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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Literargeschichtliches

Statt also mit seiner Frau zu Philemon und Baucis herauzureifen, ruhte Stahr
nicht eher, bis er nach Scheidung endlich 1855 Fanny Lewald heiratete. Von
einer Hypertrophie des Gemüts gegen die Verlassene ist keine Spur zu be¬
merken. Vielmehr war auch, wie Geiger bemerkt, die Art ungerecht, wie beide
der verlassenen Frau ein Leben voll Dürftigkeit anfzwangen.

Und doch lag kein Anlaß vor, ihr eine Entziehungskur zu erleichtern.
Während er sich in der Berliner Sofaecke mit gedankenvollen Stirnrunzeln
von Fanny Lewald gut Pflegen ließ -- er verstand etwas vom Essen (222),
rauchte auch trotz seinem Halsleiden gute Zigarren -- und an den Montagen
(198) die Gastplaneten um die beiden wirtlichen Sonnen kreisten, war die
verarbeitete Frau in einem Leben voll Dürftigkeit, und es wurde ihr Wohl
dadurch nicht versüßt, daß sie hörte, daß Stahr monatelang die schönsten
Reisen machte, ans deren einer er 1867 eine interessante Begegnung mit
Garibaldi hatte. Die anscheinend sehr glückliche Ehe mit Fanny Lewald war auch
umbalsamt, wie Platen einmal sagt, durch gegenseitige Anerkennung, verklärt
durch ihren Gedanken, daß er der erste Historiker und der feinste Kunstkenner
wäre, während er in nicht weniger edler Freigebigkeit ihr einen Platz un¬
mittelbar nach George Sand gab und sie als eine alle Zeit Große hinstellte.

Von Interesse ist zum Beispiel Sybels Urteil über Wilhelm den Ersten
(247) und die Unvermeidlichkeit eines Krieges mit Frankreich schon 1860.
Julius Mosen tritt uns oft sympathisch entgegen. So sagte er über Uhland:
Er ist ein ganz inwendiger Mensch, so ein schwäbischer Weinkrug, unansehnlich
von außen, doch voll köstlichen Weines, den man freilich fast schon ausge¬
trunken hat (1843).

Zu Wischers kritischem Brief über Stcchrs "Lessing" vergleiche jetzt das
kleine Buch "Quellenschriften zur Hamburgischen Dramaturgie, herausgegeben
von D. Jacoby und A. Sauer. Heft I. Berlin, 1904, B. Behr. 91 Seiten"
mit der gehaltvollen Einleitung von D. Jacoby III bis XXX.




Der unterdessen erschienene zweite Band von Mörikes Briefen (Berlin,
O- Elsner. 369 Seiten) reicht von 1841 bis zum Tode und gibt eine willkommne
Ergänzung des ersten. Den wunderschönen Glanz, der die Briefe an Luise Rau
durchleuchtet, finden wir zwar nicht einmal in den Briefen an Gretchen von
Specks wieder, die Mörike zuerst Schwesterchen nennt. Aber der intime Ein¬
blick in sein Fühlen und Erleben bestätigt uns, wie reizend Mörike war, und
daß er bei seinen vielen Leiden ein Freund des Humors blieb (251 ff.). Pere-
grina begegnen wir 62 f., Agnes Schebest (Strauß) 59 f. 65. Sehr niedlich
berichtet Mörike über ein Hausgötzlein aus dem Tierreich, einen Kanarien¬
vogel (291). Die meisten Briefe sind an die Familie Hartlaub; doch treffen
wir auch viele andre Namen an, darunter Hebbel, Heyse, Schwind, Simrock,
Stahr, Storm. Der Herausgeber Karl Fischer verbindet die Briefe durch
kurze Lebensnachrichten. Den Schluß des Bandes bildet ein Personenver¬
zeichnis.




Literargeschichtliches

Statt also mit seiner Frau zu Philemon und Baucis herauzureifen, ruhte Stahr
nicht eher, bis er nach Scheidung endlich 1855 Fanny Lewald heiratete. Von
einer Hypertrophie des Gemüts gegen die Verlassene ist keine Spur zu be¬
merken. Vielmehr war auch, wie Geiger bemerkt, die Art ungerecht, wie beide
der verlassenen Frau ein Leben voll Dürftigkeit anfzwangen.

Und doch lag kein Anlaß vor, ihr eine Entziehungskur zu erleichtern.
Während er sich in der Berliner Sofaecke mit gedankenvollen Stirnrunzeln
von Fanny Lewald gut Pflegen ließ — er verstand etwas vom Essen (222),
rauchte auch trotz seinem Halsleiden gute Zigarren — und an den Montagen
(198) die Gastplaneten um die beiden wirtlichen Sonnen kreisten, war die
verarbeitete Frau in einem Leben voll Dürftigkeit, und es wurde ihr Wohl
dadurch nicht versüßt, daß sie hörte, daß Stahr monatelang die schönsten
Reisen machte, ans deren einer er 1867 eine interessante Begegnung mit
Garibaldi hatte. Die anscheinend sehr glückliche Ehe mit Fanny Lewald war auch
umbalsamt, wie Platen einmal sagt, durch gegenseitige Anerkennung, verklärt
durch ihren Gedanken, daß er der erste Historiker und der feinste Kunstkenner
wäre, während er in nicht weniger edler Freigebigkeit ihr einen Platz un¬
mittelbar nach George Sand gab und sie als eine alle Zeit Große hinstellte.

