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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Erinnerungen

optieren dürfen, wodurch sie allerdings für die Dauer ihres Wohnsitzes in Berlin
gebunden bleiben. Ich optierte -- vielleicht etwas voreilig -- für die Domgemeinde.
Domprediger waren damals die Hofprediger Kögel, Baur und Stöcker, alle drei
hervorragende Geistliche und Kanzelredner, hochangesehene Männer und positiven
Bekenntnisses. Dazu kam, daß ich Stöcker schon in der Zeit, als ich in Halberstadt
Referendar war, persönlich kennen gelernt hatte. Er war damals ein junger, frischer,
etwas schüchterner Kandidat, und wir hatten uns einigemal in dem gastlichen Hause
des vou uns beiden verehrten, originellen, poetisch und rednerisch begabten Dom-
Predigers Hugo Lange getroffen. Seitdem waren zwar mehr als zwanzig Jahre
vergangen, ohne daß wir uns wieder gesehen hatten, aber immerhin war jene frühere
Bekanntschaft doch ein Anknüpfungspunkt. Überdies war Stöcker mit einer Ruhte
des von mir überaus geschätzten Geheimen Justizrath Krüger in Halberstadt ver¬
heiratet, und anch der alte Feldpropst Thielen, den ich in Hannover im Boetticher-
schen Hanse kennen gelernt hatte, war seines Lobes voll und rühmte bei jeder Ge¬
legenheit die Wirksamkeit, die Stöcker als Militärgeistlicher vor Metz entfaltet hatte.
Stöcker war bald nach meinem Eintritt ins Ministerium zu mir gekommen, hatte
die alte Bekanntschaft erneuert und mich zum Eintritt in das Komitee der Berliner
Stadtmission, deren Leitung er von Bruckner übernommen hatte, und deren Ent¬
wicklung er mit großem Eifer und Geschick betrieb, angeworben. Jedenfalls schien
mir die Domgemeinde mit ihren drei Geistlichen alles zu bieten, was wir für unser
kirchliches Leben bedurften. Gleichwohl gewährte uns der Dom auf die Dauer nicht
alles, was wir suchten. Weder Kogels, noch Stöckers. noch Baurs Predigtwelse
sagte uns ganz zu. Alle drei predigten bet aller Begabung und dogmatischen
Korrektheit zu polemisch. Sie straften mit großem Ernst und fesselnder Beredsam¬
keit die Schäden der Zeit und des Volks. Aber gegen diesen auf das Ganze
gehenden polemischen Zug ihrer Predigten trat die seelsorgerische Anwendung des
Schrifttextes auf das persönliche Leben des Einzelnen, wie wir sie als unser Be¬
dürfnis empfanden, mehr zurück, und wir, meine Frau sowohl wie ich. kamen
wiederholt aus dem Dom mit der Empfindung nach Hause, daß uus Gottesdienst
und Predigt, ungeachtet des herrlichen und erhebenden Domchorgesangs, gerade die
persönliche Erbauung nicht gewährt hatten, die wir brauchten. Ich habe mich darüber
<nich einmal gegen Stöcker ausgesprochen. Er war aber der Meinung, daß gerade
im Dom, der Kirche des Kaisers, die Predigt ein Zeugnis für das ganze Volk
sein müsse, der Einzelne werde auch davon seinen Segen haben. Ich will auch
nicht in Abrede stellen, daß wir für die Befriedigung unsers subjektiven geistlichen
Bedürfnisses vielleicht zu anspruchsvoll gewesen sein mögen. Genug, wir wurden
im Dom nicht recht warm. Am meisten noch bei Baur, bei dem die Innerlichkeit
damals mehr zu ihrem Rechte kam, als bei den formvollendeten Predigten Kogels
und der feurigen, mehr auf Massenwirkung angelegten Stöckers. Wir fingen all¬
mählich an. dann und wann in die Jakobikirche zu Prediger Disselhoff zu gehn
dessen Predigt unserm Bedürfnisse mehr entsprach. Allein ausschlaggebend für uns
wurde nach einiger Zeit der Umstand, daß uns die Entfernung unsrer Wohnung
vom Dom und auch von der Jakobikirche zu groß war. Namentlich meine Frau,
deren Zeit und Kräfte durch unsre Kinderschar und den mühseligen Haushalt ohnehin
übermäßig in Anspruch genommen waren, konnte auf die Dauer die weiten Kirch-
wege nicht vertragen. So gern wir beide uns kirchlich dahin hielten, wohin wir
ordnungsmäßig gehörten, so wenig konnte ich mich gegen die Erkenntnis verschließen.
