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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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INaßgel'liebes und Unmaßgebliches

Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel

Die "Times" haben in ihrer Nummer vom 30. März einen reichlichen Tinten¬
strom ihres Unmuts über Deutschland ergossen, und ein großer Teil der deutscheu
Presse hat ihm die Ehre des Abdrucks erwiesen. Darunter auch Blätter, die den
Deutschen nicht oft genug ein starkes Nationalgefühl empfehlen können. Wir würden
es gern als ersten Ausdruck eines solchen betrachtet haben, wenn sie die Times¬
ungezogenheiten einfach dem Papierkorb überlassen hätten, in den sie gehören. Der
Ärger des Londoner Blattes ist um so unverständlicher, als Kaiser Wilhelm soeben
der gefeierte Gast Englands in Gibraltar gewesen ist und es binnen kurzem in
Malta wiederum sein wird. Sollten die "Times" befürchten, daß zwischen Deutsch¬
land und England eine Annäherung stattfinden könnte, die zu verhindern das Blatt
seit Jahrzehnten als seine oberste Aufgabe betrachtet? Augenscheinlich sind die
"Times" verstimmt darüber, daß an den Gestaden des Mittelmeers und im Atlantik
auch uoch andre Dinge Eindrnck machen als die englische Flotte. Der verärgert
gehässige Ton berechtigt zu der Annahme, als solle damit dem Mißfallen über den
Neapeler Toast- und Depeschenwechsel Ausdruck gegeben und den Italienern nahe¬
gelegt werden, daß sie von Deutschland, das seit zwölf Monaten "auf dem Rück¬
züge und durch die Logik der Ereignisse gezwungen sei, sich ruhig zu Verhalten,"
wenig zu erwarten hätten. Der in Neapel von neuem so lebhaft betonte Dreibund
sei deshalb ohne praktischen Wert, Deutschland begnüge sich damit, ein bedeutend
kleineres Instrument in dem internationalen Konzert zu spielen, als es seit Jahren
für sich in Anspruch genommen habe usw. Es muß den "Times" doch irgeud
etwas sehr gegen den Strich gegangen sein, daß die alte Dame sich so aufregt und
dabei die Person des Kaisers selbst nicht schont, dessen "sonst alles durchdringende
Energie" sie in den letzten sechs Monaten seit der Operation vermißt. Mau darf
daraus wohl schließen, daß die Politiker, die in den "Times" zu Worte kommen,
seit dem Frühling vorigen Jahres vergeblich auf eine Unbesonnenheit Deutschlands
gewartet haben, die sie gern zu Englands Frommen ausgenutzt hätten. Daß die
deutsche Politik in dieser Zeit nicht so ganz untätig gewesen ist, dafür haben doch
mancherlei Anzeichen vorgelegen. Deutschland hat nie den Anspruch erhoben, im
europäischen Konzert fortgesetzt die erste Geige zu spielen. Es kann auch sehr gut
eine Pause machen, um besser auf die Fehler der andern Mitspielenden zu achten.

Im übrigen verdenken wir es den "Times" keinen Augenblick, wenn sie etwa
in der Annahme, daß eine neue englisch-französisch-italienische Entente wegen der
türkischen Angelegenheiten durch Deutschland verhindert worden sei, ihrem Mißfallen
an der Haltung Deutschlands spöttischen Ausdruck geben. Nur halten wir das
Cityblatt für etwas unvorsichtig, wenn es sich dem Kaiser gegenüber zu dem Aus¬
spruch hinreißen läßt: "Man muß aber nicht nur Kolonien erobern, sondern sie
auch festhalten können." Von Leuten, die mit der Handvoll Buren nur nach jahre¬
langen gewaltigen Anstrengungen fertig werden konnten und schließlich die Ober¬
hand doch nur deshalb behielten, weil die andern Mächte zu loyal waren, Englands
Verlegenheiten auszunutzen, klingt ein solcher Ausspruch doch wirklich etwas komisch
und naiv. Der Aufstand in Deutsch-Südwestcifrika mag ja immerhin einigen Freunden
der "Times" recht gelegen gekommen sein, aber sie dürfen überzeugt sein, daß
Deutschland damit fertig zu werden weiß. Die Gelegenheit, dort etwa mittelst der
portugiesischen Waffenliefercmten einen englischen Haken im deutsche" Hause einzu-
schlagen, wird sich nicht bieten.


Die Nuntiussorgen.

