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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Gesetzentwurf durchgesetzt, der auch ihnen av M-o ermöglichen soll, was sich die
Geschwornen av k^ceo herausnehmen; diese werde" nun mit jenen die süße Schüssel
der Volksgunst teilen müssen. So geht es denn doch bei uns nicht! Die stritte
Anwendung des Gesetzes galt mit Recht und gilt uoch jetzt dem deutscheu Richter
als die Kardinalpflicht; er sieht seinen Stolz darin, allezeit ein Bewahrer des ge¬
setzten Rechts zu sein; die Übung dieser Pflicht hat ihn die zur sittlichen Schulung
-- bei sonstiger Unabhängigkeit -- so unentbehrliche Unterordnung unter einen
höhern Willen gelehrt; und er weicht, wenigstens mit Bewußtsein, auch bei der
weitherzigsten Gesetzesauslegung nicht von seiner Pflicht als Organ der Rechtsan¬
wendung und nicht als Organ der Nechtsschöpfnug. Als solches musz er leider
oft auch den Spott über sich ergehn lassen, den der Kritiker, besser unterrichtet,
auf den Gesetzgeber häufen würde. Man darf auch nicht erwarten, daß die Reichs-
gesetzgebung in nächster Zeit zugunsten des Richters abdanken wird. Auch dazu,
den Gesetzgeber für eine schleunige Abstellung empfundner Lücken und Mängel des
Gesetzes in Anspruch zu nehmen, entschließt man sich schwer, falls nicht, wie in ge¬
werblichen und sozialen Materien, politische Parteien damit auf den Stimmenfang
ausgehn wollen. So werden unsre Zivilrechtssätze wohl immer verurteilt sein, eine
Spanne hinter der Zeit herzutraben und aus dem Zustande der Rückständigkeit und
der Reformbedürftigkeit nie herauszukommen. Der Segen, die Gesetze an die Lebens¬
und die Geschäftsbedürfnisse anzupassen, wie es der römische Prätor bei der Aus¬
führung seines Amtes zum Heil der Rechtseutwicklung allerzeiten vornehmen durfte,
wird dem deutscheu Rechte Wohl nie zuteil werden.

In der Strafrechtspflege mag das Begnadigungsrecht der Krone manche Härten
ausgleichen; seine Handhabung durch die Justizministerien, oft durch jüngere Arbeits¬
kräfte, zeigt die Begnadigung jedoch nicht als das, wofür sie wohl gehalten wird,
als einen unmittelbaren Ausfluß der Entschließungen des Landesherrn; die große
Zahl der Gnadensachen, die Notwendigkeit des Studiums umfangreicher Aktenstücke
schließen eine solche ideale Handhabung des edelsten Kronrechts aus. So ist die
Bearbeitung der Gnadensachen tatsächlich zu einer Art Oberrevision geworden, und
ihr materielles Ergebnis kann nur der für zutreffender als das revidierte Gerichts¬
urteil halten, der das Aktenstudium dem unmittelbaren Eindruck der mündlichen
Verhandlung als Erkeuutnisquelle vorzieht.

Auch sehen wir kein wirksames Heilmittel gegen Rückständigkeit und Schwäche
des Strafrechts in der sogenannten bedingten Begnadigung, die man bei uns,
anstatt der bedingten Verurteilung andrer Rechtsgebiete, seit einigen Jahren durch
Justizverwaltuugsverordnungen eingeführt hat. Nur eine Wirkung hat sie bisher un¬
bestritten gehabt: eine starke Vermehrung der Schreiberei! Viel Anklang hat sie,
soviel wir beurteilen können, bei den Praktikern nicht gefunden; ihre Anwendung
beruht wohl oft hauptsächlich auf dem Bemühen, nicht unmodern zu erscheinen. Die
Art der Handhabung durch Ministerien und Staatsanwaltschaften, das Formnlar-
wefen, die durchaus subaltern gehaltnen Anwendungsvorschriften sind nur geeignet,
Richtern, die etwas auf ihre Unabhängigkeit halten, die Sache zu verleiden, was
auch schon im preußischen Abgeordnetenhause betont worden ist; man sollte es wirklich
zu vermeiden suchen, modernen Gestaltungen altmodische Zöpfe anzuhängen!