d"ß unser sonntäglicher Kirchgang zum Dom dauernd nicht durchzuführen war.
Wir fanden aber auch bald einen Ersatz in der unsrer Wohnung ganz nahe ge¬
legnen Kapelle des Elisabethkrankenhauses in der Lützowstraße Dort predigte der
Pastor Kuhlo. ein alter, erfahrener, lutherischer Geistlicher, überaus schlicht und
einfach das Evangelium genau so. wie es uns persönlich nötig war. und le öfter
ihn hörten, desto lieber wurde er uns. Wir empfingen dort reichen, auch in
unserm Persönlichen Leben spürbaren Segen, und so kam es, daß wir uns ;e länger


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optieren dürfen, wodurch sie allerdings für die Dauer ihres Wohnsitzes in Berlin
gebunden bleiben. Ich optierte — vielleicht etwas voreilig — für die Domgemeinde.
Domprediger waren damals die Hofprediger Kögel, Baur und Stöcker, alle drei
hervorragende Geistliche und Kanzelredner, hochangesehene Männer und positiven
Bekenntnisses. Dazu kam, daß ich Stöcker schon in der Zeit, als ich in Halberstadt
Referendar war, persönlich kennen gelernt hatte. Er war damals ein junger, frischer,
etwas schüchterner Kandidat, und wir hatten uns einigemal in dem gastlichen Hause
des vou uns beiden verehrten, originellen, poetisch und rednerisch begabten Dom-
Predigers Hugo Lange getroffen. Seitdem waren zwar mehr als zwanzig Jahre
vergangen, ohne daß wir uns wieder gesehen hatten, aber immerhin war jene frühere
Bekanntschaft doch ein Anknüpfungspunkt. Überdies war Stöcker mit einer Ruhte
des von mir überaus geschätzten Geheimen Justizrath Krüger in Halberstadt ver¬
heiratet, und anch der alte Feldpropst Thielen, den ich in Hannover im Boetticher-
schen Hanse kennen gelernt hatte, war seines Lobes voll und rühmte bei jeder Ge¬
legenheit die Wirksamkeit, die Stöcker als Militärgeistlicher vor Metz entfaltet hatte.