Wieder einmal ist der päpstliche Nuntius auf der
Bildfläche der deutschen Presse erschienen. Die "Germania" ist mit Händen und
Füßen dagegen, weil sie für die Abhängigkeit der Zentrumspartei und der Zentrums¬
presse von diesem Vertreter des Papstes fürchtet; Episkopat und Klerus dürften


INaßgel'liebes und Unmaßgebliches

Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel

Die „Times" haben in ihrer Nummer vom 30. März einen reichlichen Tinten¬
strom ihres Unmuts über Deutschland ergossen, und ein großer Teil der deutscheu
Presse hat ihm die Ehre des Abdrucks erwiesen. Darunter auch Blätter, die den
Deutschen nicht oft genug ein starkes Nationalgefühl empfehlen können. Wir würden
es gern als ersten Ausdruck eines solchen betrachtet haben, wenn sie die Times¬
ungezogenheiten einfach dem Papierkorb überlassen hätten, in den sie gehören. Der
Ärger des Londoner Blattes ist um so unverständlicher, als Kaiser Wilhelm soeben
der gefeierte Gast Englands in Gibraltar gewesen ist und es binnen kurzem in
Malta wiederum sein wird. Sollten die „Times" befürchten, daß zwischen Deutsch¬
land und England eine Annäherung stattfinden könnte, die zu verhindern das Blatt
seit Jahrzehnten als seine oberste Aufgabe betrachtet? Augenscheinlich sind die
„Times" verstimmt darüber, daß an den Gestaden des Mittelmeers und im Atlantik
auch uoch andre Dinge Eindrnck machen als die englische Flotte. Der verärgert
gehässige Ton berechtigt zu der Annahme, als solle damit dem Mißfallen über den
Neapeler Toast- und Depeschenwechsel Ausdruck gegeben und den Italienern nahe¬
gelegt werden, daß sie von Deutschland, das seit zwölf Monaten „auf dem Rück¬
züge und durch die Logik der Ereignisse gezwungen sei, sich ruhig zu Verhalten,"
wenig zu erwarten hätten. Der in Neapel von neuem so lebhaft betonte Dreibund
sei deshalb ohne praktischen Wert, Deutschland begnüge sich damit, ein bedeutend
kleineres Instrument in dem internationalen Konzert zu spielen, als es seit Jahren
für sich in Anspruch genommen habe usw. Es muß den „Times" doch irgeud
etwas sehr gegen den Strich gegangen sein, daß die alte Dame sich so aufregt und
dabei die Person des Kaisers selbst nicht schont, dessen „sonst alles durchdringende
Energie" sie in den letzten sechs Monaten seit der Operation vermißt. Mau darf
daraus wohl schließen, daß die Politiker, die in den „Times" zu Worte kommen,
seit dem Frühling vorigen Jahres vergeblich auf eine Unbesonnenheit Deutschlands
gewartet haben, die sie gern zu Englands Frommen ausgenutzt hätten. Daß die
deutsche Politik in dieser Zeit nicht so ganz untätig gewesen ist, dafür haben doch
mancherlei Anzeichen vorgelegen. Deutschland hat nie den Anspruch erhoben, im
europäischen Konzert fortgesetzt die erste Geige zu spielen. Es kann auch sehr gut
eine Pause machen, um besser auf die Fehler der andern Mitspielenden zu achten.

Im übrigen verdenken wir es den „Times" keinen Augenblick, wenn sie etwa
in der Annahme, daß eine neue englisch-französisch-italienische Entente wegen der
türkischen Angelegenheiten durch Deutschland verhindert worden sei, ihrem Mißfallen
an der Haltung Deutschlands spöttischen Ausdruck geben. Nur halten wir das
Cityblatt für etwas unvorsichtig, wenn es sich dem Kaiser gegenüber zu dem Aus¬
spruch hinreißen läßt: „Man muß aber nicht nur Kolonien erobern, sondern sie
auch festhalten können." Von Leuten, die mit der Handvoll Buren nur nach jahre¬
langen gewaltigen Anstrengungen fertig werden konnten und schließlich die Ober¬
hand doch nur deshalb behielten, weil die andern Mächte zu loyal waren, Englands
Verlegenheiten auszunutzen, klingt ein solcher Ausspruch doch wirklich etwas komisch
und naiv. Der Aufstand in Deutsch-Südwestcifrika mag ja immerhin einigen Freunden
der „Times" recht gelegen gekommen sein, aber sie dürfen überzeugt sein, daß
Deutschland damit fertig zu werden weiß. Die Gelegenheit, dort etwa mittelst der
portugiesischen Waffenliefercmten einen englischen Haken im deutsche» Hause einzu-
schlagen, wird sich nicht bieten.


Die Nuntiussorgen.

