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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Erinnerungen

k onnte nur beistimmen. Fürst Bismarck mit seinem vereinzelten, gewaltsamen Ein¬
greifen in die Geschäfte mag wohl der ruhigen, vermittelnden, friedliebenden Natur
des Grafen Stolberg zuweilen schwer werden. Und doch! Bismarck allein ist der
Meister der Situation, und er muß es bleiben, solange er noch irgend wirken
kann; denn es gibt keinen ebenbürtigen Ersatz für ihn. Das weiß auch Stolberg
klar und deutlich. Dieser, der jetzt auch den verstorbnen Minister von Bülow im
Auswärtigen Amte vertritt, arbeitet seitdem kolossal; er kommt fast nie vor zwei Uhr
ins Bett. Sein Arbeitszimmer ist wie ein Taubenschlag. Er sagt mir, das gehe
so von frühmorgens an bis tief in die Nacht.

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1. Januar. Die Zeiten sind schwer. Notstand in Oberschlesien, Gambettistisches
Kabinett Freycinet in Paris, Attentat auf das junge spanische Königspnar in
Madrid, Entdeckung einer nihilistischen Geheimdruckerei in Berlin, lauter Vorboten
schwerer Stürme!

5. Januar. Vortrag des Geheimen Oberregierungsrats Wiese über "Re¬
naissance und Wiedergeburt," außerordentlich reich und schön. Wahr und be¬
herzigenswert der Satz: "Nur der Christ ist Herr seiner Tage, denn nur er hat
das Erbe der Ewigkeit."

4. März. Alle Welt ist bewegt durch die Mordnachrichten aus Rußland.
Das Attentat im Winterpalais und der Mordversuch auf den Grafen Loris-Melikosf
bezeugen die dämonische Wut der Nihilisten. Die gewaltsamen Umsturzpläne werden
auch bei uns nicht ausbleiben.

8. März. Heute Abend habe ich in einer öffentlichen Versammlung in der
Aula des Wilhelmsgymnasinms vor dem Kaiser und der Kaiserin gesprochen. Die
Versammlung war veranstaltet, um der Arbeit des Zentralausschusses für die innere
Mission neues Interesse zuzuführen. Auch der Minister des Innern und der
Kultusminister waren da, und anch sonst eine erlesene Zuhörerschaft. Hofprediger
Baur sprach sehr gut über die Entstehung der innern Mission, dann Prediger
Otterberg etwas zu breit über die Tätigkeit des Zentralausschusses. Dann sprach
ich etwas über eine Viertelstunde frei für die Begründung eines Berliner ört¬
lichen Hilfsvereins, dann schloß Oberkonsistorialrat Weiß sehr beredt, indem er dem
Kaiser und der Kaiserin für ihre Teilnahme dankte. Ich war vorher recht bange.
Als Prediger Otterberg aufhörte, war es mir, als wüßte ich kein Wort mehr
von dem Gedaukeiigcmge, deu ich mir zurechtgelegt hatte. Es ist doch für uns
monarchische Menschen nichts gleichgültiges, vor dem Kaiser und der Kaiserin zu
reden. Aber es ging alles ganz gut. Wir wurden dem Kaiser und der Kaiserin
auf ihren Befehl durch Hofprediger Baur vorgestellt. Der Kaiser dankte mir und
sagte: "Sie haben einen ganz vortrefflichen Vortrag gehalten nicht bloß in dem,
was die Hauptfache ist, souderu auch in patriotischer Beziehung." Ich hatte nämlich
auf die gute, preußische Art hingewiesen, daß man das, was man als Pflicht er¬
kenne, auch freudig tue. Ebenso gnädig war die Kaiserin gegen mich. Sie sagte
wiederholt: "Ach, Sie haben so sehr Recht, es war sehr schön." Mir war eine
Last vom Herzen, als es vorbei war.

24. Mai. Ich habe in einer Sitzung des Staatsministeriums das Protokoll
geführt, in der es sich hauptsächlich um die staatliche Genehmigung der Trauungs¬
ordnung handelte. Die Minister Friedberg und Bitter fochten scharf gegen Putt-
kamer, dem Stolberg und Eulenburg seknndierten. Auch die Minister Maybach
und von Kamele stimmten für die Bestätigung.