Von Interesse ist zum Beispiel Sybels Urteil über Wilhelm den Ersten
(247) und die Unvermeidlichkeit eines Krieges mit Frankreich schon 1860.
Julius Mosen tritt uns oft sympathisch entgegen. So sagte er über Uhland:
Er ist ein ganz inwendiger Mensch, so ein schwäbischer Weinkrug, unansehnlich
von außen, doch voll köstlichen Weines, den man freilich fast schon ausge¬
trunken hat (1843).

Zu Wischers kritischem Brief über Stcchrs „Lessing" vergleiche jetzt das
kleine Buch „Quellenschriften zur Hamburgischen Dramaturgie, herausgegeben
von D. Jacoby und A. Sauer. Heft I. Berlin, 1904, B. Behr. 91 Seiten"
mit der gehaltvollen Einleitung von D. Jacoby III bis XXX.




Der unterdessen erschienene zweite Band von Mörikes Briefen (Berlin,
O- Elsner. 369 Seiten) reicht von 1841 bis zum Tode und gibt eine willkommne
Ergänzung des ersten. Den wunderschönen Glanz, der die Briefe an Luise Rau
durchleuchtet, finden wir zwar nicht einmal in den Briefen an Gretchen von
Specks wieder, die Mörike zuerst Schwesterchen nennt. Aber der intime Ein¬
blick in sein Fühlen und Erleben bestätigt uns, wie reizend Mörike war, und
daß er bei seinen vielen Leiden ein Freund des Humors blieb (251 ff.). Pere-
grina begegnen wir 62 f., Agnes Schebest (Strauß) 59 f. 65. Sehr niedlich
berichtet Mörike über ein Hausgötzlein aus dem Tierreich, einen Kanarien¬
vogel (291). Die meisten Briefe sind an die Familie Hartlaub; doch treffen
wir auch viele andre Namen an, darunter Hebbel, Heyse, Schwind, Simrock,
Stahr, Storm. Der Herausgeber Karl Fischer verbindet die Briefe durch
kurze Lebensnachrichten. Den Schluß des Bandes bildet ein Personenver¬
zeichnis.




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[0761] Literargeschichtliches Statt also mit seiner Frau zu Philemon und Baucis herauzureifen, ruhte Stahr nicht eher, bis er nach Scheidung endlich 1855 Fanny Lewald heiratete. Von einer Hypertrophie des Gemüts gegen die Verlassene ist keine Spur zu be¬ merken. Vielmehr war auch, wie Geiger bemerkt, die Art ungerecht, wie beide der verlassenen Frau ein Leben voll Dürftigkeit anfzwangen. Und doch lag kein Anlaß vor, ihr eine Entziehungskur zu erleichtern. Während er sich in der Berliner Sofaecke mit gedankenvollen Stirnrunzeln von Fanny Lewald gut Pflegen ließ — er verstand etwas vom Essen (222), rauchte auch trotz seinem Halsleiden gute Zigarren — und an den Montagen (198) die Gastplaneten um die beiden wirtlichen Sonnen kreisten, war die verarbeitete Frau in einem Leben voll Dürftigkeit, und es wurde ihr Wohl dadurch nicht versüßt, daß sie hörte, daß Stahr monatelang die schönsten Reisen machte, ans deren einer er 1867 eine interessante Begegnung mit Garibaldi hatte. Die anscheinend sehr glückliche Ehe mit Fanny Lewald war auch umbalsamt, wie Platen einmal sagt, durch gegenseitige Anerkennung, verklärt durch ihren Gedanken, daß er der erste Historiker und der feinste Kunstkenner wäre, während er in nicht weniger edler Freigebigkeit ihr einen Platz un¬ mittelbar nach George Sand gab und sie als eine alle Zeit Große hinstellte. Von Interesse ist zum Beispiel Sybels Urteil über Wilhelm den Ersten (247) und die Unvermeidlichkeit eines Krieges mit Frankreich schon 1860. Julius Mosen tritt uns oft sympathisch entgegen. So sagte er über Uhland: Er ist ein ganz inwendiger Mensch, so ein schwäbischer Weinkrug, unansehnlich von außen, doch voll köstlichen Weines, den man freilich fast schon ausge¬ trunken hat (1843). Zu Wischers kritischem Brief über Stcchrs „Lessing" vergleiche jetzt das kleine Buch „Quellenschriften zur Hamburgischen Dramaturgie, herausgegeben von D. Jacoby und A. Sauer. Heft I. Berlin, 1904, B. Behr. 91 Seiten" mit der gehaltvollen Einleitung von D. Jacoby III bis XXX. Der unterdessen erschienene zweite Band von Mörikes Briefen (Berlin, O- Elsner. 369 Seiten) reicht von 1841 bis zum Tode und gibt eine willkommne Ergänzung des ersten. Den wunderschönen Glanz, der die Briefe an Luise Rau durchleuchtet, finden wir zwar nicht einmal in den Briefen an Gretchen von Specks wieder, die Mörike zuerst Schwesterchen nennt. Aber der intime Ein¬ blick in sein Fühlen und Erleben bestätigt uns, wie reizend Mörike war, und daß er bei seinen vielen Leiden ein Freund des Humors blieb (251 ff.). Pere- grina begegnen wir 62 f., Agnes Schebest (Strauß) 59 f. 65. Sehr niedlich berichtet Mörike über ein Hausgötzlein aus dem Tierreich, einen Kanarien¬ vogel (291). Die meisten Briefe sind an die Familie Hartlaub; doch treffen wir auch viele andre Namen an, darunter Hebbel, Heyse, Schwind, Simrock, Stahr, Storm. Der Herausgeber Karl Fischer verbindet die Briefe durch kurze Lebensnachrichten. Den Schluß des Bandes bildet ein Personenver¬ zeichnis.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/761>, abgerufen am 25.07.2024.