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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

und immer von einer erstaunlichen Neuheit in den Ideen und vollendeter Präzision
des Ausdrucks, auch wenn er sich französisch ausdrückt. Schiller ist ausschließlicher
Poch Gedanken und Meinungen sind ihm nur Mittel zur Poesie: in der "Braut
von Messina" ist er Fatalist, in der "Maria Stuart" ist er katholisch, und im
"Wilhelm Tell" wird er sich als glühender Republikaner zeigen. Man würde
Unrecht tun, ihm in Frankreich Politische Unsicherheit vorzuwerfen: er tut für den
Ruhm der Dichtung, was so viele unsrer Freunde ums Geld tun." (Constant
hatte in Weimar Schillers Tell vor der Veröffentlichung kennen gelernt; es ist
merkwürdig, daß er, der in Weimar war, von dem zurückgezognen Leben und der
Entfernung der Geister der Nation von den Höfen schreibt.) -- Sehr hübsch ist
Constants Schilderung von Göttingen; vierzehn Jahre vor der "Harzreise" hat
er es nicht anders gefunden als Heinrich Heine. Er schreibt am 2. Dezember 1811:
"Ich möchte mich Ihnen gegenüber gern erkenntlich zeigen und auch eine ein klein
wenig pikante Schilderung von Göttingen machen. Aber wie soll ich das an¬
fangen? Das ganze Leben spielt sich innerlich ab, und wer sich nicht mit Denken
abgibt, könnte da nicht leben. Die Professoren, die gewiß die gelehrtesten und
aufgeklärtesten Männer Europas sind, leben nicht einmal unter sich, sondern jeder
für sich; sie arbeiten von fünf Uhr Morgens bis sechs Uhr Abends und rauchen
dann ihre respektiven Familien an; da sitzen sie bei ihren Frauen, die nichts als
Haushälterinnen sind, und vergessen ihre Arbeiten, indem sie den Klatsch dieser
Wirtschafterinnen anhören, den sie für geeigneter halten, sie zu zerstreuen, als es
die ernstesten Unterhaltungen tun könnten. Die Studenten hören ziemlich eifrig
ihre Kollegien, im übrigen spielen, trinken, singen und schlagen sie. Die vornehme
Gesellschaft verkehrt nicht mit der übrigen Bevölkerung; die vornehme Gesellschaft
besteht übrigens aus einigen alten Weibern und aus Beamten, die Subaltern¬
stellungen annehmen mußten, weil sie ruiniert sind; sie beschäftigt sich nicht mit
Literatur, denn die Literatur ist "bürgerlich", und nicht mit Politik, denn Politik
ist gefährlich. Unterhaltung gibt es deshalb in Göttingen nicht; aber ich weiß
nicht, ob die Ideen dabei nicht gewinnen. Wenn man so lange in der großen
Welt gelebt hat, in der die Ideen Prüfungen und Wandlungen über sich ergehn
lassen mußten, so finde ich wenigstens, daß meine Gedanken hier an Kraft und
Ausdehnung zu gewinnen scheinen; und da mein Geist sich nicht im Kleingeld der
"Causerie" ausgibt, fühle ich auch diese Trägheit nicht mehr, die mein größter
Fehler war." -- Und noch etwas charakteristisches ans Göttingen; nach Eintreffen
der Nachricht vom Brande Moskaus am 5. Oktober 1812: "Man kann sich einer
großen Erregung nicht entschlagen, wenn man an die Summe der über die Welt
verbreiteten Übel denkt. Dieses Ereignis ist doch von einiger Wichtigkeit, ganz
abgesehen von der, die es für die unmittelbar betroffnen hat. Aber glauben Sie
mir; ich habe hier, wo alles in Studien und Gelehrsamkeit versenkt ist, da Villers
von hier abwesend ist, keine einzige Seele von einem Menschen finden können, mit
dem ich mich über dieses weltbewegende Ereignis hätte unterhalten können. Eine
Stadt von 500 000 Einwohnern kann in die Luft springen, ohne daß ein Göttinger
Professor die Augen von seinen Büchern erhebt." -- Ganz zufällig stoße ich in
dem Briefwechsel zwischen dem Philosophen Christian Garde und dem berühmten
Kanzelredner Georg Joachim Zollikofer (Breslau 1804) auf eine weitere, fast
gleiche Schilderung Göttingens. Garve schreibt am 6. Juli 1781 aus Göttingen:
"In Kassel herrscht der militärische Geist. Da gilt der Offizier alles; der Gelehrte
wird wieder einige Stellen zurückgewiesen; man ist ganz französisch, nicht sehr be¬
kümmert um Wissenschaft -- aber man hat die gewisse Freimütigkeit und Munter¬
keit, die der Militärstand verbreitet. In Göttingen endlich ist Gelehrsamkeit alles;
es gibt keinen eigentlichen gesellschaftlichen Ton, weil es wenig Gesellschaften gibt.
