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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Wanderungen in der Niederlausitz

nach Polen liegt, und daß die Grafen Brühl den polnischen weißen Adler im
Wappen führen, und so einfach und schlicht auch der altertümliche Fachwerkbau des
"Weißen Adlers" in Pforten den Reisenden anmutet, so enthält er doch in den
Logierzimmern des Oberstocks, zum Beispiel in den breiten Flügeltüren, noch einige
Andeutungen seines illustern Ursprungs und des vornehmen Verkehrs, der einst
durch diese Räume ging. In Pforten ist überhaupt das meiste herrschaftlich.
Herrschaftlich sind die graugrün gekleideten Förster und Waldwärter, die nach
wohlvollbrachter Meldung in der großen Gaststube in munterm Jägerlatein ihre
Erlebnisse austauschen, herrschaftlich ist der Wald viele Stunden ringsum, der See,
viele Häuser des Orts, die Chausseegeldereinnahme, ja sogar die Polizeigewalt, die
allerdings gerade im "Weißen Adler" ihre Schranke findet. "Denn sehen Sie,
bedeutete mich am Abend der den silberknöpfigen blauen Rock des Grafen tragende
Amtsdiener, wenn Sie hier in der kleinen Gaststube randalierten, so müßte ich Sie
arretieren, wenn sich aber in der großen tun, so hole ich meinen Kollegen aus
der Stadt." In der Tat trennt eine dünne Ziegelwand im Gasthause den Guts¬
bezirk vom Stadtbezirk. Übrigens ist dafür gesorgt, daß neben der gutsherrlichen,
und der städtischen Macht auch die staatliche nicht leer ausgehe: Pforten hat einen
königlich preußischen Amtsrichter. Er richtet unter den Fittichen des schwarzen
Adlers; will er freilich sein Mittagmahl einnehmen oder sein müdes Haupt zur
Ruhe legen, so verfällt auch er dem weißen Adler, denn er ist ein Junggesell.

Im Laufe des Nachmittags ließ der Regen nach, und wir gingen die breite
Straße vom Tore hinaus bis zum Westende des Orts, wo ihn ein schönes schlo߬
artiges Landhaus begrenzt. Alles das geht auf eine Anlage Vrühlscher Zeit zurück,
rechts davon liegt ein älterer Stadtkern. Es ist für den Kundigen immer lehrreich,
in einer solchen Stadtanlage wie in einem ausgeschlagnen Buche zu lesen. Hier
hatten wirs ohne Zweifel mit einer Musteranlage eines bestimmten wirtschaftlichen
"Systems," des Merkantilismus, zu tun, die einmal wegen ihres Urhebers, dann
aber auch wegen ihrer vortrefflichen Erhaltung merkwürdig ist. Die Anlage er¬
innert auffallend an die von Altdöbern, nur ist die Pförtener, der Größe der
Herrschaft entsprechend, umfassender; und wenn ich nicht aus Brühls Briefen wüßte,
daß hier der Herr von Heineken seine Hand im Spiele gehabt hätte, so würde ich
es aus der Art der Anlage geschlossen haben. Der Merkantilismus, dessen größter
Praktiker wohl Ludwigs des Vierzehnten Finanzminister Colbert war, geht darauf
aus, den wirtschaftlichen Wert und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Terri¬
toriums oder einer Grundherrschaft aufs höchste zu steigern, und zwar besonders
durch Erschließung und Verarbeitung der Bodenschätze (Metalle, Kohlen), durch Um¬
wandlung der Roh- in Kunstprodukte, Einführung neuer Industrien, Begünstigung
der Ausfuhr unter möglichster Beschränkung der Einfuhr. Er hat also ein volks-
frcundliches Gesicht, in seinem Wesen aber ist er mehr fürstenfreundlich als volks¬
freundlich; er nimmt am Bauern, am Arbeiter und am Gewerbtreibenden nur in¬
soweit Anteil, als er Geld ins Land bringt und steuerkräftig ist für die Kasse des
regierenden Herrn, von christlicher Liebe ist in ihm keine Spur. Er ist ein Produkt
der Aufklärung, ein Ergebnis spekulativer Vernunft, eine Begleiterscheinung des
egoistischen Absolutismus, eine Abart individualistischer, kapitalistischer Wirtschafts¬
weise. Drum ließ er es auch zum Beispiel in Frankreich geschehn, daß die Bauern,
die dem Staate zu wenig bare Steuer brachten, verarmten, wobei der Wert in¬
ländischer Kaufkraft völlig unterschätzt wurde. Zu Brühls Zeiten war der Merkan¬
tilismus in Deutschland etwas viel Bewundertes, seine Schäden waren noch nicht
erkannt. So sehen wir denn den Minister geschäftig, seine große Herrschaft nach
merkantilistischen Grundsätzen zu organisieren. Die geringen Anfänge einheimischer
Tuchmacherei und Leinenweberei werden zu fabrikmäßige" Betrieben umgestaltet;
ein Kommissionsrat Bernauer, der außerdem einen Weinhandel betreibt, wird mit
dem Verkauf der Waren beauftragt.

