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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

er wenig andres mehr ist als eine Interessenvertretung, die sich mit dem zer¬
schlissenen Gewände alter Parteiprogramme drapiert, aber schlechterdings keinen
neuen politischen Gedanken mehr hat, und Fürst Bismarck, dem die Grenzboten
mit Hingebung gedient haben in einer Zeit, wo er von allen Seiten angefeindet wurde,
ist bekanntlich vor vierzehn Jahren aus dem Amte geschieden und seit fast sechs Jahren
tot. Die Grenzboten aber sind immer mit den aufsteigenden Mächten des deutschen
Lebens gegangen, wie es ernsten Politikern ziemt, die nicht Parteimänner sind, also
mit der nationalen Idee und mit dem Liberalismus, solange dieser ihr Hauptvertreter
war, mit dem großen Kanzler, als er neue Bahnen einschlug, auf denen ihm die
Liberalen nicht folgen wollten, mit dem Kaiser, als er die Nation aus der Binnensee
einer wesentlich europäischen Politik auf das hohe Meer der Weltpolitik hinausführte,
ohne in der Nation das rechte Verständnis dafür zu finden. Die Grenzboten
sind stolz auf ihre großen Erinnerungen, aber für die lebendige Gegenwart
lassen sie sich daraus keine Fesseln schmieden, und noch weniger aus einer Partei¬
schablone. Ob das Leipziger Tageblatt sie ernst nimmt oder nicht, ist ihnen völlig
gleichgiltig; sie haben ihren festen, sich fortwährend erweiternden Leserkreis, und sie
erhalten so häufig zustimmende Erklärungen aus Nord und Süd, daß sie sich der
Überzeugung nicht verschließen können: außerhalb der Kreise des Leipziger Tage¬
blattes werden sie für recht ernst genommen. Sie verwehren auch keinem andern
Blatte, eine abweichende Meinung zu äußern, und ..verdächtigen" deshalb niemand;
sie überlassen es auch dem Amtsblatt für eine Reihe königlicher und städtischer
Behörden, der Reichsregieruug auf Schritt und Tritt eine absolut unreife Oppo¬
sition zu machen, und sie sind nicht im mindesten von dem Bekenntnis erschüttert,
daß das Leipziger Tageblatt zu dem gegenwärtigen Reichskanzler, "diesem lächelnden
Salonästheten" (wie geiht- und geschmackvoll!), gar kein Vertrauen habe -- darauf
kommt ja nichts an --, aber sie verlangen auch von Blättern andrer Richtung, daß
man ihre Meinung als eine auf ehrlicher Überzeugung beruhende anerkenne, und
wo sie auf Kleinlichkeit und Kurzsichtigkeit, auf Unziemlichkeit und hämische Bosheit
treffen, da schlagen sie los. Um das Leipziger Tageblatt freilich werden sie sich
in Zukunft nicht mehr kümmern, um ihm zu keiner größern Bedeutung zu verhelfen,
als die es sich selbst verdient.

Ki. Damit Schluß für immer gegenüber dem L. T.!


Zum Konfessionsfrieden.

Es gehört eine gute Portion Optimismus
und Idealismus dazu, wenn man bei den unsagbar traurigen Verhältnissen, bei
den Über alle Maßen zugespitzten Gegensätzen, in die heutzutage Protestantismus
und Katholizismus geraten sind, überhaupt noch Lust und Mut hat, ein Thema
Su berühren, dessen Besprechung völlig wirkungslos erscheint. Wenn wir es gleich¬
wohl versuchen so geschieht es deshalb, weil in der allerjüngsten Zeit nun auch in
der führenden 'katholischen Presse einzelne Stimmen laut werden, die die Schuld
°n der so betrübenden Zeiterscheinung nicht mehr ausschließlich bei den Evan¬
gelischen suchen. Dahin rechnen wir eine längere Betrachtung in Nummer 348
der Kölnischen Volkszeitung. die das unverkennbare Bestreben zeigt, die dem
deutschen Volk so notwendige Friedensstimmung mit vorbereiten zu helfen. Eben
deshalb unterlassen wir jegliche Polemik über die Stellen, die wir nicht unbean¬
standet lassen dürften, sondern heben mit Befriedigung ein paar Sätze hervor,
deren Tonart und Gedankeninhalt wir die weiteste Verbreitung wünschen möchten,
^r kommen nicht eher zur Stille, zur Ruhe, zum Frieden, als bis der Geist,
die Gesinnung, die Stimmung, die in der erwähnten Erörterung wohltuend be¬
rühren, in beiden Lagern Wurzel fassen und um sich greifen.

