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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Zu Friedrich Ratzels Gedächtnis

Mittwoch die Nachricht vom Tode erhalten hatte, ging reichlich der Vor¬
mittag mit persönlichen und telegraphischen Erkundigungen über die kirchen¬
rechtlichen Vorfragen und Bedingungen meines Fungierens und den Modus
der Reise hin. Am Donnerstag früh hatte ich zu reisen. So blieben mir
nur etliche Stunden am Mittwoch Nachmittag und der Reise am Donnerstag.
Es versteht sich dabei von selbst, daß ich weder einen Blick in die Schriften
Ratzels werfen -- falls ich sie bei mir gehabt hätte -- noch die Rede schrift¬
lich vorbereiten konnte. Sie war durchaus ein Kind des Augenblicks und für
die Familie und die am Grabe Anwesenden bestimmt.

Wenn ich sie nun doch noch niedergeschrieben und zum Druck gegeben
habe, so tat ich das nach längeren Zögern, einmal weil ich vielfach an mich
herantretenden Bitten nicht glaubte länger widerstehn zu dürfen, sodann be¬
sonders weil total entstellte Berichte in den Zeitungen ein ganz falsches Bild
meiner Worte gegeben hatten.

Die Hörer werden alles, was sie gehört haben, von minimalen formellen
Abweichungen abgesehen, genau so wiederfinden, wie sie es hörten. Nur
gegen das Ende ist Ratzels religiöse Stellung durch drei weitere Sätze etwas
eingehender beleuchtet worden. Der Passus ist nicht neu; er gehört zur Rede
und war von mir genau so vorgesehen worden, wie er dasteht. Nur die
Scheu, nicht zu lang zu werden, und vor allem ein während der Rede ein¬
tretendes störendes Geräusch in unmittelbarer Nähe des Friedhofes veranlaßten
mich während des Sprechens zur Kürzung.

Als Leser denke ich mir nur solche, die sich gern an das frische Grab
und in die Begrübnisstunde Ratzels versetzen wollen. Ich bin nicht Geograph
und Naturforscher; Fachgenossen mögen manches an der Rede berichtigen; sie
mögen etwaige Irrtümer entschuldigen. Ich habe so gezeichnet, wie ich ohne
Hilfsmittel aus Stimmung und Erinnerung heraus konnte und mußte. Jahre¬
lang gemeinsame Vorlesungsstunden, gemeinsame Spaziergänge und vielfaches
Zusammengehn auf einem Teil des Heimwegs aus der Universität haben
unsre Beziehungen mit der Zeit so geknüpft, daß ich glaubte, den mir bittend
entgegengebrachten Auftrag nicht ablehnen zu sollen.




Hochgeehrte Trauerversammlung!

Wenig Tage sind es her, daß wir in Leipzig, diesesmal nach besonders
heißer und beschwerlicher Arbeitszeit des Semesters, auseinander gegangen
sind. Ein merkwürdiges Gefüge der Umstände wollte es, daß gerade ich dem
Entschlasnen auf dem Bahnhof noch das Geleite zur Reise hierher an die
Stätte seiner Erholung gab, und sein letztes Wort an mich war die Frage,
ob wir wohl einmal ein Zusammentreffen in den Ferien veranstalten könnten.
Nun sind wir freilich wieder zusammengetroffen -- aber früher und ganz
anders als beide Teile dachten!

Einem jähen Wetterschlage gleich ereilte die Freunde nah und fern
-- soweit sie sie überhaupt schon erreicht hat -- die Kunde von dem plötz-


Zu Friedrich Ratzels Gedächtnis

Mittwoch die Nachricht vom Tode erhalten hatte, ging reichlich der Vor¬
mittag mit persönlichen und telegraphischen Erkundigungen über die kirchen¬
rechtlichen Vorfragen und Bedingungen meines Fungierens und den Modus
der Reise hin. Am Donnerstag früh hatte ich zu reisen. So blieben mir
nur etliche Stunden am Mittwoch Nachmittag und der Reise am Donnerstag.
Es versteht sich dabei von selbst, daß ich weder einen Blick in die Schriften
Ratzels werfen — falls ich sie bei mir gehabt hätte — noch die Rede schrift¬
lich vorbereiten konnte. Sie war durchaus ein Kind des Augenblicks und für
die Familie und die am Grabe Anwesenden bestimmt.

Wenn ich sie nun doch noch niedergeschrieben und zum Druck gegeben
habe, so tat ich das nach längeren Zögern, einmal weil ich vielfach an mich
herantretenden Bitten nicht glaubte länger widerstehn zu dürfen, sodann be¬
sonders weil total entstellte Berichte in den Zeitungen ein ganz falsches Bild
meiner Worte gegeben hatten.

Die Hörer werden alles, was sie gehört haben, von minimalen formellen
Abweichungen abgesehen, genau so wiederfinden, wie sie es hörten. Nur
gegen das Ende ist Ratzels religiöse Stellung durch drei weitere Sätze etwas
eingehender beleuchtet worden. Der Passus ist nicht neu; er gehört zur Rede
und war von mir genau so vorgesehen worden, wie er dasteht. Nur die
Scheu, nicht zu lang zu werden, und vor allem ein während der Rede ein¬
tretendes störendes Geräusch in unmittelbarer Nähe des Friedhofes veranlaßten
mich während des Sprechens zur Kürzung.

