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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Die kleine Marina und ihr Gemahl

Mademoiselle de la Tour d'Auvergne war sehr blond und sehr kokett in ein
Kostüm gekleidet, das ihrem Aussehen entsprach. Durch eine große, mit Blumen¬
sträußen gestickte Tüllschürze sah mau ihr langes blauseidnes Kleid, das über kleine
Paniers gerade auf die Füße herabfiel. Auf dem Kopf über dem blonden Haar
trug sie eine prunklose Florhaube mit einem Tollenstreifen eingefaßt und unter dem
Kinn zusammengebunden^

Als sie von ihrem Stuhl aufstand, griff sie mit zwei Fingerspitzen in die
beiden Seiten ihres langen Kleides und verneigte sich tief vor Doiia Marina und
ihrer Mutter. Aber dann wußte sie nicht mehr, was sie tun sollte, und in unge¬
künstelt kindlicher Verlegenheit steckte sie -- ganz wie ein andres Kind -- den
Zeigefinger in den Mund.

Sie ist entzückend ! sagte Marina beschützend und zuvorkommend. Das Pflegten
die meisten Erwachsenen von ihr selbst zu sagen, wenn sie ihnen vorgestellt wurde,
und das kam ihr nun so natürlich über die Lippen.

Nur zu blond I sagte die Mutter kritisch, während ihre Augen zärtlich dem
Kinde folgten. Und dann, fürchte ich, hat sie Anlage, ungeschickt zu werden.

Sie untersuchte das Kleid des kleinen Mädchens und gab Befehl, daß das
Schnürleibchen fester zusammengezogen werden solle.

Wenn Sie nicht alles tun, das zu verhindern, sagte sie vorwurfsvoll, fast
heftig zu der Gouvernante, wird Mademoiselle de la Tour d'Auvergne, wenn sie
fünfzehn Jahre alt ist, einer flämischen Kuh gleichen.

Dann wurde Fräulein Meile von ihrer Mutter aufgefordert, eine Probe ihrer
Fertigkeiten zu geben. Sie las allerliebst eine Fabel in Versen vor und erklärte
einen "Avis" über "das wahre Verdienst." Die Herzogin war ganz zufrieden
mit der geistigen Entwicklung ihrer Tochter.

Als die Kleine geendet hatte, verneigte sie sich wie eine Schauspielerin, die
ihrem Publikum dankt. Und während sich die Mutter noch eifrig mit der Gouvernante
unterhielt, ging die kleine Meile verlegen hin und nahm Marina bei der Hand.

Willst du meine Puppe sehen? fragte sie mit natürlicher Kinderstimme -- sie
lispelte ein wenig -- und sah mit ihren klaren, hyazinthblauen Augen, die ganz
denen der Mutter glichen, dem fremden jungen Mädchen ins Gesicht.

Die Marquise von El Viso vergaß, sich verletzt zu fühlen, daß sie fast wie
eine Gleichaltrige behandelt wurde. Sie nahm wohlwollend die kleine Fünfjährige
bei der Hand, und sie gingen zu den Puppen, die in einem Wandschrank mit
Spiegelglas am andern Ende des Zimmers aufbewahrt wurden.

Die erwähnte Puppe sah schrecklich aus. Sie war mit Florlappen umwunden
und hatte nur ein Auge.

Hast du keine bessere? fragte Marina mit unverhohlner Geringschätzung.

Doch -- aber Mimi habe ich am längsten gehabt. Sie sah zu dem großen
Mädchen auf und sagte dann überzeugend: Es macht gar nichts, daß sie nur ein
Auge hat, denn sie glaubt selbst, daß sie zwei hat.

Die verkrüppelte Puppe hatte ihr eignes Spielzeug, womit sie sich in ihrer
Abgeschlossenheit hinter den Spiegelglastüren trösten sollte: ungleiche Schachfiguren,
Porzellanscherben, runde Steine und all dergleichen, was ein Kind findet und in
die Tasche steckt; das feinste aber war ein großes Prisma, das zu einem Kron¬
leuchter gehört hatte.'

Sieh! sagte Mademoiselle de la Tour dAuvergne und hielt entzückt das Stück
Glas gegen das Tageslicht, sodaß sich dieses in allen Regenbogenfarben darin
brach. Das ist ein Stück von der Sonne, das ich selbst hinter der Ausfahrt ge¬
funden habe. Und sie fügte geheimnisvoll und vergnügt hinzu: Wenn Mimi das
da drinnen bei sich hat, kann es nie dunkel im Schrank werden.