Namentlich Tuch für Livreen, woran Brühl selbst großen Bedarf hatte, wurde


Wanderungen in der Niederlausitz

nach Polen liegt, und daß die Grafen Brühl den polnischen weißen Adler im
Wappen führen, und so einfach und schlicht auch der altertümliche Fachwerkbau des
„Weißen Adlers" in Pforten den Reisenden anmutet, so enthält er doch in den
Logierzimmern des Oberstocks, zum Beispiel in den breiten Flügeltüren, noch einige
Andeutungen seines illustern Ursprungs und des vornehmen Verkehrs, der einst
durch diese Räume ging. In Pforten ist überhaupt das meiste herrschaftlich.
Herrschaftlich sind die graugrün gekleideten Förster und Waldwärter, die nach
wohlvollbrachter Meldung in der großen Gaststube in munterm Jägerlatein ihre
Erlebnisse austauschen, herrschaftlich ist der Wald viele Stunden ringsum, der See,
viele Häuser des Orts, die Chausseegeldereinnahme, ja sogar die Polizeigewalt, die
allerdings gerade im „Weißen Adler" ihre Schranke findet. „Denn sehen Sie,
bedeutete mich am Abend der den silberknöpfigen blauen Rock des Grafen tragende
Amtsdiener, wenn Sie hier in der kleinen Gaststube randalierten, so müßte ich Sie
arretieren, wenn sich aber in der großen tun, so hole ich meinen Kollegen aus
der Stadt." In der Tat trennt eine dünne Ziegelwand im Gasthause den Guts¬
bezirk vom Stadtbezirk. Übrigens ist dafür gesorgt, daß neben der gutsherrlichen,
und der städtischen Macht auch die staatliche nicht leer ausgehe: Pforten hat einen
königlich preußischen Amtsrichter. Er richtet unter den Fittichen des schwarzen
Adlers; will er freilich sein Mittagmahl einnehmen oder sein müdes Haupt zur
Ruhe legen, so verfällt auch er dem weißen Adler, denn er ist ein Junggesell.