Daher hier unter den Familien und Personen vielleicht eine größere Mannigfaltig¬
keit stattfindet, als in sehr geselligen Orten. Der ganze Tag ist der Arbeit ge¬
widmet; und der Abend ist (wo er noch übrig ist) bloß zur Erholung in der
Familie oder auf einem kleinen Spaziergange." -- Nach dem, was wir in diesem


Maßgebliches und Unmaßgebliches

und immer von einer erstaunlichen Neuheit in den Ideen und vollendeter Präzision
des Ausdrucks, auch wenn er sich französisch ausdrückt. Schiller ist ausschließlicher
Poch Gedanken und Meinungen sind ihm nur Mittel zur Poesie: in der »Braut
von Messina« ist er Fatalist, in der »Maria Stuart« ist er katholisch, und im
»Wilhelm Tell« wird er sich als glühender Republikaner zeigen. Man würde
Unrecht tun, ihm in Frankreich Politische Unsicherheit vorzuwerfen: er tut für den
Ruhm der Dichtung, was so viele unsrer Freunde ums Geld tun." (Constant
hatte in Weimar Schillers Tell vor der Veröffentlichung kennen gelernt; es ist
merkwürdig, daß er, der in Weimar war, von dem zurückgezognen Leben und der
Entfernung der Geister der Nation von den Höfen schreibt.) — Sehr hübsch ist
Constants Schilderung von Göttingen; vierzehn Jahre vor der „Harzreise" hat
er es nicht anders gefunden als Heinrich Heine. Er schreibt am 2. Dezember 1811:
„Ich möchte mich Ihnen gegenüber gern erkenntlich zeigen und auch eine ein klein
wenig pikante Schilderung von Göttingen machen. Aber wie soll ich das an¬
fangen? Das ganze Leben spielt sich innerlich ab, und wer sich nicht mit Denken
abgibt, könnte da nicht leben. Die Professoren, die gewiß die gelehrtesten und
aufgeklärtesten Männer Europas sind, leben nicht einmal unter sich, sondern jeder
für sich; sie arbeiten von fünf Uhr Morgens bis sechs Uhr Abends und rauchen
dann ihre respektiven Familien an; da sitzen sie bei ihren Frauen, die nichts als
Haushälterinnen sind, und vergessen ihre Arbeiten, indem sie den Klatsch dieser
Wirtschafterinnen anhören, den sie für geeigneter halten, sie zu zerstreuen, als es
die ernstesten Unterhaltungen tun könnten. Die Studenten hören ziemlich eifrig
ihre Kollegien, im übrigen spielen, trinken, singen und schlagen sie. Die vornehme
Gesellschaft verkehrt nicht mit der übrigen Bevölkerung; die vornehme Gesellschaft
besteht übrigens aus einigen alten Weibern und aus Beamten, die Subaltern¬
stellungen annehmen mußten, weil sie ruiniert sind; sie beschäftigt sich nicht mit
Literatur, denn die Literatur ist »bürgerlich«, und nicht mit Politik, denn Politik
ist gefährlich. Unterhaltung gibt es deshalb in Göttingen nicht; aber ich weiß
nicht, ob die Ideen dabei nicht gewinnen. Wenn man so lange in der großen
Welt gelebt hat, in der die Ideen Prüfungen und Wandlungen über sich ergehn
lassen mußten, so finde ich wenigstens, daß meine Gedanken hier an Kraft und
Ausdehnung zu gewinnen scheinen; und da mein Geist sich nicht im Kleingeld der
»Causerie« ausgibt, fühle ich auch diese Trägheit nicht mehr, die mein größter
Fehler war." — Und noch etwas charakteristisches ans Göttingen; nach Eintreffen
der Nachricht vom Brande Moskaus am 5. Oktober 1812: „Man kann sich einer