Sie sah ein wenig unsicher, aber doch naiv überzeugend zu Marina auf mit
ihren klaren, vertrauensvollen Augen, die unter dem flachsgelben Haar blinzelten,
das in natürlichen Locken unter dem Tollenstreifen der strammgebundnen Florhaube


Grenzboten IU 1904 31
Die kleine Marina und ihr Gemahl

Mademoiselle de la Tour d'Auvergne war sehr blond und sehr kokett in ein
Kostüm gekleidet, das ihrem Aussehen entsprach. Durch eine große, mit Blumen¬
sträußen gestickte Tüllschürze sah mau ihr langes blauseidnes Kleid, das über kleine
Paniers gerade auf die Füße herabfiel. Auf dem Kopf über dem blonden Haar
trug sie eine prunklose Florhaube mit einem Tollenstreifen eingefaßt und unter dem
Kinn zusammengebunden^

Als sie von ihrem Stuhl aufstand, griff sie mit zwei Fingerspitzen in die
beiden Seiten ihres langen Kleides und verneigte sich tief vor Doiia Marina und
ihrer Mutter. Aber dann wußte sie nicht mehr, was sie tun sollte, und in unge¬
künstelt kindlicher Verlegenheit steckte sie — ganz wie ein andres Kind — den
Zeigefinger in den Mund.

Sie ist entzückend ! sagte Marina beschützend und zuvorkommend. Das Pflegten
die meisten Erwachsenen von ihr selbst zu sagen, wenn sie ihnen vorgestellt wurde,
und das kam ihr nun so natürlich über die Lippen.

Nur zu blond I sagte die Mutter kritisch, während ihre Augen zärtlich dem
Kinde folgten. Und dann, fürchte ich, hat sie Anlage, ungeschickt zu werden.

Sie untersuchte das Kleid des kleinen Mädchens und gab Befehl, daß das
Schnürleibchen fester zusammengezogen werden solle.

Wenn Sie nicht alles tun, das zu verhindern, sagte sie vorwurfsvoll, fast
heftig zu der Gouvernante, wird Mademoiselle de la Tour d'Auvergne, wenn sie
fünfzehn Jahre alt ist, einer flämischen Kuh gleichen.

Dann wurde Fräulein Meile von ihrer Mutter aufgefordert, eine Probe ihrer
Fertigkeiten zu geben. Sie las allerliebst eine Fabel in Versen vor und erklärte
einen „Avis" über „das wahre Verdienst." Die Herzogin war ganz zufrieden
mit der geistigen Entwicklung ihrer Tochter.

Als die Kleine geendet hatte, verneigte sie sich wie eine Schauspielerin, die
ihrem Publikum dankt. Und während sich die Mutter noch eifrig mit der Gouvernante
unterhielt, ging die kleine Meile verlegen hin und nahm Marina bei der Hand.

Willst du meine Puppe sehen? fragte sie mit natürlicher Kinderstimme — sie
lispelte ein wenig — und sah mit ihren klaren, hyazinthblauen Augen, die ganz
denen der Mutter glichen, dem fremden jungen Mädchen ins Gesicht.

Die Marquise von El Viso vergaß, sich verletzt zu fühlen, daß sie fast wie
eine Gleichaltrige behandelt wurde. Sie nahm wohlwollend die kleine Fünfjährige
bei der Hand, und sie gingen zu den Puppen, die in einem Wandschrank mit
Spiegelglas am andern Ende des Zimmers aufbewahrt wurden.

Die erwähnte Puppe sah schrecklich aus. Sie war mit Florlappen umwunden
und hatte nur ein Auge.

Hast du keine bessere? fragte Marina mit unverhohlner Geringschätzung.

Doch — aber Mimi habe ich am längsten gehabt. Sie sah zu dem großen
Mädchen auf und sagte dann überzeugend: Es macht gar nichts, daß sie nur ein
Auge hat, denn sie glaubt selbst, daß sie zwei hat.

Die verkrüppelte Puppe hatte ihr eignes Spielzeug, womit sie sich in ihrer
Abgeschlossenheit hinter den Spiegelglastüren trösten sollte: ungleiche Schachfiguren,
Porzellanscherben, runde Steine und all dergleichen, was ein Kind findet und in
die Tasche steckt; das feinste aber war ein großes Prisma, das zu einem Kron¬
leuchter gehört hatte.'

Sieh! sagte Mademoiselle de la Tour dAuvergne und hielt entzückt das Stück
Glas gegen das Tageslicht, sodaß sich dieses in allen Regenbogenfarben darin
brach. Das ist ein Stück von der Sonne, das ich selbst hinter der Ausfahrt ge¬
funden habe. Und sie fügte geheimnisvoll und vergnügt hinzu: Wenn Mimi das
da drinnen bei sich hat, kann es nie dunkel im Schrank werden.