Vom 1. Juli bis 6. August schöne Reise nach Oberammergau, wo mir
das Passionsspiel ungeachtet meiner anfänglich ablehnenden Stellung dazu einen
tiefen und großen Eindruck gemacht hat, dann nach Partenkirchen und Umgebung,
Schachennlp. Walchensee, Mittenwald, Innsbruck, Brennbüchel, Piztal mit Mittel-


Grenzbolcn U is04 86
Erinnerungen

k onnte nur beistimmen. Fürst Bismarck mit seinem vereinzelten, gewaltsamen Ein¬
greifen in die Geschäfte mag wohl der ruhigen, vermittelnden, friedliebenden Natur
des Grafen Stolberg zuweilen schwer werden. Und doch! Bismarck allein ist der
Meister der Situation, und er muß es bleiben, solange er noch irgend wirken
kann; denn es gibt keinen ebenbürtigen Ersatz für ihn. Das weiß auch Stolberg
klar und deutlich. Dieser, der jetzt auch den verstorbnen Minister von Bülow im
Auswärtigen Amte vertritt, arbeitet seitdem kolossal; er kommt fast nie vor zwei Uhr
ins Bett. Sein Arbeitszimmer ist wie ein Taubenschlag. Er sagt mir, das gehe
so von frühmorgens an bis tief in die Nacht.

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1. Januar. Die Zeiten sind schwer. Notstand in Oberschlesien, Gambettistisches
Kabinett Freycinet in Paris, Attentat auf das junge spanische Königspnar in
Madrid, Entdeckung einer nihilistischen Geheimdruckerei in Berlin, lauter Vorboten
schwerer Stürme!

5. Januar. Vortrag des Geheimen Oberregierungsrats Wiese über „Re¬
naissance und Wiedergeburt," außerordentlich reich und schön. Wahr und be¬
herzigenswert der Satz: „Nur der Christ ist Herr seiner Tage, denn nur er hat
das Erbe der Ewigkeit."

4. März. Alle Welt ist bewegt durch die Mordnachrichten aus Rußland.
Das Attentat im Winterpalais und der Mordversuch auf den Grafen Loris-Melikosf
bezeugen die dämonische Wut der Nihilisten. Die gewaltsamen Umsturzpläne werden
auch bei uns nicht ausbleiben.

8. März. Heute Abend habe ich in einer öffentlichen Versammlung in der
Aula des Wilhelmsgymnasinms vor dem Kaiser und der Kaiserin gesprochen. Die
Versammlung war veranstaltet, um der Arbeit des Zentralausschusses für die innere
Mission neues Interesse zuzuführen. Auch der Minister des Innern und der
Kultusminister waren da, und anch sonst eine erlesene Zuhörerschaft. Hofprediger
Baur sprach sehr gut über die Entstehung der innern Mission, dann Prediger
Otterberg etwas zu breit über die Tätigkeit des Zentralausschusses. Dann sprach
ich etwas über eine Viertelstunde frei für die Begründung eines Berliner ört¬
lichen Hilfsvereins, dann schloß Oberkonsistorialrat Weiß sehr beredt, indem er dem
Kaiser und der Kaiserin für ihre Teilnahme dankte. Ich war vorher recht bange.
Als Prediger Otterberg aufhörte, war es mir, als wüßte ich kein Wort mehr
von dem Gedaukeiigcmge, deu ich mir zurechtgelegt hatte. Es ist doch für uns
monarchische Menschen nichts gleichgültiges, vor dem Kaiser und der Kaiserin zu
reden. Aber es ging alles ganz gut. Wir wurden dem Kaiser und der Kaiserin
auf ihren Befehl durch Hofprediger Baur vorgestellt. Der Kaiser dankte mir und
sagte: „Sie haben einen ganz vortrefflichen Vortrag gehalten nicht bloß in dem,
was die Hauptfache ist, souderu auch in patriotischer Beziehung." Ich hatte nämlich
auf die gute, preußische Art hingewiesen, daß man das, was man als Pflicht er¬
kenne, auch freudig tue. Ebenso gnädig war die Kaiserin gegen mich. Sie sagte
wiederholt: „Ach, Sie haben so sehr Recht, es war sehr schön." Mir war eine
Last vom Herzen, als es vorbei war.

24. Mai. Ich habe in einer Sitzung des Staatsministeriums das Protokoll
geführt, in der es sich hauptsächlich um die staatliche Genehmigung der Trauungs¬
ordnung handelte. Die Minister Friedberg und Bitter fochten scharf gegen Putt-
kamer, dem Stolberg und Eulenburg seknndierten. Auch die Minister Maybach
und von Kamele stimmten für die Bestätigung.