großen Erregung nicht entschlagen, wenn man an die Summe der über die Welt
verbreiteten Übel denkt. Dieses Ereignis ist doch von einiger Wichtigkeit, ganz
abgesehen von der, die es für die unmittelbar betroffnen hat. Aber glauben Sie
mir; ich habe hier, wo alles in Studien und Gelehrsamkeit versenkt ist, da Villers
von hier abwesend ist, keine einzige Seele von einem Menschen finden können, mit
dem ich mich über dieses weltbewegende Ereignis hätte unterhalten können. Eine
Stadt von 500 000 Einwohnern kann in die Luft springen, ohne daß ein Göttinger
Professor die Augen von seinen Büchern erhebt." — Ganz zufällig stoße ich in
dem Briefwechsel zwischen dem Philosophen Christian Garde und dem berühmten
Kanzelredner Georg Joachim Zollikofer (Breslau 1804) auf eine weitere, fast
gleiche Schilderung Göttingens. Garve schreibt am 6. Juli 1781 aus Göttingen:
„In Kassel herrscht der militärische Geist. Da gilt der Offizier alles; der Gelehrte
wird wieder einige Stellen zurückgewiesen; man ist ganz französisch, nicht sehr be¬
kümmert um Wissenschaft — aber man hat die gewisse Freimütigkeit und Munter¬
keit, die der Militärstand verbreitet. In Göttingen endlich ist Gelehrsamkeit alles;
es gibt keinen eigentlichen gesellschaftlichen Ton, weil es wenig Gesellschaften gibt.
Daher hier unter den Familien und Personen vielleicht eine größere Mannigfaltig¬
keit stattfindet, als in sehr geselligen Orten. Der ganze Tag ist der Arbeit ge¬
widmet; und der Abend ist (wo er noch übrig ist) bloß zur Erholung in der
Familie oder auf einem kleinen Spaziergange." — Nach dem, was wir in diesem


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[0063] Maßgebliches und Unmaßgebliches und immer von einer erstaunlichen Neuheit in den Ideen und vollendeter Präzision des Ausdrucks, auch wenn er sich französisch ausdrückt. Schiller ist ausschließlicher Poch Gedanken und Meinungen sind ihm nur Mittel zur Poesie: in der »Braut von Messina« ist er Fatalist, in der »Maria Stuart« ist er katholisch, und im »Wilhelm Tell« wird er sich als glühender Republikaner zeigen. Man würde Unrecht tun, ihm in Frankreich Politische Unsicherheit vorzuwerfen: er tut für den Ruhm der Dichtung, was so viele unsrer Freunde ums Geld tun." (Constant hatte in Weimar Schillers Tell vor der Veröffentlichung kennen gelernt; es ist merkwürdig, daß er, der in Weimar war, von dem zurückgezognen Leben und der Entfernung der Geister der Nation von den Höfen schreibt.) — Sehr hübsch ist Constants Schilderung von Göttingen; vierzehn Jahre vor der „Harzreise" hat er es nicht anders gefunden als Heinrich Heine. Er schreibt am 2. Dezember 1811: „Ich möchte mich Ihnen gegenüber gern erkenntlich zeigen und auch eine ein klein wenig pikante Schilderung von Göttingen machen. Aber wie soll ich das an¬ fangen? Das ganze Leben spielt sich innerlich ab, und wer sich nicht mit Denken abgibt, könnte da nicht leben. Die Professoren, die gewiß die gelehrtesten und aufgeklärtesten Männer Europas sind, leben nicht einmal unter sich, sondern jeder für sich; sie arbeiten von