Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.Deutsche Romane und Novellen denn daß Peter Camenzind, der als Literat in Zürich, Paris und Basel gelebt, So hat Hermann Hesse, ein Lyriker von nicht gewöhnlicher Begabung, Ich sagte absichtlich "anscheinend"; denn sollten nicht auch Clara Viebig Deutsche Romane und Novellen denn daß Peter Camenzind, der als Literat in Zürich, Paris und Basel gelebt, So hat Hermann Hesse, ein Lyriker von nicht gewöhnlicher Begabung, Ich sagte absichtlich „anscheinend"; denn sollten nicht auch Clara Viebig <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0583" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/294202"/> <fw type="header" place="top"> Deutsche Romane und Novellen</fw><lb/> <p xml:id="ID_2596" prev="#ID_2595"> denn daß Peter Camenzind, der als Literat in Zürich, Paris und Basel gelebt,<lb/> zu Fuß halb Italien durchstreift und ehrfürchtig vor Segantinis Meisterbildern<lb/> gestanden hat, als — Gastwirt von Nimikon enden soll, das glaubt er sich<lb/> selber wohl nicht recht und hats deshalb auch nur als Ziel in die Ferne<lb/> gestellt. Der unsterblichste aller Seldwyler konnte Zürcher Staatsschreiber<lb/> werden — aber auch für seinen schmächtiger geratnen Nachfolger ist es eine<lb/> zu klägliche Geschichte, als Mundschenk sämtlicher Camenzinds zu enden. Denn<lb/> in Nimikou heißen drei Viertel aller Bewohner so, sind aber nicht wie die<lb/> Fabler lauter Helden, sondern etwa wie alle Menschen, nur daß die Zahl der<lb/> Narren ein wenig groß geraten ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_2597"> So hat Hermann Hesse, ein Lyriker von nicht gewöhnlicher Begabung,<lb/> mit seinem „Peter Camenzind" ein feines und eigentümliches Glied in der<lb/> langen Kette von Entwicklungsromanen geschmiedet, die unter Goethes, Kellers<lb/> oder Raabes Patenschaft in den letzten Jahrzehnten entstanden sind. Ich nenne<lb/> nur Sudermanns „Frau Sorge," Frenssens durch dieses Werk anscheinend stark<lb/> beeinflußten „Jörn Abt," Omptedas „Sylvester von Geyer," Holländers<lb/> „Thomas Truck," Friedrich Hnchs „Peter Michel." Wilhelm von Polenzens<lb/> „Thekla Lüdekind," Specks „Zwei Seelen," Paul Ernsts „schmalen Weg<lb/> zum Glück." Einen schmälern Raum nehmen schon neben diesen biographisch¬<lb/> individualistischen Werken die Romane ein — ich spreche immer von Dichtungen,<lb/> nicht von Unterhaltungsromanen —, worin eine ganze Familie, manchesmal<lb/> durch mehrere Geschlechter, abgeschildert wird; Omptedas „Epheu," Thomas<lb/> Manns „Buddenbrooks," Frenssens „Drei Getreue," vor allem die „Erinne¬<lb/> rungen von Ludolf Ursleu dem Jüngern" von Ricarda Huch gehören hierher.<lb/> Und am seltensten ist das geworden, was man früher mit einem ziemlich farb¬<lb/> losen Wort Zeitroman nannte. Ich meine die Bezwingung politischer, sozialer,<lb/> künstlerischer, nicht zuletzt religiöser und philosophischer Strömungen in einem<lb/> breit angelegten Gesamtbilde. Karl Gutzkows nicht genug, ja, aufrichtig gesagt,<lb/> gar nicht mehr bekannte „Ritter vom Geiste" stehn am Eingang dieser Bahn,<lb/> worin Spielhcigens beste Siege („Sturmflut") erfochten wurden, in die auch<lb/> Heyse gelegentlich ritt, und die heute so selten betreten wird. Wilhelm<lb/> von Potenz hat im „Büttnerbauer" und sonst gelungne Versuche in dieser<lb/> Richtung gewagt, deren Fortsetzung uns ein bittres Geschick entzogen hat.<lb/> Aber nachdem in den Stürmerjahren um 1890 soziale Romane nur so aus<lb/> dem Boden geschossen und freilich ebenso geschwind wieder untergegangen sind,<lb/> ist es heute nur ein einziges und merkwürdigerweise weibliches Talent, das<lb/> immer wieder einen großen Rahmen ausspannt und mit anscheinend sehr sichern<lb/> Pinselstrichen ein breites Bild deutschen Lebens gibt.</p><lb/> <p xml:id="ID_2598" next="#ID_2599"> Ich sagte absichtlich „anscheinend"; denn sollten nicht auch Clara Viebig<lb/> Herz und Hand zittern, sollte es nicht auch in ihr Zweifel und Kämpfe geben,<lb/> wie sie keinem Dichter erspart bleiben, ja wie sie in vielem erst den Dichter,<lb/> den Diener am Wort und an der Seele ausmachen? Man merkt nicht viel<lb/> davon, so selbstsicher steht diese hochbegabte Schriftstellerin da, die vielleicht<lb/> ein wenig zu viel Gescheitheit mitbekommen hat, als daß sie auch eine große<lb/> Dichterin werden könnte. Und deshalb fehlt ihren Werken das letzte Bestrickende</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0583]
