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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Die kleine Marina und ihr Gemahl

ihrer Aufmerksamkeit für würdig. Das wenige, was sie von andern Ländern wußte
-- von den von dem wahren Glauben allgefcillnen Reichen im Norden --, hatte
ihr Mnnolito erzählt.

Prinz Emanuel von Salm-Salm gehörte als jüngster von siebzehn Ge¬
schwistern der kosmopolitischsten Fürstenfamilie in Europa an und hatte seine Erziehung
hier und dort auf dem Kontinent erhalten. Die Salms zu Hoogstraeten und Anholt
wußten wohl selbst nicht so ganz genau, ob sie zu Deutschland oder zu Flandern
gehörten. Sie waren geborne "Wildgrafen" und "Rheingrafen" und standen mit
fast allen hochadlicheu Häusern in Österreich, Spanien und Frankreich in Ver¬
bindung. Schon in der Wiege hatte Prinz Emanuel das Kreuz der Malteser-
ritter getragen; er hatte Kriegsdienste in den Niederlanden geleistet, auf Mallorca
und in Ceuta in Garnison gelegen, war Oberst von Karls des Dritten Wnllonen-
garde gewesen und diente für den Augenblick treuen Herzens Ludwig dem Sechzehnten,
von Königin Marie Antoinette beschützt. Aber in seinem umherschweifenden, etwas
abenteuerlichen Leben hatte er sich gerade die allgemeine Bildung, "Philosophie"
und praktische Erfahrung angeeignet, wie sie die Zeit von einem Weltmanne ver¬
langte, und hier in Paris war er uun ein gerngesehener Gast in allen tonan¬
gebenden, freisinnigen Salons, war ein Freund von Benjamin Franklin und trug
sich in dem letzten Jahre lebhaft mit dem Plan, sich und seinen Degen der jungen
amerikanischen Freiheit zur Verfügung zu stellen. Aber trotz aller kosmopolitischen
und encyklopädistischen Bildung -- er grübelte selbst darüber nach und sprach nie
mit irgend jemand als mit seiner jungen Nichte davon, die ihm wie einem Orakel
lauschte und leidenschaftlich mit jedem Wort sympathisierte, das er sagte -- fühlte
er sich im Innern seiner Seele als Nordländer und Deutscher.

Von einer sächsischen Kammerzofe, die ihrerzeit mit der Mutter nach Spanien
gegangen war, hatte Marina, getrieben von ihrer eignen Wißbegier und angespornt
von Manolito, geduldig und energisch auf eigne Hand so viel Deutsch gelernt, daß
der "höhere Unterricht," den der Oheim ihr zu geben unternommen hatte, für ihn
ein reines Vergnügen war. Der Zeitgeist war fieberhaft pädagogisch, "Instruktion"
War die allerhöchste Mode: niemand fand, daß Prinz Emanuel, von dem alle
wußten, daß er so begeistert literarisch und ästhetisch interessiert war, auch nur im
entferntesten ein Opfer brachte, indem er sich auf diese Weise des Unterrichts seiner
"interessanten" kleinen Schwestertochter annahm. Sie studierten nur schöne Literatur
und Poesie miteinander, und nun war sie allmählich so weit gekommen, daß sie für
würdig erachtet wurde, unter Anleitung ihres guten Lehrers Bekanntschaft mit
seinem in der letzten Zeit vielbesprochnen Lieblingsroman "Die Leiden des jungen
Werthers" zu machen.

Auf seiner langen Reise im vorhergehenden Jahre hatte Salm nämlich auch
Weimar besucht und war seit dieser Zeit ein eifriger Bewundrer des jungen Goethe,
dessen Namen -- so versicherte er -- einem jetzt in jeder Stadt und jedem Dorf,
wo Deutsch gesprochen und gelesen würde, entgegentrat. Und obwohl er auf der¬
selben Reise fast mit den meisten der hervorragenden Geister in Berührung ge¬
kommen war -- er hatte in Ferney den sterbenden Voltaire besucht, hatte Friedrich
den Zweiten reden hören und mit der großen Katharina zu Tische gesessen, die so
gnädig gewesen war, ihm gegenüber die hohe Kunst zu entwickeln, wie man ein
Weltreich lenke und beglücke --, schien doch niemand und nichts den Eindruck von
Weimar verdunkelt zu haben. Als er nach Hause kam, versuchte er, Götz und
Clavigo für seine Freunde zu übersetzen und ging in die vomüäio name^j"", das
Buch von dem jungen Werther in der Tasche.

Die Franzosen, pflegte er zu seiner Nichte zu sagen -- wenn sie lasen, saßen
sie in der Regel draußen in dem englischen Lusthaus unter dem alten Platanen-
banm und hatten das Buch zwischen sich auf dem steinernen Tische --, die Fran¬
zosen sind Perückenstöcke! Akademische Querkopfe, kleine Marina. Die Spanier,
deine Landsleute -- Ironiker, Fanatiker. Eigensinnig wie die Erbsünde und


Die kleine Marina und ihr Gemahl

ihrer Aufmerksamkeit für würdig. Das wenige, was sie von andern Ländern wußte
— von den von dem wahren Glauben allgefcillnen Reichen im Norden —, hatte
ihr Mnnolito erzählt.

