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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Der Mönch von Weinfelder

seines Innern, die er sich bis jetzt zu bewahren gewußt hatte, bedroht durch eine
Verworfne, die ein Anrecht auf ihn zu haben glaubte, weil er sie vor dem Flammen¬
tode gerettet hatte. Auch diese Tat der Menschlichkeit rente ihn jetzt. Wenn die
nett auch keine Hexe war und weder Unwetter noch Krankheit heraufbeschwören
konnte, so war sie doch ein Werkzeug des Teufels, in anderen Sinne freilich, als
die törichten Bauernweiber und die gelehrten Kommissare des Erzbischofs es ver¬
standen. Die Hexen, die man rings im Lande torquierte und verbrannte, hatten
ihre Mitmenschen doch nur an Hab und Gut oder im schlimmsten Fall an Leib
und Leben geschädigt, die rote Dirne aber ging darauf aus, die Seelen zu ver¬
derben, und deshalb hätte sie von Rechts wegen den dreifachen Feuertod verdient.

Während sich der Burgherr solchen Gedanken hingab und darüber nachsann,
ob er das Rüstzeug zum Kampfe mit dem ihn in der Gestalt der roten nett be-
dränenden Bösen bei Sankt Augustin oder bei Thomas von Aquino holen sollte,
hatte das Mädchen mit der Gewandtheit einer Katze die Sperrmauer erklettert und
war auf dem schmalen Uferrande zu der Stelle geeilt, wo der Tote noch immer
lag. Sie kniete neben ihm nieder, nahm die Erlenbrüche von dem starren Antlitz und
schaute es lange regungslos an. Da sie aber in den verzerrten Zügen und den
glasigen Augen nichts von dem wiederzufinden vermochte, was ihr den Fremden
einst hatte liebenswert erscheinen lassen, weder den verwegnen Trotz noch den über¬
legnen Spott, so fühlte sie bei der Betrachtung auch nichts als ein leises Grauen
vor dem entstellten Menschenbilde, das da fahl und kalt im hellen Lichte des
Sommermorgens vor ihr lag. Am liebsten wäre sie auf und davon gegangen und
hätte nach dem Worte der Schrift die Toten ihre Toten begraben lassen; weil sie
jedoch ihr Werk einmal begonnen und den Burgherrn um die Leiche gebeten hatte,
so entschloß sie sich, ihren Vorsatz auszuführen. Sie riß ein paar Hände Voll
Binsen ab und flocht eine Art von Korb oder Sack daraus, stülpte ihn über den
Kopf der Leiche und schnürte ihn am Halse zusammen. Es war ein Liebesdienst,
den sie weniger dem Toten als sich selbst erwies, weil sie sich den ihr wider¬
wärtigen Anblick der Zerstörung ersparen wollte. Dann wandte sie den starren
Körper um, faßte ihn unter die Arme und trug oder schleppte ihn über den Steg
des Wassergrabens zum Dorfe.

Am Abend, um die Zeit der Dämmerung, als sich der Burgherr gerade an¬
schickte, sein Nachtmahl zu nehmen, flog ein Steinchen an das Fenster des Wohn¬
gemachs. Gyllis ahnte, was das Zeichen zu bedeuten hatte, und blieb eine Weile
unschlüssig, ob er es unbeachtet lassen oder sich am Fenster zeigen sollte.

Er spähte von der Mitte des Zimmers aus behutsam hinaus und bemerkte
endlich eine verhüllte Gestalt, die unter einem Birnbaum im Bongert stand und
zu ihm heraufschaute. Das konnte niemand anders als die rote nett sein. Was
mochte sie schon wieder von ihn: wollen?

Er trat vor und lauschte. Die Gestalt hob den Finger zum Munde und
wies dann auf die Pforte zum Hofe. Gyllis verstand, was sie ihm andeuten
wollte, und machte eine abweisende Handbewegung. Da kam die Gestalt aus dem
Schatten hervor, legte beide Hände an den Mund und sagte im Flüsterton: Öffnet!
Ich bin die nett. Wenn Euch das Leben lieb ist, öffnet und laßt mich ein!

Herr Gyllis hätte nach den Erfahrungen und den Erlebnissen der letzten
Wochen sicherlich kaum behaupten können, daß ihm das Leben besonders lieb gewesen
Wäre. Wenn er sich also entschloß, dem Wunsche des Mädchens zu entsprechen, so
geschah es, nicht Weil er der Mitteilung, die sie ihm zu machen hatte, Bedeutung
beimaß, sondern weil es ihn, wie es den Anschein hatte, reizte, ihren Versuchungen
Widerstand zu leisten und aufs neue einen mannhaften Kampf mit dem in ihr ver¬
körperten Höllenfürsten zu bestehn. Er mochte sich wie Sankt Antonius der Einsiedler
vorkommen, dessen Standhaftigkeit vom Teufel ja in ähnlicher Weise auf die Probe ge¬
stellt worden war, und der sich durch die entschiedne Ablehnung der ihm angetragnen
Vergnüglichkciten die Strahlenkrone der Heiligkeit erworben hatte. Freilich, Sankt