Der Verfasser sagt dort: "Es fällt uns nicht ein, alle Schuld an diesem
Prozeß ausschließlich auf der Gegenseite zu sehen. Es wäre auch mehr als
sonderbar, wenn in einem Kampfe von solchem Umfang, solcher Dauer und solcher
Erbitterung der eine Teil lediglich sündigte und der andre lediglich duldete. Auch


Grenzboten II 1904 64
Maßgebliches und Unmaßgebliches

er wenig andres mehr ist als eine Interessenvertretung, die sich mit dem zer¬
schlissenen Gewände alter Parteiprogramme drapiert, aber schlechterdings keinen
neuen politischen Gedanken mehr hat, und Fürst Bismarck, dem die Grenzboten
mit Hingebung gedient haben in einer Zeit, wo er von allen Seiten angefeindet wurde,
ist bekanntlich vor vierzehn Jahren aus dem Amte geschieden und seit fast sechs Jahren
tot. Die Grenzboten aber sind immer mit den aufsteigenden Mächten des deutschen
Lebens gegangen, wie es ernsten Politikern ziemt, die nicht Parteimänner sind, also
mit der nationalen Idee und mit dem Liberalismus, solange dieser ihr Hauptvertreter
war, mit dem großen Kanzler, als er neue Bahnen einschlug, auf denen ihm die
Liberalen nicht folgen wollten, mit dem Kaiser, als er die Nation aus der Binnensee
einer wesentlich europäischen Politik auf das hohe Meer der Weltpolitik hinausführte,
ohne in der Nation das rechte Verständnis dafür zu finden. Die Grenzboten
sind stolz auf ihre großen Erinnerungen, aber für die lebendige Gegenwart
lassen sie sich daraus keine Fesseln schmieden, und noch weniger aus einer Partei¬
schablone. Ob das Leipziger Tageblatt sie ernst nimmt oder nicht, ist ihnen völlig
gleichgiltig; sie haben ihren festen, sich fortwährend erweiternden Leserkreis, und sie
erhalten so häufig zustimmende Erklärungen aus Nord und Süd, daß sie sich der
Überzeugung nicht verschließen können: außerhalb der Kreise des Leipziger Tage¬
blattes werden sie für recht ernst genommen. Sie verwehren auch keinem andern
Blatte, eine abweichende Meinung zu äußern, und ..verdächtigen" deshalb niemand;
sie überlassen es auch dem Amtsblatt für eine Reihe königlicher und städtischer
Behörden, der Reichsregieruug auf Schritt und Tritt eine absolut unreife Oppo¬
sition zu machen, und sie sind nicht im mindesten von dem Bekenntnis erschüttert,
daß das Leipziger Tageblatt zu dem gegenwärtigen Reichskanzler, „diesem lächelnden
Salonästheten" (wie geiht- und geschmackvoll!), gar kein Vertrauen habe — darauf
kommt ja nichts an —, aber sie verlangen auch von Blättern andrer Richtung, daß
man ihre Meinung als eine auf ehrlicher Überzeugung beruhende anerkenne, und
wo sie auf Kleinlichkeit und Kurzsichtigkeit, auf Unziemlichkeit und hämische Bosheit
treffen, da schlagen sie los. Um das Leipziger Tageblatt freilich werden sie sich
in Zukunft nicht mehr kümmern, um ihm zu keiner größern Bedeutung zu verhelfen,
als die es sich selbst verdient.

Ki. Damit Schluß für immer gegenüber dem L. T.!


Zum Konfessionsfrieden.

Es gehört eine gute Portion Optimismus
und Idealismus dazu, wenn man bei den unsagbar traurigen Verhältnissen, bei
den Über alle Maßen zugespitzten Gegensätzen, in die heutzutage Protestantismus
und Katholizismus geraten sind, überhaupt noch Lust und Mut hat, ein Thema
Su berühren, dessen Besprechung völlig wirkungslos erscheint. Wenn wir es gleich¬
wohl versuchen so geschieht es deshalb, weil in der allerjüngsten Zeit nun auch in
der führenden 'katholischen Presse einzelne Stimmen laut werden, die die Schuld
°n der so betrübenden Zeiterscheinung nicht mehr ausschließlich bei den Evan¬
gelischen suchen. Dahin rechnen wir eine längere Betrachtung in Nummer 348
der Kölnischen Volkszeitung. die das unverkennbare Bestreben zeigt, die dem
deutschen Volk so notwendige Friedensstimmung mit vorbereiten zu helfen. Eben
deshalb unterlassen wir jegliche Polemik über die Stellen, die wir nicht unbean¬
standet lassen dürften, sondern heben mit Befriedigung ein paar Sätze hervor,
deren Tonart und Gedankeninhalt wir die weiteste Verbreitung wünschen möchten,
^r kommen nicht eher zur Stille, zur Ruhe, zum Frieden, als bis der Geist,
die Gesinnung, die Stimmung, die in der erwähnten Erörterung wohltuend be¬
rühren, in beiden Lagern Wurzel fassen und um sich greifen.

