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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Goethe als Lrneuercr

gangner Geschichte, von irgendwelchem Geschehen in früherer Zeit, die man
nicht nützt, sind eine schwere Last, wir besitzen sie erst, indem wir sie zu
Zeigern und Siegeln unsers Lebens machen, wie wir deren in erhöhten
Stunden bedürfen. Die Frage aber nach dem Sinn der Gesamtgeschichte, die
sich hier erhebt, ist nicht so zu beantworten, daß die Geschichte ein bloßes
ewiges Wiederholen des Lebens sei, sondern so: sie ist eine immer wiederholte
Erneuerung des Lebens unter fortwährend vermehrten, erweiterten und ver¬
feinerten Bedingungen und darum auch mit allmählich umfangreichern und
innigern Ergebnisse. Im Herbst der Goethischen Jahreszeiten steht das
Distichon:ae


Was ist ds Hiligste? Das, was dem und ewig die Geister,
Tiefer und tiefer gefühlt, immer nur einiger macht.

Tiefer und tiefer gefühlt: in dieser Steigerung liegt das eigentlich Unterscheidende
der Zeitalter, woraus sich für den Historiker das Gebot ergibt, nicht nach
Einzelcreignissen im Völkerleben, sondern nach deutlich wahrnehmbaren Ver-
feinerungsstufeu in der geistigen Entwicklung die Geschichte zu gliedern.

Der Künstler als Maler hat es mit einem doppelten Gegenstand zu tun,
dem innerlich-äußerlich geschauten Vorwurf und den auf die Leinwand zu
setzenden Farben. Seinen Vorwurf kann er durchdenkend und unbefangen
sehend erneuern, aber auch seine Farben technisch auf Reinheit und dauer¬
hafte Verbindung und daraus fließende Leucht- und Haltkraft prüfen und ver¬
bessern, erneuern. Was dem Maler die Farbe, das ist für den Dichter die
Sprache. Goethe hat mit der deutschen Sprache trotz der spielenden Sicher¬
heit, mit der ihm gegeben war, sie zu handhaben, auch gerungen. In den
Venezianischen Epigrammen hat er einmal ihre Unüberwindlichkeit beklagt, im
Sinne der Wanderer aber hält er später wenigstens daran fest: "Wir haben das
unabweichliche, täglich zu erneuernde grundernstliche Bestreben: das Wort mit dem
Empfundnen, Geschaute", Gedachten, Erfahrnen, Jmaginierten, Vernünftigen
möglichst unmittelbar zusammentreffend zu erfassen." Dieses Gebot wendet
sich gegen schematiches Gerede zugunsten einer aus dem Quell der Empfindung
unmittelbar herausspringenden Ausdrucksweise oder einer unter strenger Prüfung
der Vernunft von Fall zu Fall gerechtfertigten; Goethe ist aber auch der Sprache
gern etymologisch zuleide gegangen und hat dabei Verblaßtes zu neuem, eigen¬
tümlichem Leben erweckt. Welche Kraft erhält zum Beispiel das Wort "dar¬
stellen" durch halbe Erneuerung seines eigentlichen Sinnes in einem Verse wie:


Welch ein Werkzeug ihr gebrauchet,
Stellet euch als Brüder dar!

Wie fruchtbar ist die Zusammenstellung des objektiven und des subjektiven
Sinnes von ^beständig" in dem Zwischengesang der Logenfeier:


Denn die Gesinnung, die beständige,
Sie macht allein den Menschen dauerhaft.

Das alte "außer sich geraten" verwandelt sich für ihn in die neue, äußer¬
lich gemäßigte Variante "aus seinem Zustand heraustreten" -- von Nausikaa
als Heldin des geplanten Dramas zeichnete er auf: "treffliche Jungfrau, von


Goethe als Lrneuercr

gangner Geschichte, von irgendwelchem Geschehen in früherer Zeit, die man
nicht nützt, sind eine schwere Last, wir besitzen sie erst, indem wir sie zu
Zeigern und Siegeln unsers Lebens machen, wie wir deren in erhöhten
Stunden bedürfen. Die Frage aber nach dem Sinn der Gesamtgeschichte, die
sich hier erhebt, ist nicht so zu beantworten, daß die Geschichte ein bloßes
ewiges Wiederholen des Lebens sei, sondern so: sie ist eine immer wiederholte
Erneuerung des Lebens unter fortwährend vermehrten, erweiterten und ver¬
feinerten Bedingungen und darum auch mit allmählich umfangreichern und
innigern Ergebnisse. Im Herbst der Goethischen Jahreszeiten steht das
Distichon:ae


Was ist ds Hiligste? Das, was dem und ewig die Geister,
Tiefer und tiefer gefühlt, immer nur einiger macht.

Tiefer und tiefer gefühlt: in dieser Steigerung liegt das eigentlich Unterscheidende
der Zeitalter, woraus sich für den Historiker das Gebot ergibt, nicht nach
Einzelcreignissen im Völkerleben, sondern nach deutlich wahrnehmbaren Ver-
feinerungsstufeu in der geistigen Entwicklung die Geschichte zu gliedern.