Als Leser denke ich mir nur solche, die sich gern an das frische Grab
und in die Begrübnisstunde Ratzels versetzen wollen. Ich bin nicht Geograph
und Naturforscher; Fachgenossen mögen manches an der Rede berichtigen; sie
mögen etwaige Irrtümer entschuldigen. Ich habe so gezeichnet, wie ich ohne
Hilfsmittel aus Stimmung und Erinnerung heraus konnte und mußte. Jahre¬
lang gemeinsame Vorlesungsstunden, gemeinsame Spaziergänge und vielfaches
Zusammengehn auf einem Teil des Heimwegs aus der Universität haben
unsre Beziehungen mit der Zeit so geknüpft, daß ich glaubte, den mir bittend
entgegengebrachten Auftrag nicht ablehnen zu sollen.




Hochgeehrte Trauerversammlung!

Wenig Tage sind es her, daß wir in Leipzig, diesesmal nach besonders
heißer und beschwerlicher Arbeitszeit des Semesters, auseinander gegangen
sind. Ein merkwürdiges Gefüge der Umstände wollte es, daß gerade ich dem
Entschlasnen auf dem Bahnhof noch das Geleite zur Reise hierher an die
Stätte seiner Erholung gab, und sein letztes Wort an mich war die Frage,
ob wir wohl einmal ein Zusammentreffen in den Ferien veranstalten könnten.
Nun sind wir freilich wieder zusammengetroffen — aber früher und ganz
anders als beide Teile dachten!

Einem jähen Wetterschlage gleich ereilte die Freunde nah und fern
— soweit sie sie überhaupt schon erreicht hat — die Kunde von dem plötz-


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[0525] Zu Friedrich Ratzels Gedächtnis Mittwoch die Nachricht vom Tode erhalten hatte, ging reichlich der Vor¬ mittag mit persönlichen und telegraphischen Erkundigungen über die kirchen¬ rechtlichen Vorfragen und Bedingungen meines Fungierens und den Modus der Reise hin. Am Donnerstag früh hatte ich zu reisen. So blieben mir nur etliche Stunden am Mittwoch Nachmittag und der Reise am Donnerstag. Es versteht sich dabei von selbst, daß ich weder einen Blick in die Schriften Ratzels werfen — falls ich sie bei mir gehabt hätte — noch die Rede schrift¬ lich vorbereiten konnte. Sie war durchaus ein Kind des Augenblicks und für die Familie und die am Grabe Anwesenden bestimmt. Wenn ich sie nun doch noch niedergeschrieben und zum Druck gegeben habe, so tat ich das nach längeren Zögern, einmal weil ich vielfach an mich herantretenden Bitten nicht glaubte länger widerstehn zu dürfen, sodann be¬ sonders weil total entstellte Berichte in den Zeitungen ein ganz falsches Bild meiner Worte gegeben hatten. Die Hörer werden alles, was sie gehört haben, von minimalen formellen Abweichungen abgesehen, genau so wiederfinden, wie sie es hörten. Nur gegen das Ende ist Ratzels religiöse Stellung durch drei weitere Sätze etwas eingehender beleuchtet worden. Der Passus ist nicht neu; er gehört zur Rede und war von mir genau so vorgesehen worden, wie er dasteht. Nur die Scheu, nicht zu lang zu werden, und vor allem ein während der Rede ein¬ tretendes störendes Geräusch in unmittelbarer Nähe des Friedhofes veranlaßten mich während des Sprechens zur Kürzung. Als Leser denke ich mir nur solche, die sich gern an das frische Grab und in die Begrübnisstunde Ratzels versetzen wollen. Ich bin nicht Geograph und Naturforscher; Fachgenossen mögen manches an der Rede berichtigen; sie mögen etwaige Irrtümer entschuldigen. Ich habe so gezeichnet, wie ich ohne Hilfsmittel aus Stimmung und Erinnerung heraus konnte und mußte. Jahre¬ lang gemeinsame Vorlesungsstunden, gemeinsame Spaziergänge und vielfaches Zusammengehn auf einem Teil des Heimwegs aus der Universität haben unsre Beziehungen mit der Zeit so geknüpft, daß ich glaubte, den mir bittend entgegengebrachten Auftrag nicht ablehnen zu sollen. Hochgeehrte Trauerversammlung! Wenig Tage sind es her, daß wir in Leipzig, diesesmal nach besonders heißer und beschwerlicher Arbeitszeit des Semesters, auseinander gegangen sind. Ein merkwürdiges Gefüge der Umstände wollte es, daß gerade ich dem Entschlasnen auf dem Bahnhof noch das Geleite zur Reise hierher an die Stätte seiner Erholung gab, und sein letztes Wort an mich war die Frage, ob wir wohl einmal ein Zusammentreffen in den Ferien veranstalten könnten. Nun sind wir freilich wieder zusammengetroffen — aber früher und ganz anders als beide Teile dachten! Einem jähen Wetterschlage gleich ereilte die Freunde nah und fern — soweit sie sie überhaupt schon erreicht hat — die Kunde von dem plötz-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/525>, abgerufen am 23.07.2024.