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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Der Mönch von lveinfelden

du und ich. Weshalb sie denn auch keine Macht haben, etwas zu tun oder aus¬
zuwirken, es sei Gutes oder Böses.

Dessen haben wir keine Wissenschaft, meinte der Alte, und darum ist meine
einfältige Meinung, man solle fortfahren, ihnen zu opfern und sie um ihre Für¬
bitte anzugehn. Und wenn es auch wirklich, wie Ihr glaubet, nicht von Nutzen
ist, so kaun es doch auch nicht schaden. Nehmt das nicht für ungut, Herr, aber
ich bin ein alter Mann, und Ihr seid noch jung.

Über den östlichen Hügelkuppen war ein brennend roter Streif sichtbar ge¬
worden, aus dem einzelne Strahlenbüschel emporschössen und sich über den Himmel
verbreiteten. Und nun stieg der Sonnenball auf, und zugleich erhob sich im Tal
ein eisig kalter Wind -- ein letzter Abschiedsgrusz der fliehenden Nacht. Jetzt
ließen sich im Walde Vogelstimmen und drunten in den Dörfern Hahnenschreie
vernehmen. Aber weder diese Stimmen des Lebens noch das helle Licht des
jungen Tags vermochten den Alten von seinen trüben Gedanken abzubringen.

Die beiden gingen an der Westseite des Berges durch den Wald hinab, ohne
etwas Verdächtiges zu finden. Auch an der Lieser war kein Mensch zu sehen, so
genau sie auch Umschau halten und das Ufergebüsch durchsuchen mochten. Sie
überschritten den Bach und folgten auf der andern Seite einem Hohlwege, der
durch dichtes Gestrüpp und junge Fichtenbestände zur Höhe emporstieg. Auch hier
ließ sich Niklas wieder durch ein böses Vorzeichen beunruhigen. Ein Rotkehlchen
zeigte sich und schien die Wandrer begleiten zu wollen. Es flog immer eine kurze
Strecke voraus, blieb dann auf einem Stein oder Zweiglein am Wegrande sitzen
und schaute die Mäuner mit seinen großen traurigen Augen an.

Seht Ihr das Rotbrüstchen, Herr? fragte der Vogt. Das wird schon wissen,
warum es uns das Geleit gibt. Meine Mutter hat einmal, da sie in die Wald¬
beeren ging, einen Toten gefunden und gesehen, wie ein Rotbrüstchen dabei saß.
Und des Toten Antlitz war mit Blümlein und Blättern bedeckt. So ein unver¬
nünftiges Tierlein ist barmherziger denn mancher Christenmensch. Seht, Herr,
da sitzt es wieder. Daß es Euch immer so seltsam ansieht, will mir gar nicht
gefallen.

Er war mit seiner Rede noch nicht zu Ende, aber Gyllis winkte ihm, zu
schweigen, und blieb selbst lauschend stehn. Sie waren bei der Stelle angelangt, wo
die Böschungen des Hohlwegs flacher wurden, und der Pfad sich im Gebüsch verlor.
Oben, ein paar hundert Schritte vor ihnen, tauchte eine Gestalt auf und kreuzte
den Weg. Der Burgherr zog den Alten neben sich nieder. Einige Minuten ver¬
harrten sie so. Dann flüsterte Gyllis seinem Begleiter zu: Das war ein Wild¬
schütz. Er führte eine Armbrust und hatte das Gesicht geschwärzt. Komm, wir
müssen seine Spur aufnehmen! Er stemmte die Waffe gegen den Boden, drehte
die Spannwinde und legte einen Bolzen auf. So lautlos wie möglich schlichen sie
weiter. Dort, wo der Wilderer den Pfad passiert hatte, war eine Schleppspur,
darauf frischer Schweiß lag. Die Männer folgten ihr. Sie brauchten nicht allzu
weit zu gehn. Am Rande einer kleinen Blöße, unter einer Fichte schlecht genug
versteckt, lag ein Spießer. Herr Gyllis zog ihn hervor und untersuchte ihn. Der
Schuß saß auf dem Blatt, und der warme schwarzrote Schweiß sickerte noch aus
der Wunde hervor.

Der Alte zog sein Messer und schickte sich an, den Hirsch aufzubrechen. Er hatte
kaum mit seiner Arbeit begonnen, als im nahen Dickicht ein dürrer Ast knackte.

Auf! flüsterte Gyllis, nimm die Saufeder! Der Bube kommt zurück.

Er selbst machte sich schußfertig und spähte scharf nach der Dickung, woher
er das Geräusch vernommen hatte. Niklas erhob sich und stand nun, auf seine
Waffe gestützt, mit vorgebeugtem Oberkörper neben seinem Herrn. Da erklang seit¬
wärts von ihnen in den Fichten der Schlag eines Stahlbngels; ein Geschoß
schwirrte über die Lichtung, und zugleich sank der Alte in die Knie, während der
Sauspieß seinen Händen entglitt. Der Bolzen, der für seinen Herrn bestimmt ge¬
wesen war, hatte ihm den Hals durchbohrt und die linke Schlagader zerrissen.


