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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Weltliche Musik im alten Leipzig

gesungen worden ist, vermutlich besonders wieder von Studenten, Die der
deutscheu volkstümlichen Melodik längst immanente Dreiklangempfindung wird
auch hier genug Menschen von einiger musikalischer Schulung und sicherm
Jntervallensinn der neuen Kunst schnell zugeführt haben; die Erfindung der
Gegen- oder Parallelbewegung zweier Melodien, des fugischen Einsatzes ver-
schiedner Stimmen und als wichtigste die einer weit abgestuften relativen Zeit¬
messung verschieden langer Töne entweder auf zweizeitiger oder drcizeitiger
Grundlage wurden die Hauptingrcdienzien einer neuen vielstimmigen Kunst, der
kontrapunktischen Musik.

Das ganze fünfzehnte und das sechzehnte Jahrhundert über unterschied man
nur zwischen zwei Nrteu vou erfindenden Musikern: bloßen Melodiesindern
iMoimLoi), die oft genug noch zugleich die Dichter gewesen sein werdeu, und
eigentlichen Komponisten, d. h. solchen, die zu einer vorhandnen Melodie mehrere
andre Stimmen hinzuzusetzen verstanden (8^mxnonstg,ö), Der Phonasms zu
"Ich stund an einem Morgen" ist unbekannt, aber als Symphonetcn der Melodie
kennen wir Heinrich Jsaak, Matthias Greiter und Ludwig Senft, drei erlauchte
Namen aus der oberdeutschen Musik zwischen 1480 und 1550. Wessen mehr¬
stimmiger Satz von den drei in Mitteldeutschland und etwa auch in Leipzig
beliebt gewesen sein mag, ist nicht mehr zu sagen. Daß aber sonst Lieder von
Jsaak und Senft das ganze sechzehnte Jahrhundert über in Leipzig gesungen
und gespielt worden sind, zeigt Ammerbachs Tabulaturbuch von 1571. Da
stehn unter andern damals beliebten Jnstrumentalstücken Jsaaks herrlicher vier¬
stimmiger Satz zu dem Liede "Innsbruck, ich muß dich lassen," als dessen
Dichter man so gern in Übereinstimmung mit einer volkstümlichen Überlieferung
jeuer Zeit den Kaiser Max, Jsaaks Brodherrn, bezeichnen möchte, und von seinem
Schüler Senft, Luthers Lieblingskvmponisten, die schon etwas lockerern, in den
Nebenstimmen üppiger im kleinen spielenden, harmonisch etwas eintöniger" Lieder:
Mit Lust tut ich ausreiten, Mein Fleiß und Mühe, Ich armes Mägdlein klag
mich sehr; auch Jsaaks Rival am Innsbrucker und dann am Wiener Hof, der
große Orgelspieler Paul Hofhaimer aus dein Salzburgischen, ist hier noch ver¬
treten mit einem schönen zwischen Jsaaks klarer Wucht und Senfls Munterkeit
etwa die Mitte haltenden Satze "Tröstlicher Lieb stets ich mich übe." Hof¬
haimer ist von diesen drei Großen der einzige, der nachweislich selbst einmal in
Leipzig gewesen ist: 1516 ließ der Leipziger Rat eines Tages "des Kaisers
Organisten," der durchreiste und bei dieser Gelegenheit wohl auch von seiner
Bortragskunst zum besten gab, eine Weinspende in seine Herberge schicken.