Der Verfasser sagt dort: „Es fällt uns nicht ein, alle Schuld an diesem
Prozeß ausschließlich auf der Gegenseite zu sehen. Es wäre auch mehr als
sonderbar, wenn in einem Kampfe von solchem Umfang, solcher Dauer und solcher
Erbitterung der eine Teil lediglich sündigte und der andre lediglich duldete. Auch


Grenzboten II 1904 64
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[0489] Maßgebliches und Unmaßgebliches er wenig andres mehr ist als eine Interessenvertretung, die sich mit dem zer¬ schlissenen Gewände alter Parteiprogramme drapiert, aber schlechterdings keinen neuen politischen Gedanken mehr hat, und Fürst Bismarck, dem die Grenzboten mit Hingebung gedient haben in einer Zeit, wo er von allen Seiten angefeindet wurde, ist bekanntlich vor vierzehn Jahren aus dem Amte geschieden und seit fast sechs Jahren tot. Die Grenzboten aber sind immer mit den aufsteigenden Mächten des deutschen Lebens gegangen, wie es ernsten Politikern ziemt, die nicht Parteimänner sind, also mit der nationalen Idee und mit dem Liberalismus, solange dieser ihr Hauptvertreter war, mit dem großen Kanzler, als er neue Bahnen einschlug, auf denen ihm die Liberalen nicht folgen wollten, mit dem Kaiser, als er die Nation aus der Binnensee einer wesentlich europäischen Politik auf das hohe Meer der Weltpolitik hinausführte, ohne in der Nation das rechte Verständnis dafür zu finden. Die Grenzboten sind stolz auf ihre großen Erinnerungen, aber für die lebendige Gegenwart lassen sie sich daraus keine Fesseln schmieden, und noch weniger aus einer Partei¬ schablone. Ob das Leipziger Tageblatt sie ernst nimmt oder nicht, ist ihnen völlig gleichgiltig; sie haben ihren festen, sich fortwährend erweiternden Leserkreis, und sie erhalten so häufig zustimmende Erklärungen aus Nord und Süd, daß sie sich der Überzeugung nicht verschließen können: außerhalb der Kreise des Leipziger Tage¬ blattes werden sie für recht ernst genommen. Sie verwehren auch keinem andern Blatte, eine abweichende Meinung zu äußern, und ..verdächtigen" deshalb niemand; sie überlassen es auch dem Amtsblatt für eine Reihe königlicher und städtischer Behörden, der Reichsregieruug auf Schritt und Tritt eine absolut unreife Oppo¬ sition zu machen, und sie sind nicht im mindesten von dem Bekenntnis erschüttert, daß das Leipziger Tageblatt zu dem gegenwärtigen Reichskanzler, „diesem lächelnden Salonästheten" (wie geiht- und geschmackvoll!), gar kein Vertrauen habe — darauf kommt ja nichts an —, aber sie verlangen auch von Blättern andrer Richtung, daß man ihre Meinung als eine auf ehrlicher Überzeugung beruhende anerkenne, und wo sie auf Kleinlichkeit und Kurzsichtigkeit, auf Unziemlichkeit und hämische Bosheit treffen, da schlagen sie los. Um das Leipziger Tageblatt freilich werden sie sich in Zukunft nicht mehr kümmern, um ihm zu keiner größern Bedeutung zu verhelfen, als die es sich selbst verdient. Ki. Damit Schluß für immer gegenüber dem L. T.! Zum Konfessionsfrieden. Es gehört eine gute Portion Optimismus und Idealismus dazu, wenn man bei den unsagbar traurigen Verhältnissen, bei den Über alle Maßen zugespitzten Gegensätzen, in die heutzutage Protestantismus und Katholizismus geraten sind, überhaupt noch Lust und Mut hat, ein Thema Su berühren, dessen Besprechung völlig wirkungslos erscheint. Wenn wir es gleich¬ wohl versuchen so geschieht es deshalb, weil in der allerjüngsten Zeit nun auch in der führenden 'katholischen Presse einzelne Stimmen laut werden, die die Schuld °n der so betrübenden Zeiterscheinung nicht mehr ausschließlich bei den Evan¬ gelischen suchen. Dahin rechnen wir eine längere Betrachtung in Nummer 348 der Kölnischen Volkszeitung. die das unverkennbare Bestreben zeigt, die dem deutschen Volk so notwendige Friedensstimmung mit vorbereiten zu helfen. Eben deshalb unterlassen wir jegliche Polemik über die Stellen, die wir nicht unbean¬ standet lassen dürften, sondern heben mit Befriedigung ein paar Sätze hervor, deren Tonart und Gedankeninhalt wir die weiteste Verbreitung wünschen möchten, ^r kommen nicht eher zur Stille, zur Ruhe, zum Frieden, als bis der Geist, die Gesinnung, die Stimmung, die in der erwähnten Erörterung wohltuend be¬ rühren, in beiden Lagern Wurzel fassen und um sich greifen. Der Verfasser sagt dort: „Es fällt uns nicht ein, alle Schuld an diesem Prozeß ausschließlich auf der Gegenseite zu sehen. Es wäre auch mehr als sonderbar, wenn in einem Kampfe von solchem Umfang, solcher Dauer und solcher Erbitterung der eine Teil lediglich sündigte und der andre lediglich duldete. Auch Grenzboten II 1904 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/489>, abgerufen am 13.11.2024.