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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

pflichtet, wegen aller gerichtlich strafbaren und verfolgbaren Handlungen einzu¬
schreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Und hiermit nicht
zufrieden, droht der Gesetzgeber (Paragraph 346 des Strafgesetzbuches) dem Beamten
mit Zuchthaus, wenn er in der Absicht, jemand der gesetzlichen Strafe rechtswidrig
zu entziehn, die Verfolgung einer strafbaren Handlung unterläßt. Vor kurzem fiel
der Bürgermeister einer größern Stadt diesem Gesetz zum Opfer und wurde in
der ersten Instanz mit einer Gefängnisstrafe belegt, für die man sich sonst schon
einen kleinen Einbruch leisten kann. Der Gendarm, der Schutzmann kann Vernunft
und Milde walten lassen und ohne Anzeige zu erstatten den Übeltäter warnen.
Oft liest man in solchen Anzeigen: "Da ich den p. Müller mehrmals vergeblich
verwarnt habe, zeige ich ihn hiermit zur Bestrafung an." Wehe aber dem Polizei¬
direktor oder dem Staatsanwalt, der eine Bagatellcmzeige oder eine niederträchtige
Denunziation in den Papierkorb befördert! Zwar braucht der Staatsanwalt nur
dann die Anklage zu erheben, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen,
und das Gericht soll das Verfahren nur eröffnen, wenn der Angeschuldigte einer
strafbaren Handlung hinreichend verdächtig erscheint. Es gibt nun aber viele Fälle,
in denen beide Voraussetzungen vorliegen, dennoch aber der geübte und erfahrne
Praktiker, also sowohl der Staatsanwalt wie der Gerichtsdezernent der Sache an¬
sieht, daß dabei nichts herauskommen wird. Das Gesetz zwingt gleichwohl beide
Organe, die Sache zu verfolgen; wie man erwarten konnte, gelangt das erkennende
Gericht zu einer Freisprechung. Die Zahl der nur auf diese Weise erklärbaren
Freisprechungen ist statistisch so groß, daß wir darin einen öffentlichen Mißstand
sehen müssen. Man bedenke, was ein Freispruch bedeutet! Zunächst von dem
Standpunkte des Angeklagten. War er schuldig, so hat ihm das Gesetz ganz un¬
klugerweise zum Glorienschein des Märtyrers verholfen, ihm das formelle Recht
gegeben, allenthalben über Vergewaltigung zu klagen. Und er wird nur zu viel
geneigte Ohren finden! War er unschuldig, so bedeuten die Wochen oder die Monate
des gerichtlichen Verfahrens, auch wenn er nicht in Haft genommen war, eine
schwere moralische Qual, einen unersetzlichen Verlust an Daseinsfreude und an Zu¬
trauen zu der Zweckmäßigkeit der Staatseinrichtungen. Was die übrigen an dem
Prozeß beteiligten Personen anlangt, so ist über die allseitige Mißliebigkeit der ge¬
setzlichen Zeugnispflicht, über die unzulänglichen Gerichtsräume, über die Öde des
Wartens und Herumstehns und die knausrige Bemessung der Zeugengebühren schon
so viel geschrieben worden, daß es hier nicht noch einmal zu geschehn braucht.
Zuletzt kommen auch noch die Überlastung der Gerichte und die Kostenfrage in
Betracht; die Kosten zweckloser Strafprozesse fallen der Staatskasse, also dem Steuer¬
zahler zur Last, immer, wenn ein Freispruch geschieht, meist auch im Falle der
Verurteilung. Durch den bloßen Hinweis auf den Kwileckiprozeß unseligen An¬
denkens glaube ich der Notwendigkeit weiterer Darlegung in dieser Richtung ent¬
hoben zu sein.

Wir fassen unsre Ansicht so zusammen: Jede Freisprechung bedeutet einen
Verlust an dem Ansehen des Staates, jeder unnötig eingeleitete Strafprozeß mehrt
die Unzufriedenheit und verbraucht wertvolles Staatsgut.

Was ist nun zu tun? Das einfachste und logischste wäre allerdings, die er¬
wähnten Paragraphen kurzerhand zu beseitigen. Der Gesetzgeber, d. h. der Staat
darf sich nicht die Blöße geben, seine eignen Organe als mutmaßliche Verbrecher
zu bedrohen, wenn sie ihrem besten Ermessen folgen; er dürfte es billigerweise
beanspruchen können, daß man seinen akademisch ausgebildeten, nach langer Vor¬
bereitungszeit angestellten Beamten kein kränkendes Mißtrauen entgegenbringt und
ihm, dem Dienstherrn, das Zutrauen schenkt, sie nötigenfalls im Aufsichtswege auf
der richtigen Bahn zu halten. Es ist längst als ein Irrtum erkannt, daß man
meint, man könne durch Gesetze einen geordneten Gang der Staatsmaschine ge¬
währleisten. Solche Gesetze gibt es auch in Venezuela. Wenn es bei uns weniger
uneben zugeht als in Venezuela, wem muß man es verdanken als der innern


