Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.Schwächen und Fiktionen des modernen Parlamentarismus gut wie etwa der Oberpräsident der Provinz Westfalen ohne besondre Arbeits¬ Schwächen und Fiktionen des modernen Parlamentarismus gut wie etwa der Oberpräsident der Provinz Westfalen ohne besondre Arbeits¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0497" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/294116"/> <fw type="header" place="top"> Schwächen und Fiktionen des modernen Parlamentarismus</fw><lb/> <p xml:id="ID_2258" prev="#ID_2257" next="#ID_2259"> gut wie etwa der Oberpräsident der Provinz Westfalen ohne besondre Arbeits¬<lb/> vermehrung die lippischen Fürstentümer, das Königreich Sachsen die reußischen<lb/> Territorien mit verwalten könnte, wenn nicht eben die historisch gewordne und<lb/> reichsverfassungsmäßig gesicherte Vielheit der Staaten gesonderte Verwaltung<lb/> und Gesetzgebung, also auch gesonderte Parlamente verlangte? Wie schwer ist<lb/> es doch auch zuweilen, die Aufgaben zweier so großer Körperschaften wie des<lb/> deutschen Reichstags und des preußischen Landtags scharf voneinander zu<lb/> trennen, da sich das, was der preußische Landtag beschließt, auf dreifünftel<lb/> von Deutschland bezieht, und die preußischen Minister haben immer wieder im<lb/> Reichstage oder im Landtage abzuwehren, daß dort „preußische," hier deutsche<lb/> Angelegenheiten zur Sprache gebracht werden, wie die preußische Polenpolitik<lb/> oder die Handelsverträge, obwohl diese gemeinsame deutsche Nationalinteressen sind.<lb/> Und wie eingehend, wenn auch oft genug nichts weniger als freundlich, sondern<lb/> in gehässigen, ja geradezu partikularistischem Sinne beschäftigt sich doch auch<lb/> die deutsche Presse außerhalb Preußens mit „spezifisch preußischen" Angelegen¬<lb/> heiten, weil sie fühlt, daß in preußischen Maßregeln oft die Entscheidung für<lb/> ganz Deutschland liegt. Wenn die Logik in der Geschichte herrschte, was be¬<lb/> kanntlich um so weniger der Fall ist, je älter die Staaten, je stärker also ihre<lb/> Traditionen sind, so würde es, was seinerzeit auch gelegentlich erwogen worden ist<lb/> (s. z.B. Treitschke in den „Zehn Jahren deutscher Kämpfe" I« 205.252 von<lb/> 1867 und 1869), das einfachste gewesen sein, den preußischen Landtag durch<lb/> Zuwahlen aus den übrigen Bundesstaaten zu einem erst norddeutschen, später<lb/> deutschen Reichstage zu erweitern und dann je nachdem nur die preußischen<lb/> oder alle deutschen Mitglieder beraten und beschließen zu lassen; aber dadurch<lb/> hätte sich das berechtigte Selbstgefühl der übrigen Deutschen zu sehr verletzt<lb/> gefühlt, obwohl der parlamentarische Apparat sehr vereinfacht worden wäre.<lb/> Die Vielheit der Parlamente entspricht eben der politischen Entwicklung Deutsch¬<lb/> lands so sehr, daß daran nichts zu ändern ist. In ähnlicher Weise führt unsre<lb/> Gemeindeautonomie zu einer Unsumme vou gesetzgeberischer Arbeit, die, wenn<lb/> es nur auf das Praktische ankäme, ebenso gut zentralisiert, also vereinfacht<lb/> werden konnte, aber eben nur auf Kosten der Gemeindeautonomie, und diese ist<lb/> ein wesentliches Stück unsrer Selbstverwaltung und tief im deutschen Charakter<lb/> begründet. An alledem läßt sich also nicht viel ändern, und es kommt schließlich<lb/> bei allen diesen parlamentarischen Verhandlungen nicht nur auf die Ergebnisse<lb/> an, sondern auch auf die Teilnahme der Gebildeten am öffentlichen Leben, die<lb/> die eine Seite der Freiheit ist. Allerdings, wie wenig entsprechen oft die Früchte<lb/> diesem ungeheuern Aufwand an Zeit und Kraft! Fast nach jeder Session<lb/> größerer Vertretungskörper wird überall geklagt, daß sie wenig fruchtbar ge¬<lb/> wesen, daß wichtige Gesetzentwürfe oder Anträge gar nicht erledigt oder nur<lb/> mühsam und mit manchen Verschlechterungen „durchgequält" worden seien, daß<lb/> die kostbare Zeit mit endlosen Reden zwecklos vergeudet worden sei. Kurz, im<lb/> Grunde ist niemand so recht mit den Leistungen unsers modernen Parlamen¬<lb/> tarismus zufrieden. Dann machen die Parteien einander verantwortlich, und<lb/> im Reichstage will die Klage über den mangelhaften Besuch der Sitzungen nicht<lb/> verstummen. Die Hauptschuld daran tragen freilich nicht die Menschen, sondern</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0497]