Auch von einer höhern Warte aus betrachtet scheint das Institut mißglückt.
Glaubt man, und unsers Erachtens mit Recht, daß man einen bisher unbestraften
Jungen von sechzehn Jahren wegen eines geringfügigen Diebstahls nicht ins Ge¬
fängnis sperren soll, so ändre man das Gesetz, das solches befiehlt oder zuläßt; aber
den Burschen zu Gefängnis verurteilen und nicht einsperren ist doch bedenklicher,
als ihn tatsächlich einsperren; hält man die Gefängnisstrafe für unangebracht, weil
sie den verschiednen Zwecken, die die Strafe verfolgen soll und muß, nicht gerecht
wird, so ändre man das Gesetz und die Strafart; Strafe aber muß sein. Der
Staat darf sich auch "Jugendlichen" gegenüber nicht als impotent zeigen und den
Ernst einer Gerichtsverhandlung zu einem leeren, zwecklosen Schauspiele, die Wucht


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Gesetzentwurf durchgesetzt, der auch ihnen av M-o ermöglichen soll, was sich die
Geschwornen av k^ceo herausnehmen; diese werde» nun mit jenen die süße Schüssel
der Volksgunst teilen müssen. So geht es denn doch bei uns nicht! Die stritte
Anwendung des Gesetzes galt mit Recht und gilt uoch jetzt dem deutscheu Richter
als die Kardinalpflicht; er sieht seinen Stolz darin, allezeit ein Bewahrer des ge¬
setzten Rechts zu sein; die Übung dieser Pflicht hat ihn die zur sittlichen Schulung
— bei sonstiger Unabhängigkeit — so unentbehrliche Unterordnung unter einen
höhern Willen gelehrt; und er weicht, wenigstens mit Bewußtsein, auch bei der
weitherzigsten Gesetzesauslegung nicht von seiner Pflicht als Organ der Rechtsan¬
wendung und nicht als Organ der Nechtsschöpfnug. Als solches musz er leider
oft auch den Spott über sich ergehn lassen, den der Kritiker, besser unterrichtet,
auf den Gesetzgeber häufen würde. Man darf auch nicht erwarten, daß die Reichs-
gesetzgebung in nächster Zeit zugunsten des Richters abdanken wird. Auch dazu,
den Gesetzgeber für eine schleunige Abstellung empfundner Lücken und Mängel des
Gesetzes in Anspruch zu nehmen, entschließt man sich schwer, falls nicht, wie in ge¬
werblichen und sozialen Materien, politische Parteien damit auf den Stimmenfang
ausgehn wollen. So werden unsre Zivilrechtssätze wohl immer verurteilt sein, eine
Spanne hinter der Zeit herzutraben und aus dem Zustande der Rückständigkeit und
der Reformbedürftigkeit nie herauszukommen. Der Segen, die Gesetze an die Lebens¬
und die Geschäftsbedürfnisse anzupassen, wie es der römische Prätor bei der Aus¬
führung seines Amtes zum Heil der Rechtseutwicklung allerzeiten vornehmen durfte,
wird dem deutscheu Rechte Wohl nie zuteil werden.