Populär war von den berühmten mehrstimmigen Liedern dieser Meister und
ihrer Zeitgenossen, mochten sie nun aus drei, vier oder mehr Stimmen zusammen¬
gebaut sein, immer nur eine Melodielinie. Diese einfache Hanptmelodie, die Weise,
wäre z. V. zu der Strophe des von Senft vierstimmig gesetzten JägerlicdcS

in acht Takten zu singen und wird auch bei einstimmigem nnbegleitetem Lieder-


Weltliche Musik im alten Leipzig

gesungen worden ist, vermutlich besonders wieder von Studenten, Die der
deutscheu volkstümlichen Melodik längst immanente Dreiklangempfindung wird
auch hier genug Menschen von einiger musikalischer Schulung und sicherm
Jntervallensinn der neuen Kunst schnell zugeführt haben; die Erfindung der
Gegen- oder Parallelbewegung zweier Melodien, des fugischen Einsatzes ver-
schiedner Stimmen und als wichtigste die einer weit abgestuften relativen Zeit¬
messung verschieden langer Töne entweder auf zweizeitiger oder drcizeitiger
Grundlage wurden die Hauptingrcdienzien einer neuen vielstimmigen Kunst, der
kontrapunktischen Musik.

Das ganze fünfzehnte und das sechzehnte Jahrhundert über unterschied man
nur zwischen zwei Nrteu vou erfindenden Musikern: bloßen Melodiesindern
iMoimLoi), die oft genug noch zugleich die Dichter gewesen sein werdeu, und
eigentlichen Komponisten, d. h. solchen, die zu einer vorhandnen Melodie mehrere
andre Stimmen hinzuzusetzen verstanden (8^mxnonstg,ö), Der Phonasms zu
„Ich stund an einem Morgen" ist unbekannt, aber als Symphonetcn der Melodie
kennen wir Heinrich Jsaak, Matthias Greiter und Ludwig Senft, drei erlauchte
Namen aus der oberdeutschen Musik zwischen 1480 und 1550. Wessen mehr¬
stimmiger Satz von den drei in Mitteldeutschland und etwa auch in Leipzig
beliebt gewesen sein mag, ist nicht mehr zu sagen. Daß aber sonst Lieder von
Jsaak und Senft das ganze sechzehnte Jahrhundert über in Leipzig gesungen
und gespielt worden sind, zeigt Ammerbachs Tabulaturbuch von 1571. Da
stehn unter andern damals beliebten Jnstrumentalstücken Jsaaks herrlicher vier¬
stimmiger Satz zu dem Liede „Innsbruck, ich muß dich lassen," als dessen
Dichter man so gern in Übereinstimmung mit einer volkstümlichen Überlieferung
jeuer Zeit den Kaiser Max, Jsaaks Brodherrn, bezeichnen möchte, und von seinem
Schüler Senft, Luthers Lieblingskvmponisten, die schon etwas lockerern, in den
Nebenstimmen üppiger im kleinen spielenden, harmonisch etwas eintöniger» Lieder:
Mit Lust tut ich ausreiten, Mein Fleiß und Mühe, Ich armes Mägdlein klag
mich sehr; auch Jsaaks Rival am Innsbrucker und dann am Wiener Hof, der
große Orgelspieler Paul Hofhaimer aus dein Salzburgischen, ist hier noch ver¬
treten mit einem schönen zwischen Jsaaks klarer Wucht und Senfls Munterkeit
etwa die Mitte haltenden Satze „Tröstlicher Lieb stets ich mich übe." Hof¬
haimer ist von diesen drei Großen der einzige, der nachweislich selbst einmal in
Leipzig gewesen ist: 1516 ließ der Leipziger Rat eines Tages „des Kaisers
Organisten," der durchreiste und bei dieser Gelegenheit wohl auch von seiner
Bortragskunst zum besten gab, eine Weinspende in seine Herberge schicken.