Schwächen und Fiktionen des modernen Parlamentarismus
gut wie etwa der Oberpräsident der Provinz Westfalen ohne besondre Arbeits¬
vermehrung die lippischen Fürstentümer, das Königreich Sachsen die reußischen
Territorien mit verwalten könnte, wenn nicht eben die historisch gewordne und
reichsverfassungsmäßig gesicherte Vielheit der Staaten gesonderte Verwaltung
und Gesetzgebung, also auch gesonderte Parlamente verlangte? Wie schwer ist
es doch auch zuweilen, die Aufgaben zweier so großer Körperschaften wie des
deutschen Reichstags und des preußischen Landtags scharf voneinander zu
trennen, da sich das, was der preußische Landtag beschließt, auf dreifünftel
von Deutschland bezieht, und die preußischen Minister haben immer wieder im
Reichstage oder im Landtage abzuwehren, daß dort „preußische," hier deutsche
Angelegenheiten zur Sprache gebracht werden, wie die preußische Polenpolitik
oder die Handelsverträge, obwohl diese gemeinsame deutsche Nationalinteressen sind.
Und wie eingehend, wenn auch oft genug nichts weniger als freundlich, sondern
in gehässigen, ja geradezu partikularistischem Sinne beschäftigt sich doch auch
die deutsche Presse außerhalb Preußens mit „spezifisch preußischen" Angelegen¬
heiten, weil sie fühlt, daß in preußischen Maßregeln oft die Entscheidung für
ganz Deutschland liegt. Wenn die Logik in der Geschichte herrschte, was be¬
kanntlich um so weniger der Fall ist, je älter die Staaten, je stärker also ihre
Traditionen sind, so würde es, was seinerzeit auch gelegentlich erwogen worden ist
(s. z.B. Treitschke in den „Zehn Jahren deutscher Kämpfe" I« 205.252 von
1867 und 1869), das einfachste gewesen sein, den preußischen Landtag durch
Zuwahlen aus den übrigen Bundesstaaten zu einem erst norddeutschen, später
deutschen Reichstage zu erweitern und dann je nachdem nur die preußischen
oder alle deutschen Mitglieder beraten und beschließen zu lassen; aber dadurch
hätte sich das berechtigte Selbstgefühl der übrigen Deutschen zu sehr verletzt
gefühlt, obwohl der parlamentarische Apparat sehr vereinfacht worden wäre.
Die Vielheit der Parlamente entspricht eben der politischen Entwicklung Deutsch¬
lands so sehr, daß daran nichts zu ändern ist. In ähnlicher Weise führt unsre
Gemeindeautonomie zu einer Unsumme vou gesetzgeberischer Arbeit, die, wenn
es nur auf das Praktische ankäme, ebenso gut zentralisiert, also vereinfacht
werden konnte, aber eben nur auf Kosten der Gemeindeautonomie, und diese ist
ein wesentliches Stück unsrer Selbstverwaltung und tief im deutschen Charakter
begründet. An alledem läßt sich also nicht viel ändern, und es kommt schließlich
bei allen diesen parlamentarischen Verhandlungen nicht nur auf die Ergebnisse
an, sondern auch auf die Teilnahme der Gebildeten am öffentlichen Leben, die
die eine Seite der Freiheit ist. Allerdings, wie wenig entsprechen oft die Früchte
diesem ungeheuern Aufwand an Zeit und Kraft! Fast nach jeder Session
größerer Vertretungskörper wird überall geklagt, daß sie wenig fruchtbar ge¬
wesen, daß wichtige Gesetzentwürfe oder Anträge gar nicht erledigt oder nur
mühsam und mit manchen Verschlechterungen „durchgequält" worden seien, daß
die kostbare Zeit mit endlosen Reden zwecklos vergeudet worden sei. Kurz, im
Grunde ist niemand so recht mit den Leistungen unsers modernen Parlamen¬
tarismus zufrieden. Dann machen die Parteien einander verantwortlich, und
im Reichstage will die Klage über den mangelhaften Besuch der Sitzungen nicht
verstummen. Die Hauptschuld daran tragen freilich nicht die Menschen, sondern
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