Im Laufe des Nachmittags ließ der Regen nach, und wir gingen die breite
Straße vom Tore hinaus bis zum Westende des Orts, wo ihn ein schönes schlo߬
artiges Landhaus begrenzt. Alles das geht auf eine Anlage Vrühlscher Zeit zurück,
rechts davon liegt ein älterer Stadtkern. Es ist für den Kundigen immer lehrreich,
in einer solchen Stadtanlage wie in einem ausgeschlagnen Buche zu lesen. Hier
hatten wirs ohne Zweifel mit einer Musteranlage eines bestimmten wirtschaftlichen
„Systems," des Merkantilismus, zu tun, die einmal wegen ihres Urhebers, dann
aber auch wegen ihrer vortrefflichen Erhaltung merkwürdig ist. Die Anlage er¬
innert auffallend an die von Altdöbern, nur ist die Pförtener, der Größe der
Herrschaft entsprechend, umfassender; und wenn ich nicht aus Brühls Briefen wüßte,
daß hier der Herr von Heineken seine Hand im Spiele gehabt hätte, so würde ich
es aus der Art der Anlage geschlossen haben. Der Merkantilismus, dessen größter
Praktiker wohl Ludwigs des Vierzehnten Finanzminister Colbert war, geht darauf
aus, den wirtschaftlichen Wert und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Terri¬
toriums oder einer Grundherrschaft aufs höchste zu steigern, und zwar besonders
durch Erschließung und Verarbeitung der Bodenschätze (Metalle, Kohlen), durch Um¬
wandlung der Roh- in Kunstprodukte, Einführung neuer Industrien, Begünstigung
der Ausfuhr unter möglichster Beschränkung der Einfuhr. Er hat also ein volks-
frcundliches Gesicht, in seinem Wesen aber ist er mehr fürstenfreundlich als volks¬
freundlich; er nimmt am Bauern, am Arbeiter und am Gewerbtreibenden nur in¬
soweit Anteil, als er Geld ins Land bringt und steuerkräftig ist für die Kasse des
regierenden Herrn, von christlicher Liebe ist in ihm keine Spur. Er ist ein Produkt
der Aufklärung, ein Ergebnis spekulativer Vernunft, eine Begleiterscheinung des
egoistischen Absolutismus, eine Abart individualistischer, kapitalistischer Wirtschafts¬
weise. Drum ließ er es auch zum Beispiel in Frankreich geschehn, daß die Bauern,
die dem Staate zu wenig bare Steuer brachten, verarmten, wobei der Wert in¬
ländischer Kaufkraft völlig unterschätzt wurde. Zu Brühls Zeiten war der Merkan¬
tilismus in Deutschland etwas viel Bewundertes, seine Schäden waren noch nicht
erkannt. So sehen wir denn den Minister geschäftig, seine große Herrschaft nach
merkantilistischen Grundsätzen zu organisieren. Die geringen Anfänge einheimischer
Tuchmacherei und Leinenweberei werden zu fabrikmäßige» Betrieben umgestaltet;
ein Kommissionsrat Bernauer, der außerdem einen Weinhandel betreibt, wird mit
dem Verkauf der Waren beauftragt.