Der Mönch von Weinfelder

seines Innern, die er sich bis jetzt zu bewahren gewußt hatte, bedroht durch eine
Verworfne, die ein Anrecht auf ihn zu haben glaubte, weil er sie vor dem Flammen¬
tode gerettet hatte. Auch diese Tat der Menschlichkeit rente ihn jetzt. Wenn die
nett auch keine Hexe war und weder Unwetter noch Krankheit heraufbeschwören
konnte, so war sie doch ein Werkzeug des Teufels, in anderen Sinne freilich, als
die törichten Bauernweiber und die gelehrten Kommissare des Erzbischofs es ver¬
standen. Die Hexen, die man rings im Lande torquierte und verbrannte, hatten
ihre Mitmenschen doch nur an Hab und Gut oder im schlimmsten Fall an Leib
und Leben geschädigt, die rote Dirne aber ging darauf aus, die Seelen zu ver¬
derben, und deshalb hätte sie von Rechts wegen den dreifachen Feuertod verdient.

Während sich der Burgherr solchen Gedanken hingab und darüber nachsann,
ob er das Rüstzeug zum Kampfe mit dem ihn in der Gestalt der roten nett be-
dränenden Bösen bei Sankt Augustin oder bei Thomas von Aquino holen sollte,
hatte das Mädchen mit der Gewandtheit einer Katze die Sperrmauer erklettert und
war auf dem schmalen Uferrande zu der Stelle geeilt, wo der Tote noch immer
lag. Sie kniete neben ihm nieder, nahm die Erlenbrüche von dem starren Antlitz und
schaute es lange regungslos an. Da sie aber in den verzerrten Zügen und den
glasigen Augen nichts von dem wiederzufinden vermochte, was ihr den Fremden
einst hatte liebenswert erscheinen lassen, weder den verwegnen Trotz noch den über¬
legnen Spott, so fühlte sie bei der Betrachtung auch nichts als ein leises Grauen
vor dem entstellten Menschenbilde, das da fahl und kalt im hellen Lichte des
Sommermorgens vor ihr lag. Am liebsten wäre sie auf und davon gegangen und
hätte nach dem Worte der Schrift die Toten ihre Toten begraben lassen; weil sie
jedoch ihr Werk einmal begonnen und den Burgherrn um die Leiche gebeten hatte,
so entschloß sie sich, ihren Vorsatz auszuführen. Sie riß ein paar Hände Voll
Binsen ab und flocht eine Art von Korb oder Sack daraus, stülpte ihn über den
Kopf der Leiche und schnürte ihn am Halse zusammen. Es war ein Liebesdienst,
den sie weniger dem Toten als sich selbst erwies, weil sie sich den ihr wider¬
wärtigen Anblick der Zerstörung ersparen wollte. Dann wandte sie den starren
Körper um, faßte ihn unter die Arme und trug oder schleppte ihn über den Steg
des Wassergrabens zum Dorfe.

Am Abend, um die Zeit der Dämmerung, als sich der Burgherr gerade an¬
schickte, sein Nachtmahl zu nehmen, flog ein Steinchen an das Fenster des Wohn¬
gemachs. Gyllis ahnte, was das Zeichen zu bedeuten hatte, und blieb eine Weile
unschlüssig, ob er es unbeachtet lassen oder sich am Fenster zeigen sollte.

Er spähte von der Mitte des Zimmers aus behutsam hinaus und bemerkte
endlich eine verhüllte Gestalt, die unter einem Birnbaum im Bongert stand und
zu ihm heraufschaute. Das konnte niemand anders als die rote nett sein. Was
mochte sie schon wieder von ihn: wollen?

Er trat vor und lauschte. Die Gestalt hob den Finger zum Munde und
wies dann auf die Pforte zum Hofe. Gyllis verstand, was sie ihm andeuten
wollte, und machte eine abweisende Handbewegung. Da kam die Gestalt aus dem
Schatten hervor, legte beide Hände an den Mund und sagte im Flüsterton: Öffnet!
Ich bin die nett. Wenn Euch das Leben lieb ist, öffnet und laßt mich ein!

Herr Gyllis hätte nach den Erfahrungen und den Erlebnissen der letzten
Wochen sicherlich kaum behaupten können, daß ihm das Leben besonders lieb gewesen
Wäre. Wenn er sich also entschloß, dem Wunsche des Mädchens zu entsprechen, so
geschah es, nicht Weil er der Mitteilung, die sie ihm zu machen hatte, Bedeutung
beimaß, sondern weil es ihn, wie es den Anschein hatte, reizte, ihren Versuchungen
Widerstand zu leisten und aufs neue einen mannhaften Kampf mit dem in ihr ver¬
körperten Höllenfürsten zu bestehn. Er mochte sich wie Sankt Antonius der Einsiedler
vorkommen, dessen Standhaftigkeit vom Teufel ja in ähnlicher Weise auf die Probe ge¬
stellt worden war, und der sich durch die entschiedne Ablehnung der ihm angetragnen
Vergnüglichkciten die Strahlenkrone der Heiligkeit erworben hatte. Freilich, Sankt