fünf Uhr Morgens bis sechs Uhr Abends und rauchen dann ihre respektiven Familien an; da sitzen sie bei ihren Frauen, die nichts als Haushälterinnen sind, und vergessen ihre Arbeiten, indem sie den Klatsch dieser Wirtschafterinnen anhören, den sie für geeigneter halten, sie zu zerstreuen, als es die ernstesten Unterhaltungen tun könnten. Die Studenten hören ziemlich eifrig ihre Kollegien, im übrigen spielen, trinken, singen und schlagen sie. Die vornehme Gesellschaft verkehrt nicht mit der übrigen Bevölkerung; die vornehme Gesellschaft besteht übrigens aus einigen alten Weibern und aus Beamten, die Subaltern¬ stellungen annehmen mußten, weil sie ruiniert sind; sie beschäftigt sich nicht mit Literatur, denn die Literatur ist »bürgerlich«, und nicht mit Politik, denn Politik ist gefährlich. Unterhaltung gibt es deshalb in Göttingen nicht; aber ich weiß nicht, ob die Ideen dabei nicht gewinnen. Wenn man so lange in der großen Welt gelebt hat, in der die Ideen Prüfungen und Wandlungen über sich ergehn lassen mußten, so finde ich wenigstens, daß meine Gedanken hier an Kraft und Ausdehnung zu gewinnen scheinen; und da mein Geist sich nicht im Kleingeld der »Causerie« ausgibt, fühle ich auch diese Trägheit nicht mehr, die mein größter Fehler war." — Und noch etwas charakteristisches ans Göttingen; nach Eintreffen der Nachricht vom Brande Moskaus am 5. Oktober 1812: „Man kann sich einer großen Erregung nicht entschlagen, wenn man an die Summe der über die Welt verbreiteten Übel denkt. Dieses Ereignis ist doch von einiger Wichtigkeit, ganz abgesehen von der, die es für die unmittelbar betroffnen hat. Aber glauben Sie mir; ich habe hier, wo alles in Studien und Gelehrsamkeit versenkt ist, da Villers von hier abwesend ist, keine einzige Seele von einem Menschen finden können, mit dem ich mich über dieses weltbewegende Ereignis hätte unterhalten können. Eine Stadt von 500 000 Einwohnern kann in die Luft springen, ohne daß ein Göttinger Professor die Augen von seinen Büchern erhebt." — Ganz zufällig stoße ich in dem Briefwechsel zwischen dem Philosophen Christian Garde und dem berühmten Kanzelredner Georg Joachim Zollikofer (Breslau 1804) auf eine weitere, fast gleiche Schilderung Göttingens. Garve schreibt am 6. Juli 1781 aus Göttingen: „In Kassel herrscht der militärische Geist. Da gilt der Offizier alles; der Gelehrte wird wieder einige Stellen zurückgewiesen; man ist ganz französisch, nicht sehr be¬ kümmert um Wissenschaft — aber man hat die gewisse Freimütigkeit und Munter¬ keit, die der Militärstand verbreitet. In Göttingen endlich ist Gelehrsamkeit alles; es gibt keinen eigentlichen gesellschaftlichen Ton, weil es wenig Gesellschaften gibt. Daher hier unter den Familien und Personen vielleicht eine größere Mannigfaltig¬ keit stattfindet, als in sehr geselligen Orten. Der ganze Tag ist der Arbeit ge¬ widmet; und der Abend ist (wo er noch übrig ist) bloß zur Erholung in der Familie oder auf einem kleinen Spaziergange." — Nach dem, was wir in diesem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/63>, abgerufen am 23.07.2024.