Prinz Emanuel von Salm-Salm gehörte als jüngster von siebzehn Ge¬
schwistern der kosmopolitischsten Fürstenfamilie in Europa an und hatte seine Erziehung
hier und dort auf dem Kontinent erhalten. Die Salms zu Hoogstraeten und Anholt
wußten wohl selbst nicht so ganz genau, ob sie zu Deutschland oder zu Flandern
gehörten. Sie waren geborne „Wildgrafen" und „Rheingrafen" und standen mit
fast allen hochadlicheu Häusern in Österreich, Spanien und Frankreich in Ver¬
bindung. Schon in der Wiege hatte Prinz Emanuel das Kreuz der Malteser-
ritter getragen; er hatte Kriegsdienste in den Niederlanden geleistet, auf Mallorca
und in Ceuta in Garnison gelegen, war Oberst von Karls des Dritten Wnllonen-
garde gewesen und diente für den Augenblick treuen Herzens Ludwig dem Sechzehnten,
von Königin Marie Antoinette beschützt. Aber in seinem umherschweifenden, etwas
abenteuerlichen Leben hatte er sich gerade die allgemeine Bildung, „Philosophie"
und praktische Erfahrung angeeignet, wie sie die Zeit von einem Weltmanne ver¬
langte, und hier in Paris war er uun ein gerngesehener Gast in allen tonan¬
gebenden, freisinnigen Salons, war ein Freund von Benjamin Franklin und trug
sich in dem letzten Jahre lebhaft mit dem Plan, sich und seinen Degen der jungen
amerikanischen Freiheit zur Verfügung zu stellen. Aber trotz aller kosmopolitischen
und encyklopädistischen Bildung — er grübelte selbst darüber nach und sprach nie
mit irgend jemand als mit seiner jungen Nichte davon, die ihm wie einem Orakel
lauschte und leidenschaftlich mit jedem Wort sympathisierte, das er sagte — fühlte
er sich im Innern seiner Seele als Nordländer und Deutscher.

Von einer sächsischen Kammerzofe, die ihrerzeit mit der Mutter nach Spanien
gegangen war, hatte Marina, getrieben von ihrer eignen Wißbegier und angespornt
von Manolito, geduldig und energisch auf eigne Hand so viel Deutsch gelernt, daß
der „höhere Unterricht," den der Oheim ihr zu geben unternommen hatte, für ihn
ein reines Vergnügen war. Der Zeitgeist war fieberhaft pädagogisch, „Instruktion"
War die allerhöchste Mode: niemand fand, daß Prinz Emanuel, von dem alle
wußten, daß er so begeistert literarisch und ästhetisch interessiert war, auch nur im
entferntesten ein Opfer brachte, indem er sich auf diese Weise des Unterrichts seiner
„interessanten" kleinen Schwestertochter annahm. Sie studierten nur schöne Literatur
und Poesie miteinander, und nun war sie allmählich so weit gekommen, daß sie für
würdig erachtet wurde, unter Anleitung ihres guten Lehrers Bekanntschaft mit
seinem in der letzten Zeit vielbesprochnen Lieblingsroman „Die Leiden des jungen
Werthers" zu machen.

Auf seiner langen Reise im vorhergehenden Jahre hatte Salm nämlich auch
Weimar besucht und war seit dieser Zeit ein eifriger Bewundrer des jungen Goethe,
dessen Namen — so versicherte er — einem jetzt in jeder Stadt und jedem Dorf,
wo Deutsch gesprochen und gelesen würde, entgegentrat. Und obwohl er auf der¬
selben Reise fast mit den meisten der hervorragenden Geister in Berührung ge¬
kommen war — er hatte in Ferney den sterbenden Voltaire besucht, hatte Friedrich
den Zweiten reden hören und mit der großen Katharina zu Tische gesessen, die so
gnädig gewesen war, ihm gegenüber die hohe Kunst zu entwickeln, wie man ein
Weltreich lenke und beglücke —, schien doch niemand und nichts den Eindruck von
Weimar verdunkelt zu haben. Als er nach Hause kam, versuchte er, Götz und
Clavigo für seine Freunde zu übersetzen und ging in die vomüäio name^j««, das
Buch von dem jungen Werther in der Tasche.