Stöcker war bald nach meinem Eintritt ins Ministerium zu mir gekommen, hatte
die alte Bekanntschaft erneuert und mich zum Eintritt in das Komitee der Berliner
Stadtmission, deren Leitung er von Bruckner übernommen hatte, und deren Ent¬
wicklung er mit großem Eifer und Geschick betrieb, angeworben. Jedenfalls schien
mir die Domgemeinde mit ihren drei Geistlichen alles zu bieten, was wir für unser
kirchliches Leben bedurften. Gleichwohl gewährte uns der Dom auf die Dauer nicht
alles, was wir suchten. Weder Kogels, noch Stöckers. noch Baurs Predigtwelse
sagte uns ganz zu. Alle drei predigten bet aller Begabung und dogmatischen
Korrektheit zu polemisch. Sie straften mit großem Ernst und fesselnder Beredsam¬
keit die Schäden der Zeit und des Volks. Aber gegen diesen auf das Ganze
gehenden polemischen Zug ihrer Predigten trat die seelsorgerische Anwendung des
Schrifttextes auf das persönliche Leben des Einzelnen, wie wir sie als unser Be¬
dürfnis empfanden, mehr zurück, und wir, meine Frau sowohl wie ich. kamen
wiederholt aus dem Dom mit der Empfindung nach Hause, daß uus Gottesdienst
und Predigt, ungeachtet des herrlichen und erhebenden Domchorgesangs, gerade die
persönliche Erbauung nicht gewährt hatten, die wir brauchten. Ich habe mich darüber
<nich einmal gegen Stöcker ausgesprochen. Er war aber der Meinung, daß gerade
im Dom, der Kirche des Kaisers, die Predigt ein Zeugnis für das ganze Volk
sein müsse, der Einzelne werde auch davon seinen Segen haben. Ich will auch
nicht in Abrede stellen, daß wir für die Befriedigung unsers subjektiven geistlichen
Bedürfnisses vielleicht zu anspruchsvoll gewesen sein mögen. Genug, wir wurden
im Dom nicht recht warm. Am meisten noch bei Baur, bei dem die Innerlichkeit
damals mehr zu ihrem Rechte kam, als bei den formvollendeten Predigten Kogels
und der feurigen, mehr auf Massenwirkung angelegten Stöckers. Wir fingen all¬
mählich an. dann und wann in die Jakobikirche zu Prediger Disselhoff zu gehn
dessen Predigt unserm Bedürfnisse mehr entsprach. Allein ausschlaggebend für uns
wurde nach einiger Zeit der Umstand, daß uns die Entfernung unsrer Wohnung
vom Dom und auch von der Jakobikirche zu groß war. Namentlich meine Frau,
deren Zeit und Kräfte durch unsre Kinderschar und den mühseligen Haushalt ohnehin
übermäßig in Anspruch genommen waren, konnte auf die Dauer die weiten Kirch-
wege nicht vertragen. So gern wir beide uns kirchlich dahin hielten, wohin wir
ordnungsmäßig gehörten, so wenig konnte ich mich gegen die Erkenntnis verschließen.
d"ß unser sonntäglicher Kirchgang zum Dom dauernd nicht durchzuführen war.
Wir fanden aber auch bald einen Ersatz in der unsrer Wohnung ganz nahe ge¬
legnen Kapelle des Elisabethkrankenhauses in der Lützowstraße Dort predigte der
Pastor Kuhlo. ein alter, erfahrener, lutherischer Geistlicher, überaus schlicht und
einfach das Evangelium genau so. wie es uns persönlich nötig war. und le öfter
ihn hörten, desto lieber wurde er uns. Wir empfingen dort reichen, auch in
unserm Persönlichen Leben spürbaren Segen, und so kam es, daß wir uns ;e länger


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[0045] Erinnerungen optieren dürfen, wodurch sie allerdings für die Dauer ihres Wohnsitzes in Berlin gebunden bleiben. Ich optierte — vielleicht etwas voreilig — für die Domgemeinde. Domprediger waren damals die Hofprediger Kögel, Baur und Stöcker, alle drei hervorragende Geistliche und Kanzelredner, hochangesehene Männer und positiven Bekenntnisses. Dazu kam, daß ich Stöcker schon in der Zeit, als ich in Halberstadt Referendar war, persönlich kennen gelernt hatte. Er war damals ein junger, frischer, etwas schüchterner Kandidat, und wir hatten uns einigemal in dem gastlichen Hause des vou uns beiden verehrten, originellen, poetisch