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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Konsessionalismus und nationale Politik

>le zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts wird durch den großen
Rückfall zum Konfessionalismus bezeichnet. Er begann, als der
flache Nationalismus des achtzehnten Jahrhunderts die Religion
ausgehöhlt, sie in eine Gruppe von sogenannten Vernunftwcchr-
I selten verwandelt und somit ihr Wesen zerstört hatte, und als
sich die ästhetisch-humane Weltanschauung unsrer klassischen Literaturperiode, die
in Goethes pantheistischen Optimismus gipfelte, in dem großen Zusammen¬
bruche unsrer deutschen Staatenwelt als unzureichend erwiesen hatte. Das alte
Sprichwort: "Not lehrt beten" kam wieder zu seinem Rechte; ohne religiöse
Einkehr und Umkehr hätte damals das preußische und mit ihm das deutsche
Volk die Rettung nicht gefunden. Der politische Kampf gegen die Ideen der
französischen Revolution, der in der Heiligen Allianz seinen bezeichnenden Aus¬
druck fand, förderte diesen Umschwung, denn jene Ideen waren ja aus dem
Rationalismus der Aufklärungszeit hervorgegangen. Das Pendel der religiösen
Bewegung, das bis dahin nach links geschwungen hatte, schlug mehr und mehr
nach rechts hinüber, und diese Richtung dauert, wenngleich nicht ohne Hemmungen,
noch heute an. Sie machte sich aber, wie natürlich, auf protestantischer Seite
weniger konsequent geltend als auf katholischer. Denn da dem Protestantismus
eine Glaubenscmtoritüt fehlt und fehlen muß -- die Bekenntnisse sind nur Zeug¬
nisse des Glaubens, aber nicht bindende Normen --, so wurde die Freiheit des
Gewissens und der Wissenschaft hier niemals angetastet. Gleichwohl beherrschte
die lutherische Orthodoxie eine Zeit lang die deutschen Landeskirchen, namentlich
die preußische, und die politische Reaktion nach der Bewegung von 1848/49
sah in ihr eine Stütze für "Thron und Altar." Konsequenter vollzog sich der
Rückfall zum Konfessivnalismus auf katholischer Seite. Seitdem die Säku¬
larisationen der Napoleonischen Zeit in Frankreich wie in Deutschland die bis¬
herige enge Verbindung des Klerus mit dem Grund und Boden des Landes
gelöst hatten, kam der Ultramontanismus, d. h. die mittelalterliche Idee von
der absoluten geistlichen Weltherrschaft des Papsttums, mehr und mehr oben¬
auf, dessen wichtigster Trüger der 1814 wiederhergestellte Jesuitenorden wurde.
Immer straffer wurde die Unterordnung des Klerus unter die Bischöfe, die
der Bischöfe unter Rom, bis die Proklamation der päpstlichen Unfehlbarkeit in


Grenzboten II 1904 1


Konsessionalismus und nationale Politik

>le zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts wird durch den großen
Rückfall zum Konfessionalismus bezeichnet. Er begann, als der
flache Nationalismus des achtzehnten Jahrhunderts die Religion
ausgehöhlt, sie in eine Gruppe von sogenannten Vernunftwcchr-
I selten verwandelt und somit ihr Wesen zerstört hatte, und als
sich die ästhetisch-humane Weltanschauung unsrer klassischen Literaturperiode, die
in Goethes pantheistischen Optimismus gipfelte, in dem großen Zusammen¬
bruche unsrer deutschen Staatenwelt als unzureichend erwiesen hatte. Das alte
Sprichwort: „Not lehrt beten" kam wieder zu seinem Rechte; ohne religiöse
Einkehr und Umkehr hätte damals das preußische und mit ihm das deutsche
Volk die Rettung nicht gefunden. Der politische Kampf gegen die Ideen der
französischen Revolution, der in der Heiligen Allianz seinen bezeichnenden Aus¬
druck fand, förderte diesen Umschwung, denn jene Ideen waren ja aus dem
Rationalismus der Aufklärungszeit hervorgegangen. Das Pendel der religiösen
Bewegung, das bis dahin nach links geschwungen hatte, schlug mehr und mehr
nach rechts hinüber, und diese Richtung dauert, wenngleich nicht ohne Hemmungen,
noch heute an. Sie machte sich aber, wie natürlich, auf protestantischer Seite
weniger konsequent geltend als auf katholischer. Denn da dem Protestantismus
eine Glaubenscmtoritüt fehlt und fehlen muß — die Bekenntnisse sind nur Zeug¬
nisse des Glaubens, aber nicht bindende Normen —, so wurde die Freiheit des
Gewissens und der Wissenschaft hier niemals angetastet. Gleichwohl beherrschte
die lutherische Orthodoxie eine Zeit lang die deutschen Landeskirchen, namentlich
die preußische, und die politische Reaktion nach der Bewegung von 1848/49
sah in ihr eine Stütze für „Thron und Altar." Konsequenter vollzog sich der
Rückfall zum Konfessivnalismus auf katholischer Seite. Seitdem die Säku¬
larisationen der Napoleonischen Zeit in Frankreich wie in Deutschland die bis¬
herige enge Verbindung des Klerus mit dem Grund und Boden des Landes
gelöst hatten, kam der Ultramontanismus, d. h. die mittelalterliche Idee von
der absoluten geistlichen Weltherrschaft des Papsttums, mehr und mehr oben¬
auf, dessen wichtigster Trüger der 1814 wiederhergestellte Jesuitenorden wurde.
Immer straffer wurde die Unterordnung des Klerus unter die Bischöfe, die
der Bischöfe unter Rom, bis die Proklamation der päpstlichen Unfehlbarkeit in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/9>, abgerufen am 13.11.2024.