Maßgebliches und Unmaßgebliches

pflichtet, wegen aller gerichtlich strafbaren und verfolgbaren Handlungen einzu¬
schreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Und hiermit nicht
zufrieden, droht der Gesetzgeber (Paragraph 346 des Strafgesetzbuches) dem Beamten
mit Zuchthaus, wenn er in der Absicht, jemand der gesetzlichen Strafe rechtswidrig
zu entziehn, die Verfolgung einer strafbaren Handlung unterläßt. Vor kurzem fiel
der Bürgermeister einer größern Stadt diesem Gesetz zum Opfer und wurde in
der ersten Instanz mit einer Gefängnisstrafe belegt, für die man sich sonst schon
einen kleinen Einbruch leisten kann. Der Gendarm, der Schutzmann kann Vernunft
und Milde walten lassen und ohne Anzeige zu erstatten den Übeltäter warnen.
Oft liest man in solchen Anzeigen: „Da ich den p. Müller mehrmals vergeblich
verwarnt habe, zeige ich ihn hiermit zur Bestrafung an." Wehe aber dem Polizei¬
direktor oder dem Staatsanwalt, der eine Bagatellcmzeige oder eine niederträchtige
Denunziation in den Papierkorb befördert! Zwar braucht der Staatsanwalt nur
dann die Anklage zu erheben, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen,
und das Gericht soll das Verfahren nur eröffnen, wenn der Angeschuldigte einer
strafbaren Handlung hinreichend verdächtig erscheint. Es gibt nun aber viele Fälle,
in denen beide Voraussetzungen vorliegen, dennoch aber der geübte und erfahrne
Praktiker, also sowohl der Staatsanwalt wie der Gerichtsdezernent der Sache an¬
sieht, daß dabei nichts herauskommen wird. Das Gesetz zwingt gleichwohl beide
Organe, die Sache zu verfolgen; wie man erwarten konnte, gelangt das erkennende
Gericht zu einer Freisprechung. Die Zahl der nur auf diese Weise erklärbaren
Freisprechungen ist statistisch so groß, daß wir darin einen öffentlichen Mißstand
sehen müssen. Man bedenke, was ein Freispruch bedeutet! Zunächst von dem
Standpunkte des Angeklagten. War er schuldig, so hat ihm das Gesetz ganz un¬
klugerweise zum Glorienschein des Märtyrers verholfen, ihm das formelle Recht
gegeben, allenthalben über Vergewaltigung zu klagen. Und er wird nur zu viel
geneigte Ohren finden! War er unschuldig, so bedeuten die Wochen oder die Monate
des gerichtlichen Verfahrens, auch wenn er nicht in Haft genommen war, eine
schwere moralische Qual, einen unersetzlichen Verlust an Daseinsfreude und an Zu¬
trauen zu der Zweckmäßigkeit der Staatseinrichtungen. Was die übrigen an dem
Prozeß beteiligten Personen anlangt, so ist über die allseitige Mißliebigkeit der ge¬
setzlichen Zeugnispflicht, über die unzulänglichen Gerichtsräume, über die Öde des
Wartens und Herumstehns und die knausrige Bemessung der Zeugengebühren schon
so viel geschrieben worden, daß es hier nicht noch einmal zu geschehn braucht.
Zuletzt kommen auch noch die Überlastung der Gerichte und die Kostenfrage in
Betracht; die Kosten zweckloser Strafprozesse fallen der Staatskasse, also dem Steuer¬
zahler zur Last, immer, wenn ein Freispruch geschieht, meist auch im Falle der
Verurteilung. Durch den bloßen Hinweis auf den Kwileckiprozeß unseligen An¬
denkens glaube ich der Notwendigkeit weiterer Darlegung in dieser Richtung ent¬
hoben zu sein.

Wir fassen unsre Ansicht so zusammen: Jede Freisprechung bedeutet einen
Verlust an dem Ansehen des Staates, jeder unnötig eingeleitete Strafprozeß mehrt
die Unzufriedenheit und verbraucht wertvolles Staatsgut.

Was ist nun zu tun? Das einfachste und logischste wäre allerdings, die er¬
wähnten Paragraphen kurzerhand zu beseitigen. Der Gesetzgeber, d. h. der Staat
darf sich nicht die Blöße geben, seine eignen Organe als mutmaßliche Verbrecher
zu bedrohen, wenn sie ihrem besten Ermessen folgen; er dürfte es billigerweise
beanspruchen können, daß man seinen akademisch ausgebildeten, nach langer Vor¬
bereitungszeit angestellten Beamten kein kränkendes Mißtrauen entgegenbringt und
ihm, dem Dienstherrn, das Zutrauen schenkt, sie nötigenfalls im Aufsichtswege auf
der richtigen Bahn zu halten. Es ist längst als ein Irrtum erkannt, daß man
meint, man könne durch Gesetze einen geordneten Gang der Staatsmaschine ge¬
währleisten. Solche Gesetze gibt es auch in Venezuela. Wenn es bei uns weniger
uneben zugeht als in Venezuela, wem muß man es verdanken als der innern