und rednerisch begabten Dom- Predigers Hugo Lange getroffen. Seitdem waren zwar mehr als zwanzig Jahre vergangen, ohne daß wir uns wieder gesehen hatten, aber immerhin war jene frühere Bekanntschaft doch ein Anknüpfungspunkt. Überdies war Stöcker mit einer Ruhte des von mir überaus geschätzten Geheimen Justizrath Krüger in Halberstadt ver¬ heiratet, und anch der alte Feldpropst Thielen, den ich in Hannover im Boetticher- schen Hanse kennen gelernt hatte, war seines Lobes voll und rühmte bei jeder Ge¬ legenheit die Wirksamkeit, die Stöcker als Militärgeistlicher vor Metz entfaltet hatte. Stöcker war bald nach meinem Eintritt ins Ministerium zu mir gekommen, hatte die alte Bekanntschaft erneuert und mich zum Eintritt in das Komitee der Berliner Stadtmission, deren Leitung er von Bruckner übernommen hatte, und deren Ent¬ wicklung er mit großem Eifer und Geschick betrieb, angeworben. Jedenfalls schien mir die Domgemeinde mit ihren drei Geistlichen alles zu bieten, was wir für unser kirchliches Leben bedurften. Gleichwohl gewährte uns der Dom auf die Dauer nicht alles, was wir suchten. Weder Kogels, noch Stöckers. noch Baurs Predigtwelse sagte uns ganz zu. Alle drei predigten bet aller Begabung und dogmatischen Korrektheit zu polemisch. Sie straften mit großem Ernst und fesselnder Beredsam¬ keit die Schäden der Zeit und des Volks. Aber gegen diesen auf das Ganze gehenden polemischen Zug ihrer Predigten trat die seelsorgerische Anwendung des Schrifttextes auf das persönliche Leben des Einzelnen, wie wir sie als unser Be¬ dürfnis empfanden, mehr zurück, und wir, meine Frau sowohl wie ich. kamen wiederholt aus dem Dom mit der Empfindung nach Hause, daß uus Gottesdienst und Predigt, ungeachtet des herrlichen und erhebenden Domchorgesangs, gerade die persönliche Erbauung nicht gewährt hatten, die wir brauchten. Ich habe mich darüber <nich einmal gegen Stöcker ausgesprochen. Er war aber der Meinung, daß gerade im Dom, der Kirche des Kaisers, die Predigt ein Zeugnis für das ganze Volk sein müsse, der Einzelne werde auch davon seinen Segen haben. Ich will auch nicht in Abrede stellen, daß wir für die Befriedigung unsers subjektiven geistlichen Bedürfnisses vielleicht zu anspruchsvoll gewesen sein mögen. Genug, wir wurden im Dom nicht recht warm. Am meisten noch bei Baur, bei dem die Innerlichkeit damals mehr zu ihrem Rechte kam, als bei den formvollendeten Predigten Kogels und der feurigen, mehr auf Massenwirkung angelegten Stöckers. Wir fingen all¬ mählich an. dann und wann in die Jakobikirche zu Prediger Disselhoff zu gehn dessen Predigt unserm Bedürfnisse mehr entsprach. Allein ausschlaggebend für uns wurde nach einiger Zeit der Umstand, daß uns die Entfernung unsrer Wohnung vom Dom und auch von der Jakobikirche zu groß war. Namentlich meine Frau, deren Zeit und Kräfte durch unsre Kinderschar und den mühseligen Haushalt ohnehin übermäßig in Anspruch genommen waren, konnte auf die Dauer die weiten Kirch- wege nicht vertragen. So gern wir beide uns kirchlich dahin hielten, wohin wir ordnungsmäßig gehörten, so wenig konnte ich mich gegen die Erkenntnis verschließen. d"ß unser sonntäglicher Kirchgang zum Dom dauernd nicht durchzuführen war. Wir fanden aber auch bald einen Ersatz in der unsrer Wohnung ganz nahe ge¬ legnen Kapelle des Elisabethkrankenhauses in der Lützowstraße Dort predigte der Pastor Kuhlo. ein alter, erfahrener, lutherischer Geistlicher, überaus schlicht und einfach das Evangelium genau so. wie es uns persönlich nötig war. und le öfter ihn hörten, desto lieber wurde er uns. Wir empfingen dort reichen, auch in unserm Persönlichen Leben spürbaren Segen, und so kam es, daß wir uns ;e länger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/45>, abgerufen am 05.07.2024.