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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Goethe als Erneuerer

Die Bibel mit ihrer Personen- und Gedankenwelt steht nicht so weit im
Vordergrunde von Goethes Denken wie die Antike und ist nicht mit der
Energie wie sie von ihm nachgedacht worden. Doch haften auch aus diesem
Kreise bildliche Eindrücke so tief in seiner Seele, daß er manches gegenwärtige
sofort mit ihnen deckend zu bezeichnen vermag, und gelegentlich wagt er auch
hier eigentliche Erneuerungen, Dabei spielt die ästhetische Seite der Aufnahme
-- Ästhetik heißt ja eigentlich Wahrneymungslehre -- eine Rolle. Vor Neapel
zu Schiff, bei gefahrdrohender Windstille, beruhigt Goethe das Volk mit der
Erinnerung an Christus auf dem See Liberias, und als er sich darauf halb
betäubt unter immer stürkerm Schwanken des Schiffs in seine Kajüte begibt,
hat er doch eine angenehme Empfindung, "die sich vom See Liberias her¬
zuschreiben schien, denn ganz deutlich schwebte mir das Bild aus Merians
Kupferbibel vor Augen. Und so bewährt sich die Kraft aller sinnlich sittlichen
Eindrücke jedesmal am stärksten, wenn der Mensch ganz auf sich selbst zurück¬
gewiesen ist." So sind ihm denn auch selbstgewählte biblische Vergleiche ge¬
läufig. Am Ende des Wetzlarer Jahres schließt er einen Weihnachtsbrief an
Kestner: "Lebt wohl und denkt an mich, das seltsame Mittelding zwischen
reichem Mann und armem Lcizarns"; als er sich in Italien nachträglich mit
etwas befreundet, das ihn erst abgestoßen hat, berichtet er: "Und so geht mirs
denn wie Vilecun, dem konfusen Propheten, welcher segnete, da er zu fluchen
gedachte," ein Vergleich, zu dem jeder sofort den Schluß von Wilhelm Meisters
Lehrjahren fügt, und dem wir aus Makariens Archiv noch die Vorstellung
ungeheurer abgeschlossener Länder anreihen, "worin gar mancher Urvater
Abraham ein Kanaan würde gefunden haben, wo denn seine Nachkommen leicht
mit den Sternen rivalisierend sich hätten vermehren können." Die geheiligtsten
Erzählungen der christlichen Überlieferung und die feierlichsten Begriffe der
christlichen Kirche bildet Goethe ohne Scheu um zu einfachern Symbolen für
das, was er selbst wahrhaft empfindet oder die andern auf dem Grunde ihres
Herzens empfinden sieht. So gerät ihm das allen Deutschen aus der Seele
gesagte Osterwort: "Denn sie sind selber auferstanden." An Schiller, dem er
eine kleine Mineraliensammlung schickt, vergleicht er Empfänger und Sender
mit Christus und dem Satan, da er gewiß ist, von dem Freunde Ideen für
die Steine zurückzuerhalten; an den Herzog schließt er "Ilmenau" mit einem
dem Gleichnis vom Säemann abgewonnenen Gegenbilde:

Eine ganz kühne Erneuerung der Vorstellung von Christi letztem Abendmahl ist
es, eine Übersetzung davon ins kosmische, wenn das Gedicht Weltseele anhebt:


Goethe als Erneuerer

Die Bibel mit ihrer Personen- und Gedankenwelt steht nicht so weit im
Vordergrunde von Goethes Denken wie die Antike und ist nicht mit der
Energie wie sie von ihm nachgedacht worden. Doch haften auch aus diesem
Kreise bildliche Eindrücke so tief in seiner Seele, daß er manches gegenwärtige
sofort mit ihnen deckend zu bezeichnen vermag, und gelegentlich wagt er auch
hier eigentliche Erneuerungen, Dabei spielt die ästhetische Seite der Aufnahme
— Ästhetik heißt ja eigentlich Wahrneymungslehre — eine Rolle. Vor Neapel
zu Schiff, bei gefahrdrohender Windstille, beruhigt Goethe das Volk mit der
Erinnerung an Christus auf dem See Liberias, und als er sich darauf halb
betäubt unter immer stürkerm Schwanken des Schiffs in seine Kajüte begibt,
hat er doch eine angenehme Empfindung, „die sich vom See Liberias her¬
zuschreiben schien, denn ganz deutlich schwebte mir das Bild aus Merians
Kupferbibel vor Augen. Und so bewährt sich die Kraft aller sinnlich sittlichen
Eindrücke jedesmal am stärksten, wenn der Mensch ganz auf sich selbst zurück¬
gewiesen ist." So sind ihm denn auch selbstgewählte biblische Vergleiche ge¬
läufig. Am Ende des Wetzlarer Jahres schließt er einen Weihnachtsbrief an
Kestner: „Lebt wohl und denkt an mich, das seltsame Mittelding zwischen
reichem Mann und armem Lcizarns"; als er sich in Italien nachträglich mit
etwas befreundet, das ihn erst abgestoßen hat, berichtet er: „Und so geht mirs
denn wie Vilecun, dem konfusen Propheten, welcher segnete, da er zu fluchen
gedachte," ein Vergleich, zu dem jeder sofort den Schluß von Wilhelm Meisters
Lehrjahren fügt, und dem wir aus Makariens Archiv noch die Vorstellung
ungeheurer abgeschlossener Länder anreihen, „worin gar mancher Urvater
Abraham ein Kanaan würde gefunden haben, wo denn seine Nachkommen leicht
mit den Sternen rivalisierend sich hätten vermehren können." Die geheiligtsten
Erzählungen der christlichen Überlieferung und die feierlichsten Begriffe der
christlichen Kirche bildet Goethe ohne Scheu um zu einfachern Symbolen für
das, was er selbst wahrhaft empfindet oder die andern auf dem Grunde ihres
Herzens empfinden sieht. So gerät ihm das allen Deutschen aus der Seele
gesagte Osterwort: „Denn sie sind selber auferstanden." An Schiller, dem er
eine kleine Mineraliensammlung schickt, vergleicht er Empfänger und Sender
mit Christus und dem Satan, da er gewiß ist, von dem Freunde Ideen für
die Steine zurückzuerhalten; an den Herzog schließt er „Ilmenau" mit einem
dem Gleichnis vom Säemann abgewonnenen Gegenbilde:

Eine ganz kühne Erneuerung der Vorstellung von Christi letztem Abendmahl ist
es, eine Übersetzung davon ins kosmische, wenn das Gedicht Weltseele anhebt:


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[0157] Goethe als Erneuerer Die Bibel mit ihrer Personen- und Gedankenwelt steht nicht so weit im Vordergrunde von Goethes Denken wie die Antike und ist nicht mit der Energie wie sie von ihm nachgedacht worden. Doch haften auch aus diesem Kreise bildliche Eindrücke so tief in seiner Seele, daß er manches gegenwärtige sofort mit ihnen deckend zu bezeichnen vermag, und gelegentlich wagt er auch hier eigentliche Erneuerungen, Dabei spielt die ästhetische Seite der Aufnahme — Ästhetik heißt ja eigentlich Wahrneymungslehre — eine Rolle. Vor Neapel zu Schiff, bei gefahrdrohender Windstille, beruhigt Goethe das Volk mit der Erinnerung an Christus auf dem See Liberias, und als er sich darauf halb betäubt unter immer stürkerm Schwanken des Schiffs in seine Kajüte begibt, hat er doch eine angenehme Empfindung, „die sich vom See Liberias her¬ zuschreiben schien, denn ganz deutlich schwebte mir das Bild aus Merians Kupferbibel vor Augen. Und so bewährt sich die Kraft aller sinnlich sittlichen Eindrücke jedesmal am stärksten, wenn der Mensch ganz auf sich selbst zurück¬ gewiesen ist." So sind ihm denn auch selbstgewählte biblische Vergleiche ge¬ läufig. Am Ende des Wetzlarer Jahres schließt er einen Weihnachtsbrief an Kestner: „Lebt wohl und denkt an mich, das seltsame Mittelding zwischen reichem Mann und armem Lcizarns"; als er sich in Italien nachträglich mit etwas befreundet, das ihn erst abgestoßen hat, berichtet er: „Und so geht mirs denn wie Vilecun, dem konfusen Propheten, welcher segnete, da er zu fluchen gedachte," ein Vergleich, zu dem jeder sofort den Schluß von Wilhelm Meisters Lehrjahren fügt, und dem wir aus Makariens Archiv noch die Vorstellung ungeheurer abgeschlossener Länder anreihen, „worin gar mancher Urvater Abraham ein Kanaan würde gefunden haben, wo denn seine Nachkommen leicht mit den Sternen rivalisierend sich hätten vermehren können." Die geheiligtsten Erzählungen der christlichen Überlieferung und die feierlichsten Begriffe der christlichen Kirche bildet Goethe ohne Scheu um zu einfachern Symbolen für das, was er selbst wahrhaft empfindet oder die andern auf dem Grunde ihres Herzens empfinden sieht. So gerät ihm das allen Deutschen aus der Seele gesagte Osterwort: „Denn sie sind selber auferstanden." An Schiller, dem er eine kleine Mineraliensammlung schickt, vergleicht er Empfänger und Sender mit Christus und dem Satan, da er gewiß ist, von dem Freunde Ideen für die Steine zurückzuerhalten; an den Herzog schließt er „Ilmenau" mit einem dem Gleichnis vom Säemann abgewonnenen Gegenbilde: Eine ganz kühne Erneuerung der Vorstellung von Christi letztem Abendmahl ist es, eine Übersetzung davon ins kosmische, wenn das Gedicht Weltseele anhebt:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/157>, abgerufen am 23.07.2024.