Der Künstler als Maler hat es mit einem doppelten Gegenstand zu tun,
dem innerlich-äußerlich geschauten Vorwurf und den auf die Leinwand zu
setzenden Farben. Seinen Vorwurf kann er durchdenkend und unbefangen
sehend erneuern, aber auch seine Farben technisch auf Reinheit und dauer¬
hafte Verbindung und daraus fließende Leucht- und Haltkraft prüfen und ver¬
bessern, erneuern. Was dem Maler die Farbe, das ist für den Dichter die
Sprache. Goethe hat mit der deutschen Sprache trotz der spielenden Sicher¬
heit, mit der ihm gegeben war, sie zu handhaben, auch gerungen. In den
Venezianischen Epigrammen hat er einmal ihre Unüberwindlichkeit beklagt, im
Sinne der Wanderer aber hält er später wenigstens daran fest: „Wir haben das
unabweichliche, täglich zu erneuernde grundernstliche Bestreben: das Wort mit dem
Empfundnen, Geschaute«, Gedachten, Erfahrnen, Jmaginierten, Vernünftigen
möglichst unmittelbar zusammentreffend zu erfassen." Dieses Gebot wendet
sich gegen schematiches Gerede zugunsten einer aus dem Quell der Empfindung
unmittelbar herausspringenden Ausdrucksweise oder einer unter strenger Prüfung
der Vernunft von Fall zu Fall gerechtfertigten; Goethe ist aber auch der Sprache
gern etymologisch zuleide gegangen und hat dabei Verblaßtes zu neuem, eigen¬
tümlichem Leben erweckt. Welche Kraft erhält zum Beispiel das Wort „dar¬
stellen" durch halbe Erneuerung seines eigentlichen Sinnes in einem Verse wie:


Welch ein Werkzeug ihr gebrauchet,
Stellet euch als Brüder dar!

Wie fruchtbar ist die Zusammenstellung des objektiven und des subjektiven
Sinnes von ^beständig" in dem Zwischengesang der Logenfeier:


Denn die Gesinnung, die beständige,
Sie macht allein den Menschen dauerhaft.

Das alte „außer sich geraten" verwandelt sich für ihn in die neue, äußer¬
lich gemäßigte Variante „aus seinem Zustand heraustreten" — von Nausikaa
als Heldin des geplanten Dramas zeichnete er auf: „treffliche Jungfrau, von


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[0159] Goethe als Lrneuercr gangner Geschichte, von irgendwelchem Geschehen in früherer Zeit, die man nicht nützt, sind eine schwere Last, wir besitzen sie erst, indem wir sie zu Zeigern und Siegeln unsers Lebens machen, wie wir deren in erhöhten Stunden bedürfen. Die Frage aber nach dem Sinn der Gesamtgeschichte, die sich hier erhebt, ist nicht so zu beantworten, daß die Geschichte ein bloßes ewiges Wiederholen des Lebens sei, sondern so: sie ist eine immer wiederholte Erneuerung des Lebens unter fortwährend vermehrten, erweiterten und ver¬ feinerten Bedingungen und darum auch mit allmählich umfangreichern und innigern Ergebnisse. Im Herbst der Goethischen Jahreszeiten steht das Distichon:ae Was ist ds Hiligste? Das, was dem und ewig die Geister, Tiefer und tiefer gefühlt, immer nur einiger macht. Tiefer und tiefer gefühlt: in dieser Steigerung liegt das eigentlich Unterscheidende der Zeitalter, woraus sich für den Historiker das Gebot ergibt, nicht nach Einzelcreignissen im Völkerleben, sondern nach deutlich wahrnehmbaren Ver- feinerungsstufeu in der geistigen Entwicklung die Geschichte zu gliedern. Der Künstler als Maler hat es mit einem doppelten Gegenstand zu tun, dem innerlich-äußerlich geschauten Vorwurf und den auf die Leinwand zu setzenden Farben. Seinen Vorwurf kann er durchdenkend und unbefangen sehend erneuern, aber auch seine Farben technisch auf Reinheit und dauer¬ hafte Verbindung und daraus fließende Leucht- und Haltkraft prüfen und ver¬ bessern, erneuern. Was dem Maler die Farbe, das ist für den Dichter die Sprache. Goethe hat mit der deutschen Sprache trotz der spielenden Sicher¬ heit, mit der ihm gegeben war, sie zu handhaben, auch gerungen. In den Venezianischen Epigrammen hat er einmal ihre Unüberwindlichkeit beklagt, im Sinne der Wanderer aber hält er später wenigstens daran fest: „Wir haben das unabweichliche, täglich zu erneuernde grundernstliche Bestreben: das Wort mit dem Empfundnen, Geschaute«, Gedachten, Erfahrnen, Jmaginierten, Vernünftigen möglichst unmittelbar zusammentreffend zu erfassen." Dieses Gebot wendet sich gegen schematiches Gerede zugunsten einer aus dem Quell der Empfindung unmittelbar herausspringenden Ausdrucksweise oder einer unter strenger Prüfung der Vernunft von Fall zu Fall gerechtfertigten; Goethe ist aber auch der Sprache gern etymologisch zuleide gegangen und hat dabei Verblaßtes zu neuem, eigen¬ tümlichem Leben erweckt. Welche Kraft erhält zum Beispiel das Wort „dar¬ stellen" durch halbe Erneuerung seines eigentlichen Sinnes in einem Verse wie: Welch ein Werkzeug ihr gebrauchet, Stellet euch als Brüder dar! Wie fruchtbar ist die Zusammenstellung des objektiven und des subjektiven Sinnes von ^beständig" in dem Zwischengesang der Logenfeier: Denn die Gesinnung, die beständige, Sie macht allein den Menschen dauerhaft. Das alte „außer sich geraten" verwandelt sich für ihn in die neue, äußer¬ lich gemäßigte Variante „aus seinem Zustand heraustreten" — von Nausikaa als Heldin des geplanten Dramas zeichnete er auf: „treffliche Jungfrau, von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/159>, abgerufen am 23.07.2024.