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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Der Mönch von lveinfelden

Wie das Gericht über die Frevler hereinbrach. Aber dann schreckte er vor diesem
Gedanken zurück. Das Wort kam ihm in den Sinn, das einst der Erzvater Abraham
zu dem zürnenden Jehovah gesprochen hatte: Willst du denn den Gerechten mit
dem Gottlosen umbringen? Man möchte vielleicht zehn Gerechte darinnen finden.

Sollten in Weinfelder nicht auch zehn Gerechte zu finden sein? Der Burgherr
legte sich diese Frage vor und wollte sie schon verneinen. Da dachte er an die
Weiber und die Kinder. Was konnten diese dafür, daß sich die Männer Wider
ihren Herrn empört hatten? Und waren die Männer selbst im Grunde genommen
nicht auch nur Kinder, die von einem bösen Geiste verführt worden waren, ihre
Hand nach fremden Früchten auszustrecken? Nie zuvor hatte Herr Gyllis seine Über¬
legenheit und die Wonne der Macht stärker empfunden als in diesem Augenblick.
Jetzt war die Stunde gekommen, wo er sich seine Bauern wiedergewinnen, wo er
sie in seine Hörigkeit zwingen konnte -- nicht mit Waffengewalt und nicht mit den
starren Satzungen eines jahrhundertealten Weistums, sondern mit dem Schwerte
des Geistes und mit den Banden der Menschenliebe.

Schon rieselte ein schmaler Wasserfaden durch die Mauerbresche. Bald mußte
er zum Sturzbach, zu einem wilden Strome anwachsen. Die sonst so stille Oberfläche
des Weihers zeigte strudelnde Wellen, es war, als hätte die eingeengte Flut geahnt,
daß sie aus ihrem Gefängnis befreit werden sollte, und nun mithelfen wollen, die
Kerkermauer zu brechen.

Der Burgherr hatte in einem Augenblick der innern Erleuchtung seinen Plan
zur Rettung der Betörten entworfen. Jetzt galt es, ihn auszuführen. Keine Minute
durfte mehr in müßigem Zuschauen verloren werden. Er machte sich auf und lief
oder flog den Abhang des Kesselrandes entlang, so schnell ihn seine Füße trugen.
Zwei- oder dreimal stürzte er über Wurzeln und Strauchwerk zu Boden, dann
raffte er sich empor und suchte die Verlornen Sekunden durch beschleunigtes Laufen
wieder einzubringen.

Endlich stand er an der Kirchhofmauer. Er riß das Pförtchen auf, sprang die
Stufen der Treppe hinan und eilte zwischen den alten Grabsteinen und Kreuzen
hindurch zur Kirchentür. Der Schlüssel knarrte im Schloß, und der hohe kühle
Raum, der mehr vom Mondlicht als von dem spärlichen Schein der ewigen Lampe
erhellt wurde, tat sich vor ihm auf. Seine Knie zitterten vor Erschöpfung, und der
Atem rang sich röchelnd aus seiner todmüden Brust; er mußte sich an einer der
Bänke festhalten, um nicht zu Boden zu sinken. Aber er gönnte sich keine Rast,
riß die verdorrten Grabkränze aus Fichtengezweig und Stechpalm von der Wand
und raffte davon zusammen, soviel er tragen konnte. Mit dieser Last erklomm er
die hölzerne Stiege, die zum Turme hinaufführte, schichtete die Kränze gegen das
Sparrenwerk des spitzen Turmhelms und hielt das Fin'machen der ewigen Lampe
darunter, die er aus der durchbrochnen Kupferschale der Altarampel genommen hatte.
Die harzigen Zweiglein knisterten und schwellen, und an dem aufsteigenden Rauch¬
säulchen glitt ein Feuerzünglein herab, das die willkommne Nahrung gierig beleckte.
Bald standen die Kränze in lichterloher Glut, und von den feurigen Rädern kletterten
die Flammen trallernd und prasselnd an den ausgedörrten Sparren empor, bis sie
sich hoch oben in der Spitze zu einer gewaltigen lodernden Fackel vereinten.

Herr Gyllis eilte die Stiege hinab und ergriff den Glockenstrang. Er achtete
weder der glühenden Holzstücke noch der zersprungnen Schiefer, die in den Turm
hinabfielen, sondern zog den Strang, bis seine Arme erlahmten. Wimmernd und
klagend schallten die Glockenklange durch die stille schwüle Sommernacht.

Als die Hitze in dem engen Turm unerträglich wurde, verließ der Burgherr
seinen Posten und trat ins Freie. Er stieg auf die Kirchhofmauer und schaute in
die Tiefe hinab. Ein klafterbreiter Wasserstrom ergoß sich durch die Bresche des
Stauwerks in den Hof des Burghauses. Das Rauschen tönte aus der Ferne
herauf wie von einem Flusse, der über ein Wehr stürzt und mit zornigem Brausen
an dem Hindernis emporschciumt, das seinen Lauf zu hemmen gewagt hat. Aber


Der Mönch von lveinfelden

Wie das Gericht über die Frevler hereinbrach. Aber dann schreckte er vor diesem
Gedanken zurück. Das Wort kam ihm in den Sinn, das einst der Erzvater Abraham
zu dem zürnenden Jehovah gesprochen hatte: Willst du denn den Gerechten mit
dem Gottlosen umbringen? Man möchte vielleicht zehn Gerechte darinnen finden.

