in den
Wissenschaftlicher Zeitschriften ?iidunÄ SwcMariii. und ^.ronivio <U ?siotiiÄtiiii.
Kei ^.vtroxolosm vriminalö erschienen sind. Die engen Beziehungen der
Kamorra zur Prostitution, eines der traurigsten Kapitel in dieser Sache, habe
ich dabei ganz außer acht gelassen, was wohl dem Charakter dieser Zeitschrift
entsprechen wird.

Da sich aber mancher Leser vielleicht denken könnte, daß es früher so
gewesen sei, wie ich geschildert habe, und daß es heute solche Dinge nur noch
in den Gesängen der Cantastorie oder Bänkelsänger gebe, so muß ich ein amt¬
liches Zeugnis von unwiderlegbarer Bedeutung für die Neapolitaner Ver¬
hältnisse des Jahres 1904 beibringen. Auf eine Anfrage des Abgeordneten
Colosimo über die öffentliche Sicherheit in Neapel antwortete der Unterstaats¬
sekretär des Innern ti Sant' Onofrio am 17. Juni des laufenden Jahres
unter anderm das folgende: ,


Grcnzbaten III 1904 85
Die Kamorra Neapels

die Gegner die Hände, umarmen und küssen sich, und das Ganze endigt in
einer machen Osteria. Kann man zu keinem Einverständnis kommen, so greift
man bei schweren Beleidigungen zum Revolver, bei leichtern zum Messer, es
gibt also eine sxaratg, oder eine numMs. Eine Flut von widerwärtigen Schimpf¬
worten geht dem Beginne des Ehrenhandels voraus, dann gibt man beiden die
Revolver in die Hand, und sogleich geht die Knallerei los, ohne Rücksicht
darauf, wer sonst wohl den ersten Schuß hätte. Beim Schießen sind sie die
Beweglichkeit selber, springen, ducken sich, laufen vorwärts und rückwärts usw.,
und sie hören nicht eher auf, bis einer wirklich kampfunfähig geworden ist.
Beim Messerkampfe gebraucht jeder sein eignes Messer, gleichgiltig, ob es in
Form und Länge verschieden ist von dem des Gegners. Der älteste der an¬
wesenden Kamorristen, oaxuotioo genannt, gibt das Zeichen zum Beginn des
Kampfes. Währenddessen beschimpfen sich die Anhänger der beiden Gegner in
der unglaublichsten Weise, und sehr oft geraten auch sie sich in die Haare, und
dann geht eine Messerstecherei los, in der einfach blindlings dreingchauen wird,
gleichgiltig, ob Freunde oder Verwandte vor die Klinge kommen oder nicht.
Das Ende vom Liede ist dann entweder das Eingreifen der Polizei, oder aber
es bleiben schließlich Tote und Schwerverwundete auf dem Platze, während sich
die Unverletzten und die Leichtverwundeten aus dem Staube macheu. Unterwegs
benachrichtigen sie einige Bauern, daß dort Verwundete liegen, und tragen ihnen
im Namen der Kamorra auf, sie ins Hospital zu schaffen, wo dann keiner der
Verwundeten den andern kennen will- Jeder erzählt seine eigne, freierfundne
Geschichte, wie er zu seiner Verwundung gekommen sein will, ohne daß der
wachthabende Polizist ein Wort davon glaubt. Aber in den meisten Fällen ge¬
lingt es nicht, den Zusammenhang aufzudecken, und die Messerhelden müssen
nach ihrer Heilung straflos entlassen werden.




In der vorstehenden Darstellung habe ich nur die wichtigsten Punkte in
der Organisation dieser Verbrechergesellschaft hervorgehoben und mich dabei in
der Hauptsache an die äußerst bemerkenswerten Aufsätze gehalten, die in den
Wissenschaftlicher Zeitschriften ?iidunÄ SwcMariii. und ^.ronivio <U ?siotiiÄtiiii.
Kei ^.vtroxolosm vriminalö erschienen sind. Die engen Beziehungen der
Kamorra zur Prostitution, eines der traurigsten Kapitel in dieser Sache, habe
ich dabei ganz außer acht gelassen, was wohl dem Charakter dieser Zeitschrift
entsprechen wird.

Da sich aber mancher Leser vielleicht denken könnte, daß es früher so
gewesen sei, wie ich geschildert habe, und daß es heute solche Dinge nur noch
in den Gesängen der Cantastorie oder Bänkelsänger gebe, so muß ich ein amt¬
liches Zeugnis von unwiderlegbarer Bedeutung für die Neapolitaner Ver¬
hältnisse des Jahres 1904 beibringen. Auf eine Anfrage des Abgeordneten
Colosimo über die öffentliche Sicherheit in Neapel antwortete der Unterstaats¬
sekretär des Innern ti Sant' Onofrio am 17. Juni des laufenden Jahres
unter anderm das folgende: ,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/649>, abgerufen am 23.07.2024.