Deutsche Romane und Novellen
denn daß Peter Camenzind, der als Literat in Zürich, Paris und Basel gelebt,
zu Fuß halb Italien durchstreift und ehrfürchtig vor Segantinis Meisterbildern
gestanden hat, als — Gastwirt von Nimikon enden soll, das glaubt er sich
selber wohl nicht recht und hats deshalb auch nur als Ziel in die Ferne
gestellt. Der unsterblichste aller Seldwyler konnte Zürcher Staatsschreiber
werden — aber auch für seinen schmächtiger geratnen Nachfolger ist es eine
zu klägliche Geschichte, als Mundschenk sämtlicher Camenzinds zu enden. Denn
in Nimikou heißen drei Viertel aller Bewohner so, sind aber nicht wie die
Fabler lauter Helden, sondern etwa wie alle Menschen, nur daß die Zahl der
Narren ein wenig groß geraten ist.
So hat Hermann Hesse, ein Lyriker von nicht gewöhnlicher Begabung,
mit seinem „Peter Camenzind" ein feines und eigentümliches Glied in der
langen Kette von Entwicklungsromanen geschmiedet, die unter Goethes, Kellers
oder Raabes Patenschaft in den letzten Jahrzehnten entstanden sind. Ich nenne
nur Sudermanns „Frau Sorge," Frenssens durch dieses Werk anscheinend stark
beeinflußten „Jörn Abt," Omptedas „Sylvester von Geyer," Holländers
„Thomas Truck," Friedrich Hnchs „Peter Michel." Wilhelm von Polenzens
„Thekla Lüdekind," Specks „Zwei Seelen," Paul Ernsts „schmalen Weg
zum Glück." Einen schmälern Raum nehmen schon neben diesen biographisch¬
individualistischen Werken die Romane ein — ich spreche immer von Dichtungen,
nicht von Unterhaltungsromanen —, worin eine ganze Familie, manchesmal
durch mehrere Geschlechter, abgeschildert wird; Omptedas „Epheu," Thomas
Manns „Buddenbrooks," Frenssens „Drei Getreue," vor allem die „Erinne¬
rungen von Ludolf Ursleu dem Jüngern" von Ricarda Huch gehören hierher.
Und am seltensten ist das geworden, was man früher mit einem ziemlich farb¬
losen Wort Zeitroman nannte. Ich meine die Bezwingung politischer, sozialer,
künstlerischer, nicht zuletzt religiöser und philosophischer Strömungen in einem
breit angelegten Gesamtbilde. Karl Gutzkows nicht genug, ja, aufrichtig gesagt,
gar nicht mehr bekannte „Ritter vom Geiste" stehn am Eingang dieser Bahn,
worin Spielhcigens beste Siege („Sturmflut") erfochten wurden, in die auch
Heyse gelegentlich ritt, und die heute so selten betreten wird. Wilhelm
von Potenz hat im „Büttnerbauer" und sonst gelungne Versuche in dieser
Richtung gewagt, deren Fortsetzung uns ein bittres Geschick entzogen hat.
Aber nachdem in den Stürmerjahren um 1890 soziale Romane nur so aus
dem Boden geschossen und freilich ebenso geschwind wieder untergegangen sind,
ist es heute nur ein einziges und merkwürdigerweise weibliches Talent, das
immer wieder einen großen Rahmen ausspannt und mit anscheinend sehr sichern
Pinselstrichen ein breites Bild deutschen Lebens gibt.
Ich sagte absichtlich „anscheinend"; denn sollten nicht auch Clara Viebig
Herz und Hand zittern, sollte es nicht auch in ihr Zweifel und Kämpfe geben,
wie sie keinem Dichter erspart bleiben, ja wie sie in vielem erst den Dichter,
den Diener am Wort und an der Seele ausmachen? Man merkt nicht viel
davon, so selbstsicher steht diese hochbegabte Schriftstellerin da, die vielleicht
ein wenig zu viel Gescheitheit mitbekommen hat, als daß sie auch eine große
Dichterin werden könnte. Und deshalb fehlt ihren Werken das letzte Bestrickende
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