Sollten in Weinfelder nicht auch zehn Gerechte zu finden sein? Der Burgherr
legte sich diese Frage vor und wollte sie schon verneinen. Da dachte er an die
Weiber und die Kinder. Was konnten diese dafür, daß sich die Männer Wider
ihren Herrn empört hatten? Und waren die Männer selbst im Grunde genommen
nicht auch nur Kinder, die von einem bösen Geiste verführt worden waren, ihre
Hand nach fremden Früchten auszustrecken? Nie zuvor hatte Herr Gyllis seine Über¬
legenheit und die Wonne der Macht stärker empfunden als in diesem Augenblick.
Jetzt war die Stunde gekommen, wo er sich seine Bauern wiedergewinnen, wo er
sie in seine Hörigkeit zwingen konnte — nicht mit Waffengewalt und nicht mit den
starren Satzungen eines jahrhundertealten Weistums, sondern mit dem Schwerte
des Geistes und mit den Banden der Menschenliebe.

Schon rieselte ein schmaler Wasserfaden durch die Mauerbresche. Bald mußte
er zum Sturzbach, zu einem wilden Strome anwachsen. Die sonst so stille Oberfläche
des Weihers zeigte strudelnde Wellen, es war, als hätte die eingeengte Flut geahnt,
daß sie aus ihrem Gefängnis befreit werden sollte, und nun mithelfen wollen, die
Kerkermauer zu brechen.

Der Burgherr hatte in einem Augenblick der innern Erleuchtung seinen Plan
zur Rettung der Betörten entworfen. Jetzt galt es, ihn auszuführen. Keine Minute
durfte mehr in müßigem Zuschauen verloren werden. Er machte sich auf und lief
oder flog den Abhang des Kesselrandes entlang, so schnell ihn seine Füße trugen.
Zwei- oder dreimal stürzte er über Wurzeln und Strauchwerk zu Boden, dann
raffte er sich empor und suchte die Verlornen Sekunden durch beschleunigtes Laufen
wieder einzubringen.

Endlich stand er an der Kirchhofmauer. Er riß das Pförtchen auf, sprang die
Stufen der Treppe hinan und eilte zwischen den alten Grabsteinen und Kreuzen
hindurch zur Kirchentür. Der Schlüssel knarrte im Schloß, und der hohe kühle
Raum, der mehr vom Mondlicht als von dem spärlichen Schein der ewigen Lampe
erhellt wurde, tat sich vor ihm auf. Seine Knie zitterten vor Erschöpfung, und der
Atem rang sich röchelnd aus seiner todmüden Brust; er mußte sich an einer der
Bänke festhalten, um nicht zu Boden zu sinken. Aber er gönnte sich keine Rast,
riß die verdorrten Grabkränze aus Fichtengezweig und Stechpalm von der Wand
und raffte davon zusammen, soviel er tragen konnte. Mit dieser Last erklomm er
die hölzerne Stiege, die zum Turme hinaufführte, schichtete die Kränze gegen das
Sparrenwerk des spitzen Turmhelms und hielt das Fin'machen der ewigen Lampe
darunter, die er aus der durchbrochnen Kupferschale der Altarampel genommen hatte.
Die harzigen Zweiglein knisterten und schwellen, und an dem aufsteigenden Rauch¬
säulchen glitt ein Feuerzünglein herab, das die willkommne Nahrung gierig beleckte.
Bald standen die Kränze in lichterloher Glut, und von den feurigen Rädern kletterten
die Flammen trallernd und prasselnd an den ausgedörrten Sparren empor, bis sie
sich hoch oben in der Spitze zu einer gewaltigen lodernden Fackel vereinten.

Herr Gyllis eilte die Stiege hinab und ergriff den Glockenstrang. Er achtete
weder der glühenden Holzstücke noch der zersprungnen Schiefer, die in den Turm
hinabfielen, sondern zog den Strang, bis seine Arme erlahmten. Wimmernd und
klagend schallten die Glockenklange durch die stille schwüle Sommernacht.