Sie sah ein wenig unsicher, aber doch naiv überzeugend zu Marina auf mit
ihren klaren, vertrauensvollen Augen, die unter dem flachsgelben Haar blinzelten,
das in natürlichen Locken unter dem Tollenstreifen der strammgebundnen Florhaube


Grenzboten IU 1904 31
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[0235] Die kleine Marina und ihr Gemahl Mademoiselle de la Tour d'Auvergne war sehr blond und sehr kokett in ein Kostüm gekleidet, das ihrem Aussehen entsprach. Durch eine große, mit Blumen¬ sträußen gestickte Tüllschürze sah mau ihr langes blauseidnes Kleid, das über kleine Paniers gerade auf die Füße herabfiel. Auf dem Kopf über dem blonden Haar trug sie eine prunklose Florhaube mit einem Tollenstreifen eingefaßt und unter dem Kinn zusammengebunden^ Als sie von ihrem Stuhl aufstand, griff sie mit zwei Fingerspitzen in die beiden Seiten ihres langen Kleides und verneigte sich tief vor Doiia Marina und ihrer Mutter. Aber dann wußte sie nicht mehr, was sie tun sollte, und in unge¬ künstelt kindlicher Verlegenheit steckte sie — ganz wie ein andres Kind — den Zeigefinger in den Mund. Sie ist entzückend ! sagte Marina beschützend und zuvorkommend. Das Pflegten die meisten Erwachsenen von ihr selbst zu sagen, wenn sie ihnen vorgestellt wurde, und das kam ihr nun so natürlich über die Lippen. Nur zu blond I sagte die Mutter kritisch, während ihre Augen zärtlich dem Kinde folgten. Und dann, fürchte ich, hat sie Anlage, ungeschickt zu werden. Sie untersuchte das Kleid des kleinen Mädchens und gab Befehl, daß das Schnürleibchen fester zusammengezogen werden solle. Wenn Sie nicht alles tun, das zu verhindern, sagte sie vorwurfsvoll, fast heftig zu der Gouvernante, wird Mademoiselle de la Tour d'Auvergne, wenn sie fünfzehn Jahre alt ist, einer flämischen Kuh gleichen. Dann wurde Fräulein Meile von ihrer Mutter aufgefordert, eine Probe ihrer Fertigkeiten zu geben. Sie las allerliebst eine Fabel in Versen vor und erklärte einen „Avis" über „das wahre Verdienst." Die Herzogin war ganz zufrieden mit der geistigen Entwicklung ihrer Tochter. Als die Kleine geendet hatte, verneigte sie sich wie eine Schauspielerin, die ihrem Publikum dankt. Und während sich die Mutter noch eifrig mit der Gouvernante unterhielt, ging die kleine Meile verlegen hin und nahm Marina bei der Hand. Willst du meine Puppe sehen? fragte sie mit natürlicher Kinderstimme — sie lispelte ein wenig — und sah mit ihren klaren, hyazinthblauen Augen, die ganz denen der Mutter glichen, dem fremden jungen Mädchen ins Gesicht. Die Marquise von El Viso vergaß, sich verletzt zu fühlen, daß sie fast wie eine Gleichaltrige behandelt wurde. Sie nahm wohlwollend die kleine Fünfjährige bei der Hand, und sie gingen zu den Puppen, die in einem Wandschrank mit Spiegelglas am andern Ende des Zimmers aufbewahrt wurden. Die erwähnte Puppe sah schrecklich aus. Sie war mit Florlappen umwunden und hatte nur ein Auge. Hast du keine bessere? fragte Marina mit unverhohlner Geringschätzung. Doch — aber Mimi habe ich am längsten gehabt. Sie sah zu dem großen Mädchen auf und sagte dann überzeugend: Es macht gar nichts, daß sie nur ein Auge hat, denn sie glaubt selbst, daß sie zwei hat. Die verkrüppelte Puppe hatte ihr eignes Spielzeug, womit sie sich in ihrer Abgeschlossenheit hinter den Spiegelglastüren trösten sollte: ungleiche Schachfiguren, Porzellanscherben, runde Steine und all dergleichen, was ein Kind findet und in die Tasche steckt; das feinste aber war ein großes Prisma, das zu einem Kron¬ leuchter gehört hatte.' Sieh! sagte Mademoiselle de la Tour dAuvergne und hielt entzückt das Stück Glas gegen das Tageslicht, sodaß sich dieses in allen Regenbogenfarben darin brach. Das ist ein Stück von der Sonne, das ich selbst hinter der Ausfahrt ge¬ funden habe. Und sie fügte geheimnisvoll und vergnügt hinzu: Wenn Mimi das da drinnen bei sich hat, kann es nie dunkel im Schrank werden. Sie sah ein wenig unsicher, aber doch naiv überzeugend zu Marina auf mit ihren klaren, vertrauensvollen Augen, die unter dem flachsgelben Haar blinzelten, das in natürlichen Locken unter dem Tollenstreifen der strammgebundnen Florhaube Grenzboten IU 1904 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/235>, abgerufen am 23.07.2024.