In der Strafrechtspflege mag das Begnadigungsrecht der Krone manche Härten
ausgleichen; seine Handhabung durch die Justizministerien, oft durch jüngere Arbeits¬
kräfte, zeigt die Begnadigung jedoch nicht als das, wofür sie wohl gehalten wird,
als einen unmittelbaren Ausfluß der Entschließungen des Landesherrn; die große
Zahl der Gnadensachen, die Notwendigkeit des Studiums umfangreicher Aktenstücke
schließen eine solche ideale Handhabung des edelsten Kronrechts aus. So ist die
Bearbeitung der Gnadensachen tatsächlich zu einer Art Oberrevision geworden, und
ihr materielles Ergebnis kann nur der für zutreffender als das revidierte Gerichts¬
urteil halten, der das Aktenstudium dem unmittelbaren Eindruck der mündlichen
Verhandlung als Erkeuutnisquelle vorzieht.

Auch sehen wir kein wirksames Heilmittel gegen Rückständigkeit und Schwäche
des Strafrechts in der sogenannten bedingten Begnadigung, die man bei uns,
anstatt der bedingten Verurteilung andrer Rechtsgebiete, seit einigen Jahren durch
Justizverwaltuugsverordnungen eingeführt hat. Nur eine Wirkung hat sie bisher un¬
bestritten gehabt: eine starke Vermehrung der Schreiberei! Viel Anklang hat sie,
soviel wir beurteilen können, bei den Praktikern nicht gefunden; ihre Anwendung
beruht wohl oft hauptsächlich auf dem Bemühen, nicht unmodern zu erscheinen. Die
Art der Handhabung durch Ministerien und Staatsanwaltschaften, das Formnlar-
wefen, die durchaus subaltern gehaltnen Anwendungsvorschriften sind nur geeignet,
Richtern, die etwas auf ihre Unabhängigkeit halten, die Sache zu verleiden, was
auch schon im preußischen Abgeordnetenhause betont worden ist; man sollte es wirklich
zu vermeiden suchen, modernen Gestaltungen altmodische Zöpfe anzuhängen!

Auch von einer höhern Warte aus betrachtet scheint das Institut mißglückt.
Glaubt man, und unsers Erachtens mit Recht, daß man einen bisher unbestraften
Jungen von sechzehn Jahren wegen eines geringfügigen Diebstahls nicht ins Ge¬
fängnis sperren soll, so ändre man das Gesetz, das solches befiehlt oder zuläßt; aber
den Burschen zu Gefängnis verurteilen und nicht einsperren ist doch bedenklicher,
als ihn tatsächlich einsperren; hält man die Gefängnisstrafe für unangebracht, weil
sie den verschiednen Zwecken, die die Strafe verfolgen soll und muß, nicht gerecht
wird, so ändre man das Gesetz und die Strafart; Strafe aber muß sein. Der
Staat darf sich auch „Jugendlichen" gegenüber nicht als impotent zeigen und den
Ernst einer Gerichtsverhandlung zu einem leeren, zwecklosen Schauspiele, die Wucht