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[0422] Der Mönch von Weinfelder seines Innern, die er sich bis jetzt zu bewahren gewußt hatte, bedroht durch eine Verworfne, die ein Anrecht auf ihn zu haben glaubte, weil er sie vor dem Flammen¬ tode gerettet hatte. Auch diese Tat der Menschlichkeit rente ihn jetzt. Wenn die nett auch keine Hexe war und weder Unwetter noch Krankheit heraufbeschwören konnte, so war sie doch ein Werkzeug des Teufels, in anderen Sinne freilich, als die törichten Bauernweiber und die gelehrten Kommissare des Erzbischofs es ver¬ standen. Die Hexen, die man rings im Lande torquierte und verbrannte, hatten ihre Mitmenschen doch nur an Hab und Gut oder im schlimmsten Fall an Leib und Leben geschädigt, die rote Dirne aber ging darauf aus, die Seelen zu ver¬ derben, und deshalb hätte sie von Rechts wegen den dreifachen Feuertod verdient. Während sich der Burgherr solchen Gedanken hingab und darüber nachsann, ob er das Rüstzeug zum Kampfe mit dem ihn in der Gestalt der roten nett be- dränenden Bösen bei Sankt Augustin oder bei Thomas von Aquino holen sollte, hatte das Mädchen mit der Gewandtheit einer Katze die Sperrmauer erklettert und war auf dem schmalen Uferrande zu der Stelle geeilt, wo der Tote noch immer lag. Sie kniete neben ihm nieder, nahm die Erlenbrüche von dem starren Antlitz und schaute es lange regungslos an. Da sie aber in den verzerrten Zügen und den glasigen Augen nichts von dem wiederzufinden vermochte, was ihr den Fremden einst hatte liebenswert erscheinen lassen, weder den verwegnen Trotz noch den über¬ legnen Spott, so fühlte sie bei der Betrachtung auch nichts als ein leises Grauen vor dem entstellten Menschenbilde, das da fahl und kalt im hellen Lichte des Sommermorgens vor ihr lag. Am liebsten wäre sie auf und davon gegangen und hätte nach dem Worte der Schrift die Toten ihre Toten begraben lassen; weil sie jedoch ihr Werk einmal begonnen und den Burgherrn um die Leiche gebeten hatte, so entschloß sie sich, ihren Vorsatz auszuführen. Sie riß ein paar Hände Voll Binsen ab und flocht eine Art von Korb oder Sack daraus, stülpte ihn über den Kopf der Leiche und schnürte ihn am Halse zusammen. Es war ein Liebesdienst, den sie weniger dem Toten als sich selbst erwies, weil sie sich den ihr wider¬ wärtigen Anblick der Zerstörung ersparen wollte. Dann wandte sie den starren Körper um, faßte ihn unter die Arme und trug oder schleppte ihn über den Steg des Wassergrabens zum Dorfe. Am Abend, um die Zeit der Dämmerung, als sich der Burgherr gerade an¬ schickte, sein Nachtmahl zu nehmen, flog ein Steinchen an das Fenster des Wohn¬ gemachs. Gyllis ahnte, was das Zeichen zu bedeuten hatte, und blieb eine Weile unschlüssig, ob er es unbeachtet lassen oder sich am Fenster zeigen sollte. Er spähte von der Mitte des Zimmers aus behutsam hinaus und bemerkte endlich eine verhüllte Gestalt, die unter einem Birnbaum im Bongert stand und zu ihm heraufschaute. Das konnte niemand anders als die rote nett sein. Was mochte sie schon wieder von ihn: wollen? Er trat vor und lauschte. Die Gestalt hob den Finger zum Munde und wies dann auf die Pforte zum Hofe. Gyllis verstand, was sie ihm andeuten wollte, und machte eine abweisende Handbewegung. Da kam die Gestalt aus dem Schatten hervor, legte beide Hände an den Mund und sagte im Flüsterton: Öffnet! Ich bin die nett. Wenn Euch das Leben lieb ist, öffnet und laßt mich ein! Herr Gyllis hätte nach den Erfahrungen und den Erlebnissen der letzten Wochen sicherlich kaum behaupten können, daß ihm das Leben besonders lieb gewesen Wäre. Wenn er sich also entschloß, dem Wunsche des Mädchens zu entsprechen, so geschah es, nicht Weil er der Mitteilung, die sie ihm zu machen hatte, Bedeutung beimaß, sondern weil es ihn, wie es den Anschein hatte, reizte, ihren Versuchungen Widerstand zu leisten und aufs neue einen mannhaften Kampf mit dem in ihr ver¬ körperten Höllenfürsten zu bestehn. Er mochte sich wie Sankt Antonius der Einsiedler vorkommen, dessen Standhaftigkeit vom Teufel ja in ähnlicher Weise auf die Probe ge¬ stellt worden war, und der sich durch die entschiedne Ablehnung der ihm angetragnen Vergnüglichkciten die Strahlenkrone der Heiligkeit erworben hatte. Freilich, Sankt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/422>, abgerufen am 25.07.2024.