Wieder einmal ist der päpstliche Nuntius auf der
Bildfläche der deutschen Presse erschienen. Die „Germania" ist mit Händen und
Füßen dagegen, weil sie für die Abhängigkeit der Zentrumspartei und der Zentrums¬
presse von diesem Vertreter des Papstes fürchtet; Episkopat und Klerus dürften


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[0060] INaßgel'liebes und Unmaßgebliches Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegel Die „Times" haben in ihrer Nummer vom 30. März einen reichlichen Tinten¬ strom ihres Unmuts über Deutschland ergossen, und ein großer Teil der deutscheu Presse hat ihm die Ehre des Abdrucks erwiesen. Darunter auch Blätter, die den Deutschen nicht oft genug ein starkes Nationalgefühl empfehlen können. Wir würden es gern als ersten Ausdruck eines solchen betrachtet haben, wenn sie die Times¬ ungezogenheiten einfach dem Papierkorb überlassen hätten, in den sie gehören. Der Ärger des Londoner Blattes ist um so unverständlicher, als Kaiser Wilhelm soeben der gefeierte Gast Englands in Gibraltar gewesen ist und es binnen kurzem in Malta wiederum sein wird. Sollten die „Times" befürchten, daß zwischen Deutsch¬ land und England eine Annäherung stattfinden könnte, die zu verhindern das Blatt seit Jahrzehnten als seine oberste Aufgabe betrachtet? Augenscheinlich sind die „Times" verstimmt darüber, daß an den Gestaden des Mittelmeers und im Atlantik auch uoch andre Dinge Eindrnck machen als die englische Flotte. Der verärgert gehässige Ton berechtigt zu der Annahme, als solle damit dem Mißfallen über den Neapeler Toast- und Depeschenwechsel Ausdruck gegeben und den Italienern nahe¬ gelegt werden, daß sie von Deutschland, das seit zwölf Monaten „auf dem Rück¬ züge und durch die Logik der Ereignisse gezwungen sei, sich ruhig zu Verhalten," wenig zu erwarten hätten. Der in Neapel von neuem so lebhaft betonte Dreibund sei deshalb ohne praktischen Wert, Deutschland begnüge sich damit, ein bedeutend kleineres Instrument in dem internationalen Konzert zu spielen, als es seit Jahren für sich in Anspruch genommen habe usw. Es muß den „Times" doch irgeud etwas sehr gegen den Strich gegangen sein, daß die alte Dame sich so aufregt und dabei die Person des Kaisers selbst nicht schont, dessen „sonst alles durchdringende Energie" sie in den letzten sechs Monaten seit der Operation vermißt. Mau darf daraus wohl schließen, daß die Politiker, die in den „Times" zu Worte kommen, seit dem Frühling vorigen Jahres vergeblich auf eine Unbesonnenheit Deutschlands gewartet haben, die sie gern zu Englands Frommen ausgenutzt hätten. Daß die deutsche Politik in dieser Zeit nicht so ganz untätig gewesen ist, dafür haben doch mancherlei Anzeichen vorgelegen. Deutschland hat nie den Anspruch erhoben, im europäischen Konzert fortgesetzt die erste Geige zu spielen. Es kann auch sehr gut eine Pause machen, um besser auf die Fehler der andern Mitspielenden zu achten. Im übrigen verdenken wir es den „Times" keinen Augenblick, wenn sie etwa in der Annahme, daß eine neue englisch-französisch-italienische Entente wegen der türkischen Angelegenheiten durch Deutschland verhindert worden sei, ihrem Mißfallen an der Haltung Deutschlands spöttischen Ausdruck geben. Nur halten wir das Cityblatt für etwas unvorsichtig, wenn es sich dem Kaiser gegenüber zu dem Aus¬ spruch hinreißen läßt: „Man muß aber nicht nur Kolonien erobern, sondern sie auch festhalten können." Von Leuten, die mit der Handvoll Buren nur nach jahre¬ langen gewaltigen Anstrengungen fertig werden konnten und schließlich die Ober¬ hand doch nur deshalb behielten, weil die andern Mächte zu loyal waren, Englands Verlegenheiten auszunutzen, klingt ein solcher Ausspruch doch wirklich etwas komisch und naiv. Der Aufstand in Deutsch-Südwestcifrika mag ja immerhin einigen Freunden der „Times" recht gelegen gekommen sein, aber sie dürfen überzeugt sein, daß Deutschland damit fertig zu werden weiß. Die Gelegenheit, dort etwa mittelst der portugiesischen Waffenliefercmten einen englischen Haken im deutsche» Hause einzu- schlagen, wird sich nicht bieten. Die Nuntiussorgen. Wieder einmal ist der päpstliche Nuntius auf der Bildfläche der deutschen Presse erschienen. Die „Germania" ist mit Händen und Füßen dagegen, weil sie für die Abhängigkeit der Zentrumspartei und der Zentrums¬ presse von diesem Vertreter des Papstes fürchtet; Episkopat und Klerus dürften

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/60>, abgerufen am 13.11.2024.