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[0062] Maßgebliches und Unmaßgebliches Gesetzentwurf durchgesetzt, der auch ihnen av M-o ermöglichen soll, was sich die Geschwornen av k^ceo herausnehmen; diese werde» nun mit jenen die süße Schüssel der Volksgunst teilen müssen. So geht es denn doch bei uns nicht! Die stritte Anwendung des Gesetzes galt mit Recht und gilt uoch jetzt dem deutscheu Richter als die Kardinalpflicht; er sieht seinen Stolz darin, allezeit ein Bewahrer des ge¬ setzten Rechts zu sein; die Übung dieser Pflicht hat ihn die zur sittlichen Schulung — bei sonstiger Unabhängigkeit — so unentbehrliche Unterordnung unter einen höhern Willen gelehrt; und er weicht, wenigstens mit Bewußtsein, auch bei der weitherzigsten Gesetzesauslegung nicht von seiner Pflicht als Organ der Rechtsan¬ wendung und nicht als Organ der Nechtsschöpfnug. Als solches musz er leider oft auch den Spott über sich ergehn lassen, den der Kritiker, besser unterrichtet, auf den Gesetzgeber häufen würde. Man darf auch nicht erwarten, daß die Reichs- gesetzgebung in nächster Zeit zugunsten des Richters abdanken wird. Auch dazu, den Gesetzgeber für eine schleunige Abstellung empfundner Lücken und Mängel des Gesetzes in Anspruch zu nehmen, entschließt man sich schwer, falls nicht, wie in ge¬ werblichen und sozialen Materien, politische Parteien damit auf den Stimmenfang ausgehn wollen. So werden unsre Zivilrechtssätze wohl immer verurteilt sein, eine Spanne hinter der Zeit herzutraben und aus dem Zustande der Rückständigkeit und der Reformbedürftigkeit nie herauszukommen. Der Segen, die Gesetze an die Lebens¬ und die Geschäftsbedürfnisse anzupassen, wie es der römische Prätor bei der Aus¬ führung seines Amtes zum Heil der Rechtseutwicklung allerzeiten vornehmen durfte, wird dem deutscheu Rechte Wohl nie zuteil werden. In der Strafrechtspflege mag das Begnadigungsrecht der Krone manche Härten ausgleichen; seine Handhabung durch die Justizministerien, oft durch jüngere Arbeits¬ kräfte, zeigt die Begnadigung jedoch nicht als das, wofür sie wohl gehalten wird, als einen unmittelbaren Ausfluß der Entschließungen des Landesherrn; die große Zahl der Gnadensachen, die Notwendigkeit des Studiums umfangreicher Aktenstücke schließen eine solche ideale Handhabung des edelsten Kronrechts aus. So ist die Bearbeitung der Gnadensachen tatsächlich zu einer Art Oberrevision geworden, und ihr materielles Ergebnis kann nur der für zutreffender als das revidierte Gerichts¬ urteil halten, der das Aktenstudium dem unmittelbaren Eindruck der mündlichen Verhandlung als Erkeuutnisquelle vorzieht. Auch sehen wir kein wirksames Heilmittel gegen Rückständigkeit und Schwäche des Strafrechts in der sogenannten bedingten Begnadigung, die man bei uns, anstatt der bedingten Verurteilung andrer Rechtsgebiete, seit einigen Jahren durch Justizverwaltuugsverordnungen eingeführt hat. Nur eine Wirkung hat sie bisher un¬ bestritten gehabt: eine starke Vermehrung der Schreiberei! Viel Anklang hat sie, soviel wir beurteilen können, bei den Praktikern nicht gefunden; ihre Anwendung beruht wohl oft hauptsächlich auf dem Bemühen, nicht unmodern zu erscheinen. Die Art der Handhabung durch Ministerien und Staatsanwaltschaften, das Formnlar- wefen, die durchaus subaltern gehaltnen Anwendungsvorschriften sind nur geeignet, Richtern, die etwas auf ihre Unabhängigkeit halten, die Sache zu verleiden, was auch schon im preußischen Abgeordnetenhause betont worden ist; man sollte es wirklich zu vermeiden suchen, modernen Gestaltungen altmodische Zöpfe anzuhängen! Auch von einer höhern Warte aus betrachtet scheint das Institut mißglückt. Glaubt man, und unsers Erachtens mit Recht, daß man einen bisher unbestraften Jungen von sechzehn Jahren wegen eines geringfügigen Diebstahls nicht ins Ge¬ fängnis sperren soll, so ändre man das Gesetz, das solches befiehlt oder zuläßt; aber den Burschen zu Gefängnis verurteilen und nicht einsperren ist doch bedenklicher, als ihn tatsächlich einsperren; hält man die Gefängnisstrafe für unangebracht, weil sie den verschiednen Zwecken, die die Strafe verfolgen soll und muß, nicht gerecht wird, so ändre man das Gesetz und die Strafart; Strafe aber muß sein. Der Staat darf sich auch „Jugendlichen" gegenüber nicht als impotent zeigen und den Ernst einer Gerichtsverhandlung zu einem leeren, zwecklosen Schauspiele, die Wucht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/62>, abgerufen am 25.07.2024.