Vom 1. Juli bis 6. August schöne Reise nach Oberammergau, wo mir
das Passionsspiel ungeachtet meiner anfänglich ablehnenden Stellung dazu einen
tiefen und großen Eindruck gemacht hat, dann nach Partenkirchen und Umgebung,
Schachennlp. Walchensee, Mittenwald, Innsbruck, Brennbüchel, Piztal mit Mittel-


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[0653] Erinnerungen k onnte nur beistimmen. Fürst Bismarck mit seinem vereinzelten, gewaltsamen Ein¬ greifen in die Geschäfte mag wohl der ruhigen, vermittelnden, friedliebenden Natur des Grafen Stolberg zuweilen schwer werden. Und doch! Bismarck allein ist der Meister der Situation, und er muß es bleiben, solange er noch irgend wirken kann; denn es gibt keinen ebenbürtigen Ersatz für ihn. Das weiß auch Stolberg klar und deutlich. Dieser, der jetzt auch den verstorbnen Minister von Bülow im Auswärtigen Amte vertritt, arbeitet seitdem kolossal; er kommt fast nie vor zwei Uhr ins Bett. Sein Arbeitszimmer ist wie ein Taubenschlag. Er sagt mir, das gehe so von frühmorgens an bis tief in die Nacht. ^380 1. Januar. Die Zeiten sind schwer. Notstand in Oberschlesien, Gambettistisches Kabinett Freycinet in Paris, Attentat auf das junge spanische Königspnar in Madrid, Entdeckung einer nihilistischen Geheimdruckerei in Berlin, lauter Vorboten schwerer Stürme! 5. Januar. Vortrag des Geheimen Oberregierungsrats Wiese über „Re¬ naissance und Wiedergeburt," außerordentlich reich und schön. Wahr und be¬ herzigenswert der Satz: „Nur der Christ ist Herr seiner Tage, denn nur er hat das Erbe der Ewigkeit." 4. März. Alle Welt ist bewegt durch die Mordnachrichten aus Rußland. Das Attentat im Winterpalais und der Mordversuch auf den Grafen Loris-Melikosf bezeugen die dämonische Wut der Nihilisten. Die gewaltsamen Umsturzpläne werden auch bei uns nicht ausbleiben. 8. März. Heute Abend habe ich in einer öffentlichen Versammlung in der Aula des Wilhelmsgymnasinms vor dem Kaiser und der Kaiserin gesprochen. Die Versammlung war veranstaltet, um der Arbeit des Zentralausschusses für die innere Mission neues Interesse zuzuführen. Auch der Minister des Innern und der Kultusminister waren da, und anch sonst eine erlesene Zuhörerschaft. Hofprediger Baur sprach sehr gut über die Entstehung der innern Mission, dann Prediger Otterberg etwas zu breit über die Tätigkeit des Zentralausschusses. Dann sprach ich etwas über eine Viertelstunde frei für die Begründung eines Berliner ört¬ lichen Hilfsvereins, dann schloß Oberkonsistorialrat Weiß sehr beredt, indem er dem Kaiser und der Kaiserin für ihre Teilnahme dankte. Ich war vorher recht bange. Als Prediger Otterberg aufhörte, war es mir, als wüßte ich kein Wort mehr von dem Gedaukeiigcmge, deu ich mir zurechtgelegt hatte. Es ist doch für uns monarchische Menschen nichts gleichgültiges, vor dem Kaiser und der Kaiserin zu reden. Aber es ging alles ganz gut. Wir wurden dem Kaiser und der Kaiserin auf ihren Befehl durch Hofprediger Baur vorgestellt. Der Kaiser dankte mir und sagte: „Sie haben einen ganz vortrefflichen Vortrag gehalten nicht bloß in dem, was die Hauptfache ist, souderu auch in patriotischer Beziehung." Ich hatte nämlich auf die gute, preußische Art hingewiesen, daß man das, was man als Pflicht er¬ kenne, auch freudig tue. Ebenso gnädig war die Kaiserin gegen mich. Sie sagte wiederholt: „Ach, Sie haben so sehr Recht, es war sehr schön." Mir war eine Last vom Herzen, als es vorbei war. 24. Mai. Ich habe in einer Sitzung des Staatsministeriums das Protokoll geführt, in der es sich hauptsächlich um die staatliche Genehmigung der Trauungs¬ ordnung handelte. Die Minister Friedberg und Bitter fochten scharf gegen Putt- kamer, dem Stolberg und Eulenburg seknndierten. Auch die Minister Maybach und von Kamele stimmten für die Bestätigung. Vom 1. Juli bis 6. August schöne Reise nach Oberammergau, wo mir das Passionsspiel ungeachtet meiner anfänglich ablehnenden Stellung dazu einen tiefen und großen Eindruck gemacht hat, dann nach Partenkirchen und Umgebung, Schachennlp. Walchensee, Mittenwald, Innsbruck, Brennbüchel, Piztal mit Mittel- Grenzbolcn U is04 86

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/653>, abgerufen am 13.11.2024.