Populär war von den berühmten mehrstimmigen Liedern dieser Meister und
ihrer Zeitgenossen, mochten sie nun aus drei, vier oder mehr Stimmen zusammen¬
gebaut sein, immer nur eine Melodielinie. Diese einfache Hanptmelodie, die Weise,
wäre z. V. zu der Strophe des von Senft vierstimmig gesetzten JägerlicdcS

in acht Takten zu singen und wird auch bei einstimmigem nnbegleitetem Lieder-


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[0584] Weltliche Musik im alten Leipzig gesungen worden ist, vermutlich besonders wieder von Studenten, Die der deutscheu volkstümlichen Melodik längst immanente Dreiklangempfindung wird auch hier genug Menschen von einiger musikalischer Schulung und sicherm Jntervallensinn der neuen Kunst schnell zugeführt haben; die Erfindung der Gegen- oder Parallelbewegung zweier Melodien, des fugischen Einsatzes ver- schiedner Stimmen und als wichtigste die einer weit abgestuften relativen Zeit¬ messung verschieden langer Töne entweder auf zweizeitiger oder drcizeitiger Grundlage wurden die Hauptingrcdienzien einer neuen vielstimmigen Kunst, der kontrapunktischen Musik. Das ganze fünfzehnte und das sechzehnte Jahrhundert über unterschied man nur zwischen zwei Nrteu vou erfindenden Musikern: bloßen Melodiesindern iMoimLoi), die oft genug noch zugleich die Dichter gewesen sein werdeu, und eigentlichen Komponisten, d. h. solchen, die zu einer vorhandnen Melodie mehrere andre Stimmen hinzuzusetzen verstanden (8^mxnonstg,ö), Der Phonasms zu „Ich stund an einem Morgen" ist unbekannt, aber als Symphonetcn der Melodie kennen wir Heinrich Jsaak, Matthias Greiter und Ludwig Senft, drei erlauchte Namen aus der oberdeutschen Musik zwischen 1480 und 1550. Wessen mehr¬ stimmiger Satz von den drei in Mitteldeutschland und etwa auch in Leipzig beliebt gewesen sein mag, ist nicht mehr zu sagen. Daß aber sonst Lieder von Jsaak und Senft das ganze sechzehnte Jahrhundert über in Leipzig gesungen und gespielt worden sind, zeigt Ammerbachs Tabulaturbuch von 1571. Da stehn unter andern damals beliebten Jnstrumentalstücken Jsaaks herrlicher vier¬ stimmiger Satz zu dem Liede „Innsbruck, ich muß dich lassen," als dessen Dichter man so gern in Übereinstimmung mit einer volkstümlichen Überlieferung jeuer Zeit den Kaiser Max, Jsaaks Brodherrn, bezeichnen möchte, und von seinem Schüler Senft, Luthers Lieblingskvmponisten, die schon etwas lockerern, in den Nebenstimmen üppiger im kleinen spielenden, harmonisch etwas eintöniger» Lieder: Mit Lust tut ich ausreiten, Mein Fleiß und Mühe, Ich armes Mägdlein klag mich sehr; auch Jsaaks Rival am Innsbrucker und dann am Wiener Hof, der große Orgelspieler Paul Hofhaimer aus dein Salzburgischen, ist hier noch ver¬ treten mit einem schönen zwischen Jsaaks klarer Wucht und Senfls Munterkeit etwa die Mitte haltenden Satze „Tröstlicher Lieb stets ich mich übe." Hof¬ haimer ist von diesen drei Großen der einzige, der nachweislich selbst einmal in Leipzig gewesen ist: 1516 ließ der Leipziger Rat eines Tages „des Kaisers Organisten," der durchreiste und bei dieser Gelegenheit wohl auch von seiner Bortragskunst zum besten gab, eine Weinspende in seine Herberge schicken. Populär war von den berühmten mehrstimmigen Liedern dieser Meister und ihrer Zeitgenossen, mochten sie nun aus drei, vier oder mehr Stimmen zusammen¬ gebaut sein, immer nur eine Melodielinie. Diese einfache Hanptmelodie, die Weise, wäre z. V. zu der Strophe des von Senft vierstimmig gesetzten JägerlicdcS in acht Takten zu singen und wird auch bei einstimmigem nnbegleitetem Lieder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/584>, abgerufen am 23.07.2024.