Die Franzosen, pflegte er zu seiner Nichte zu sagen — wenn sie lasen, saßen
sie in der Regel draußen in dem englischen Lusthaus unter dem alten Platanen-
banm und hatten das Buch zwischen sich auf dem steinernen Tische —, die Fran¬
zosen sind Perückenstöcke! Akademische Querkopfe, kleine Marina. Die Spanier,
deine Landsleute — Ironiker, Fanatiker. Eigensinnig wie die Erbsünde und


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[0056] Die kleine Marina und ihr Gemahl ihrer Aufmerksamkeit für würdig. Das wenige, was sie von andern Ländern wußte — von den von dem wahren Glauben allgefcillnen Reichen im Norden —, hatte ihr Mnnolito erzählt. Prinz Emanuel von Salm-Salm gehörte als jüngster von siebzehn Ge¬ schwistern der kosmopolitischsten Fürstenfamilie in Europa an und hatte seine Erziehung hier und dort auf dem Kontinent erhalten. Die Salms zu Hoogstraeten und Anholt wußten wohl selbst nicht so ganz genau, ob sie zu Deutschland oder zu Flandern gehörten. Sie waren geborne „Wildgrafen" und „Rheingrafen" und standen mit fast allen hochadlicheu Häusern in Österreich, Spanien und Frankreich in Ver¬ bindung. Schon in der Wiege hatte Prinz Emanuel das Kreuz der Malteser- ritter getragen; er hatte Kriegsdienste in den Niederlanden geleistet, auf Mallorca und in Ceuta in Garnison gelegen, war Oberst von Karls des Dritten Wnllonen- garde gewesen und diente für den Augenblick treuen Herzens Ludwig dem Sechzehnten, von Königin Marie Antoinette beschützt. Aber in seinem umherschweifenden, etwas abenteuerlichen Leben hatte er sich gerade die allgemeine Bildung, „Philosophie" und praktische Erfahrung angeeignet, wie sie die Zeit von einem Weltmanne ver¬ langte, und hier in Paris war er uun ein gerngesehener Gast in allen tonan¬ gebenden, freisinnigen Salons, war ein Freund von Benjamin Franklin und trug sich in dem letzten Jahre lebhaft mit dem Plan, sich und seinen Degen der jungen amerikanischen Freiheit zur Verfügung zu stellen. Aber trotz aller kosmopolitischen und encyklopädistischen Bildung — er grübelte selbst darüber nach und sprach nie mit irgend jemand als mit seiner jungen Nichte davon, die ihm wie einem Orakel lauschte und leidenschaftlich mit jedem Wort sympathisierte, das er sagte — fühlte er sich im Innern seiner Seele als Nordländer und Deutscher. Von einer sächsischen Kammerzofe, die ihrerzeit mit der Mutter nach Spanien gegangen war, hatte Marina, getrieben von ihrer eignen Wißbegier und angespornt von Manolito, geduldig und energisch auf eigne Hand so viel Deutsch gelernt, daß der „höhere Unterricht," den der Oheim ihr zu geben unternommen hatte, für ihn ein reines Vergnügen war. Der Zeitgeist war fieberhaft pädagogisch, „Instruktion" War die allerhöchste Mode: niemand fand, daß Prinz Emanuel, von dem alle wußten, daß er so begeistert literarisch und ästhetisch interessiert war, auch nur im entferntesten ein Opfer brachte, indem er sich auf diese Weise des Unterrichts seiner „interessanten" kleinen Schwestertochter annahm. Sie studierten nur schöne Literatur und Poesie miteinander, und nun war sie allmählich so weit gekommen, daß sie für würdig erachtet wurde, unter Anleitung ihres guten Lehrers Bekanntschaft mit seinem in der letzten Zeit vielbesprochnen Lieblingsroman „Die Leiden des jungen Werthers" zu machen. Auf seiner langen Reise im vorhergehenden Jahre hatte Salm nämlich auch Weimar besucht und war seit dieser Zeit ein eifriger Bewundrer des jungen Goethe, dessen Namen — so versicherte er — einem jetzt in jeder Stadt und jedem Dorf, wo Deutsch gesprochen und gelesen würde, entgegentrat. Und obwohl er auf der¬ selben Reise fast mit den meisten der hervorragenden Geister in Berührung ge¬ kommen war — er hatte in Ferney den sterbenden Voltaire besucht, hatte Friedrich den Zweiten reden hören und mit der großen Katharina zu Tische gesessen, die so gnädig gewesen war, ihm gegenüber die hohe Kunst zu entwickeln, wie man ein Weltreich lenke und beglücke —, schien doch niemand und nichts den Eindruck von Weimar verdunkelt zu haben. Als er nach Hause kam, versuchte er, Götz und Clavigo für seine Freunde zu übersetzen und ging in die vomüäio name^j««, das Buch von dem jungen Werther in der Tasche. Die Franzosen, pflegte er zu seiner Nichte zu sagen — wenn sie lasen, saßen sie in der Regel draußen in dem englischen Lusthaus unter dem alten Platanen- banm und hatten das Buch zwischen sich auf dem steinernen Tische —, die Fran¬ zosen sind Perückenstöcke! Akademische Querkopfe, kleine Marina. Die Spanier, deine Landsleute — Ironiker, Fanatiker. Eigensinnig wie die Erbsünde und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/56>, abgerufen am 23.07.2024.