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[0245] Maßgebliches und Unmaßgebliches pflichtet, wegen aller gerichtlich strafbaren und verfolgbaren Handlungen einzu¬ schreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Und hiermit nicht zufrieden, droht der Gesetzgeber (Paragraph 346 des Strafgesetzbuches) dem Beamten mit Zuchthaus, wenn er in der Absicht, jemand der gesetzlichen Strafe rechtswidrig zu entziehn, die Verfolgung einer strafbaren Handlung unterläßt. Vor kurzem fiel der Bürgermeister einer größern Stadt diesem Gesetz zum Opfer und wurde in der ersten Instanz mit einer Gefängnisstrafe belegt, für die man sich sonst schon einen kleinen Einbruch leisten kann. Der Gendarm, der Schutzmann kann Vernunft und Milde walten lassen und ohne Anzeige zu erstatten den Übeltäter warnen. Oft liest man in solchen Anzeigen: „Da ich den p. Müller mehrmals vergeblich verwarnt habe, zeige ich ihn hiermit zur Bestrafung an." Wehe aber dem Polizei¬ direktor oder dem Staatsanwalt, der eine Bagatellcmzeige oder eine niederträchtige Denunziation in den Papierkorb befördert! Zwar braucht der Staatsanwalt nur dann die Anklage zu erheben, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, und das Gericht soll das Verfahren nur eröffnen, wenn der Angeschuldigte einer strafbaren Handlung hinreichend verdächtig erscheint. Es gibt nun aber viele Fälle, in denen beide Voraussetzungen vorliegen, dennoch aber der geübte und erfahrne Praktiker, also sowohl der Staatsanwalt wie der Gerichtsdezernent der Sache an¬ sieht, daß dabei nichts herauskommen wird. Das Gesetz zwingt gleichwohl beide Organe, die Sache zu verfolgen; wie man erwarten konnte, gelangt das erkennende Gericht zu einer Freisprechung. Die Zahl der nur auf diese Weise erklärbaren Freisprechungen ist statistisch so groß, daß wir darin einen öffentlichen Mißstand sehen müssen. Man bedenke, was ein Freispruch bedeutet! Zunächst von dem Standpunkte des Angeklagten. War er schuldig, so hat ihm das Gesetz ganz un¬ klugerweise zum Glorienschein des Märtyrers verholfen, ihm das formelle Recht gegeben, allenthalben über Vergewaltigung zu klagen. Und er wird nur zu viel geneigte Ohren finden! War er unschuldig, so bedeuten die Wochen oder die Monate des gerichtlichen Verfahrens, auch wenn er nicht in Haft genommen war, eine schwere moralische Qual, einen unersetzlichen Verlust an Daseinsfreude und an Zu¬ trauen zu der Zweckmäßigkeit der Staatseinrichtungen. Was die übrigen an dem Prozeß beteiligten Personen anlangt, so ist über die allseitige Mißliebigkeit der ge¬ setzlichen Zeugnispflicht, über die unzulänglichen Gerichtsräume, über die Öde des Wartens und Herumstehns und die knausrige Bemessung der Zeugengebühren schon so viel geschrieben worden, daß es hier nicht noch einmal zu geschehn braucht. Zuletzt kommen auch noch die Überlastung der Gerichte und die Kostenfrage in Betracht; die Kosten zweckloser Strafprozesse fallen der Staatskasse, also dem Steuer¬ zahler zur Last, immer, wenn ein Freispruch geschieht, meist auch im Falle der Verurteilung. Durch den bloßen Hinweis auf den Kwileckiprozeß unseligen An¬ denkens glaube ich der Notwendigkeit weiterer Darlegung in dieser Richtung ent¬ hoben zu sein. Wir fassen unsre Ansicht so zusammen: Jede Freisprechung bedeutet einen Verlust an dem Ansehen des Staates, jeder unnötig eingeleitete Strafprozeß mehrt die Unzufriedenheit und verbraucht wertvolles Staatsgut. Was ist nun zu tun? Das einfachste und logischste wäre allerdings, die er¬ wähnten Paragraphen kurzerhand zu beseitigen. Der Gesetzgeber, d. h. der Staat darf sich nicht die Blöße geben, seine eignen Organe als mutmaßliche Verbrecher zu bedrohen, wenn sie ihrem besten Ermessen folgen; er dürfte es billigerweise beanspruchen können, daß man seinen akademisch ausgebildeten, nach langer Vor¬ bereitungszeit angestellten Beamten kein kränkendes Mißtrauen entgegenbringt und ihm, dem Dienstherrn, das Zutrauen schenkt, sie nötigenfalls im Aufsichtswege auf der richtigen Bahn zu halten. Es ist längst als ein Irrtum erkannt, daß man meint, man könne durch Gesetze einen geordneten Gang der Staatsmaschine ge¬ währleisten. Solche Gesetze gibt es auch in Venezuela. Wenn es bei uns weniger uneben zugeht als in Venezuela, wem muß man es verdanken als der innern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/245>, abgerufen am 23.07.2024.