Als die Hitze in dem engen Turm unerträglich wurde, verließ der Burgherr
seinen Posten und trat ins Freie. Er stieg auf die Kirchhofmauer und schaute in
die Tiefe hinab. Ein klafterbreiter Wasserstrom ergoß sich durch die Bresche des
Stauwerks in den Hof des Burghauses. Das Rauschen tönte aus der Ferne
herauf wie von einem Flusse, der über ein Wehr stürzt und mit zornigem Brausen
an dem Hindernis emporschciumt, das seinen Lauf zu hemmen gewagt hat. Aber


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[0542] Der Mönch von lveinfelden Wie das Gericht über die Frevler hereinbrach. Aber dann schreckte er vor diesem Gedanken zurück. Das Wort kam ihm in den Sinn, das einst der Erzvater Abraham zu dem zürnenden Jehovah gesprochen hatte: Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen? Man möchte vielleicht zehn Gerechte darinnen finden. Sollten in Weinfelder nicht auch zehn Gerechte zu finden sein? Der Burgherr legte sich diese Frage vor und wollte sie schon verneinen. Da dachte er an die Weiber und die Kinder. Was konnten diese dafür, daß sich die Männer Wider ihren Herrn empört hatten? Und waren die Männer selbst im Grunde genommen nicht auch nur Kinder, die von einem bösen Geiste verführt worden waren, ihre Hand nach fremden Früchten auszustrecken? Nie zuvor hatte Herr Gyllis seine Über¬ legenheit und die Wonne der Macht stärker empfunden als in diesem Augenblick. Jetzt war die Stunde gekommen, wo er sich seine Bauern wiedergewinnen, wo er sie in seine Hörigkeit zwingen konnte — nicht mit Waffengewalt und nicht mit den starren Satzungen eines jahrhundertealten Weistums, sondern mit dem Schwerte des Geistes und mit den Banden der Menschenliebe. Schon rieselte ein schmaler Wasserfaden durch die Mauerbresche. Bald mußte er zum Sturzbach, zu einem wilden Strome anwachsen. Die sonst so stille Oberfläche des Weihers zeigte strudelnde Wellen, es war, als hätte die eingeengte Flut geahnt, daß sie aus ihrem Gefängnis befreit werden sollte, und nun mithelfen wollen, die Kerkermauer zu brechen. Der Burgherr hatte in einem Augenblick der innern Erleuchtung seinen Plan zur Rettung der Betörten entworfen. Jetzt galt es, ihn auszuführen. Keine Minute durfte mehr in müßigem Zuschauen verloren werden. Er machte sich auf und lief oder flog den Abhang des Kesselrandes entlang, so schnell ihn seine Füße trugen. Zwei- oder dreimal stürzte er über Wurzeln und Strauchwerk zu Boden, dann raffte er sich empor und suchte die Verlornen Sekunden durch beschleunigtes Laufen wieder einzubringen. Endlich stand er an der Kirchhofmauer. Er riß das Pförtchen auf, sprang die Stufen der Treppe hinan und eilte zwischen den alten Grabsteinen und Kreuzen hindurch zur Kirchentür. Der Schlüssel knarrte im Schloß, und der hohe kühle Raum, der mehr vom Mondlicht als von dem spärlichen Schein der ewigen Lampe erhellt wurde, tat sich vor ihm auf. Seine Knie zitterten vor Erschöpfung, und der Atem rang sich röchelnd aus seiner todmüden Brust; er mußte sich an einer der Bänke festhalten, um nicht zu Boden zu sinken. Aber er gönnte sich keine Rast, riß die verdorrten Grabkränze aus Fichtengezweig und Stechpalm von der Wand und raffte davon zusammen, soviel er tragen konnte. Mit dieser Last erklomm er die hölzerne Stiege, die zum Turme hinaufführte, schichtete die Kränze gegen das Sparrenwerk des spitzen Turmhelms und hielt das Fin'machen der ewigen Lampe darunter, die er aus der durchbrochnen Kupferschale der Altarampel genommen hatte. Die harzigen Zweiglein knisterten und schwellen, und an dem aufsteigenden Rauch¬ säulchen glitt ein Feuerzünglein herab, das die willkommne Nahrung gierig beleckte. Bald standen die Kränze in lichterloher Glut, und von den feurigen Rädern kletterten die Flammen trallernd und prasselnd an den ausgedörrten Sparren empor, bis sie sich hoch oben in der Spitze zu einer gewaltigen lodernden Fackel vereinten. Herr Gyllis eilte die Stiege hinab und ergriff den Glockenstrang. Er achtete weder der glühenden Holzstücke noch der zersprungnen Schiefer, die in den Turm hinabfielen, sondern zog den Strang, bis seine Arme erlahmten. Wimmernd und klagend schallten die Glockenklange durch die stille schwüle Sommernacht. Als die Hitze in dem engen Turm unerträglich wurde, verließ der Burgherr seinen Posten und trat ins Freie. Er stieg auf die Kirchhofmauer und schaute in die Tiefe hinab. Ein klafterbreiter Wasserstrom ergoß sich durch die Bresche des Stauwerks in den Hof des Burghauses. Das Rauschen tönte aus der Ferne herauf wie von einem Flusse, der über ein Wehr stürzt und mit zornigem Brausen an dem Hindernis emporschciumt, das seinen Lauf zu hemmen gewagt hat. Aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/542>, abgerufen am 04.07.2024.