Namentlich Tuch für Livreen, woran Brühl selbst großen Bedarf hatte, wurde


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[0412] Wanderungen in der Niederlausitz nach Polen liegt, und daß die Grafen Brühl den polnischen weißen Adler im Wappen führen, und so einfach und schlicht auch der altertümliche Fachwerkbau des „Weißen Adlers" in Pforten den Reisenden anmutet, so enthält er doch in den Logierzimmern des Oberstocks, zum Beispiel in den breiten Flügeltüren, noch einige Andeutungen seines illustern Ursprungs und des vornehmen Verkehrs, der einst durch diese Räume ging. In Pforten ist überhaupt das meiste herrschaftlich. Herrschaftlich sind die graugrün gekleideten Förster und Waldwärter, die nach wohlvollbrachter Meldung in der großen Gaststube in munterm Jägerlatein ihre Erlebnisse austauschen, herrschaftlich ist der Wald viele Stunden ringsum, der See, viele Häuser des Orts, die Chausseegeldereinnahme, ja sogar die Polizeigewalt, die allerdings gerade im „Weißen Adler" ihre Schranke findet. „Denn sehen Sie, bedeutete mich am Abend der den silberknöpfigen blauen Rock des Grafen tragende Amtsdiener, wenn Sie hier in der kleinen Gaststube randalierten, so müßte ich Sie arretieren, wenn sich aber in der großen tun, so hole ich meinen Kollegen aus der Stadt." In der Tat trennt eine dünne Ziegelwand im Gasthause den Guts¬ bezirk vom Stadtbezirk. Übrigens ist dafür gesorgt, daß neben der gutsherrlichen, und der städtischen Macht auch die staatliche nicht leer ausgehe: Pforten hat einen königlich preußischen Amtsrichter. Er richtet unter den Fittichen des schwarzen Adlers; will er freilich sein Mittagmahl einnehmen oder sein müdes Haupt zur Ruhe legen, so verfällt auch er dem weißen Adler, denn er ist ein Junggesell. Im Laufe des Nachmittags ließ der Regen nach, und wir gingen die breite Straße vom Tore hinaus bis zum Westende des Orts, wo ihn ein schönes schlo߬ artiges Landhaus begrenzt. Alles das geht auf eine Anlage Vrühlscher Zeit zurück, rechts davon liegt ein älterer Stadtkern. Es ist für den Kundigen immer lehrreich, in einer solchen Stadtanlage wie in einem ausgeschlagnen Buche zu lesen. Hier hatten wirs ohne Zweifel mit einer Musteranlage eines bestimmten wirtschaftlichen „Systems," des Merkantilismus, zu tun, die einmal wegen ihres Urhebers, dann aber auch wegen ihrer vortrefflichen Erhaltung merkwürdig ist. Die Anlage er¬ innert auffallend an die von Altdöbern, nur ist die Pförtener, der Größe der Herrschaft entsprechend, umfassender; und wenn ich nicht aus Brühls Briefen wüßte, daß hier der Herr von Heineken seine Hand im Spiele gehabt hätte, so würde ich es aus der Art der Anlage geschlossen haben. Der Merkantilismus, dessen größter Praktiker wohl Ludwigs des Vierzehnten Finanzminister Colbert war, geht darauf aus, den wirtschaftlichen Wert und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Terri¬ toriums oder einer Grundherrschaft aufs höchste zu steigern, und zwar besonders durch Erschließung und Verarbeitung der Bodenschätze (Metalle, Kohlen), durch Um¬ wandlung der Roh- in Kunstprodukte, Einführung neuer Industrien, Begünstigung der Ausfuhr unter möglichster Beschränkung der Einfuhr. Er hat also ein volks- frcundliches Gesicht, in seinem Wesen aber ist er mehr fürstenfreundlich als volks¬ freundlich; er nimmt am Bauern, am Arbeiter und am Gewerbtreibenden nur in¬ soweit Anteil, als er Geld ins Land bringt und steuerkräftig ist für die Kasse des regierenden Herrn, von christlicher Liebe ist in ihm keine Spur. Er ist ein Produkt der Aufklärung, ein Ergebnis spekulativer Vernunft, eine Begleiterscheinung des egoistischen Absolutismus, eine Abart individualistischer, kapitalistischer Wirtschafts¬ weise. Drum ließ er es auch zum Beispiel in Frankreich geschehn, daß die Bauern, die dem Staate zu wenig bare Steuer brachten, verarmten, wobei der Wert in¬ ländischer Kaufkraft völlig unterschätzt wurde. Zu Brühls Zeiten war der Merkan¬ tilismus in Deutschland etwas viel Bewundertes, seine Schäden waren noch nicht erkannt. So sehen wir denn den Minister geschäftig, seine große Herrschaft nach merkantilistischen Grundsätzen zu organisieren. Die geringen Anfänge einheimischer Tuchmacherei und Leinenweberei werden zu fabrikmäßige» Betrieben umgestaltet; ein Kommissionsrat Bernauer, der außerdem einen Weinhandel betreibt, wird mit dem Verkauf der Waren beauftragt. Namentlich Tuch für Livreen, woran Brühl selbst großen Bedarf hatte, wurde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/412>, abgerufen am 23.07.2024.