Der Mönch von lveinfelden

du und ich. Weshalb sie denn auch keine Macht haben, etwas zu tun oder aus¬
zuwirken, es sei Gutes oder Böses.

Dessen haben wir keine Wissenschaft, meinte der Alte, und darum ist meine
einfältige Meinung, man solle fortfahren, ihnen zu opfern und sie um ihre Für¬
bitte anzugehn. Und wenn es auch wirklich, wie Ihr glaubet, nicht von Nutzen
ist, so kaun es doch auch nicht schaden. Nehmt das nicht für ungut, Herr, aber
ich bin ein alter Mann, und Ihr seid noch jung.

Über den östlichen Hügelkuppen war ein brennend roter Streif sichtbar ge¬
worden, aus dem einzelne Strahlenbüschel emporschössen und sich über den Himmel
verbreiteten. Und nun stieg der Sonnenball auf, und zugleich erhob sich im Tal
ein eisig kalter Wind — ein letzter Abschiedsgrusz der fliehenden Nacht. Jetzt
ließen sich im Walde Vogelstimmen und drunten in den Dörfern Hahnenschreie
vernehmen. Aber weder diese Stimmen des Lebens noch das helle Licht des
jungen Tags vermochten den Alten von seinen trüben Gedanken abzubringen.

Die beiden gingen an der Westseite des Berges durch den Wald hinab, ohne
etwas Verdächtiges zu finden. Auch an der Lieser war kein Mensch zu sehen, so
genau sie auch Umschau halten und das Ufergebüsch durchsuchen mochten. Sie
überschritten den Bach und folgten auf der andern Seite einem Hohlwege, der
durch dichtes Gestrüpp und junge Fichtenbestände zur Höhe emporstieg. Auch hier
ließ sich Niklas wieder durch ein böses Vorzeichen beunruhigen. Ein Rotkehlchen
zeigte sich und schien die Wandrer begleiten zu wollen. Es flog immer eine kurze
Strecke voraus, blieb dann auf einem Stein oder Zweiglein am Wegrande sitzen
und schaute die Mäuner mit seinen großen traurigen Augen an.

Seht Ihr das Rotbrüstchen, Herr? fragte der Vogt. Das wird schon wissen,
warum es uns das Geleit gibt. Meine Mutter hat einmal, da sie in die Wald¬
beeren ging, einen Toten gefunden und gesehen, wie ein Rotbrüstchen dabei saß.
Und des Toten Antlitz war mit Blümlein und Blättern bedeckt. So ein unver¬
nünftiges Tierlein ist barmherziger denn mancher Christenmensch. Seht, Herr,
da sitzt es wieder. Daß es Euch immer so seltsam ansieht, will mir gar nicht
gefallen.

Er war mit seiner Rede noch nicht zu Ende, aber Gyllis winkte ihm, zu
schweigen, und blieb selbst lauschend stehn. Sie waren bei der Stelle angelangt, wo
die Böschungen des Hohlwegs flacher wurden, und der Pfad sich im Gebüsch verlor.
Oben, ein paar hundert Schritte vor ihnen, tauchte eine Gestalt auf und kreuzte
den Weg. Der Burgherr zog den Alten neben sich nieder. Einige Minuten ver¬
harrten sie so. Dann flüsterte Gyllis seinem Begleiter zu: Das war ein Wild¬
schütz. Er führte eine Armbrust und hatte das Gesicht geschwärzt. Komm, wir
müssen seine Spur aufnehmen! Er stemmte die Waffe gegen den Boden, drehte
die Spannwinde und legte einen Bolzen auf. So lautlos wie möglich schlichen sie
weiter. Dort, wo der Wilderer den Pfad passiert hatte, war eine Schleppspur,
darauf frischer Schweiß lag. Die Männer folgten ihr. Sie brauchten nicht allzu
weit zu gehn. Am Rande einer kleinen Blöße, unter einer Fichte schlecht genug
versteckt, lag ein Spießer. Herr Gyllis zog ihn hervor und untersuchte ihn. Der
Schuß saß auf dem Blatt, und der warme schwarzrote Schweiß sickerte noch aus
der Wunde hervor.

Der Alte zog sein Messer und schickte sich an, den Hirsch aufzubrechen. Er hatte
kaum mit seiner Arbeit begonnen, als im nahen Dickicht ein dürrer Ast knackte.

Auf! flüsterte Gyllis, nimm die Saufeder! Der Bube kommt zurück.

Er selbst machte sich schußfertig und spähte scharf nach der Dickung, woher
er das Geräusch vernommen hatte. Niklas erhob sich und stand nun, auf seine
Waffe gestützt, mit vorgebeugtem Oberkörper neben seinem Herrn. Da erklang seit¬
wärts von ihnen in den Fichten der Schlag eines Stahlbngels; ein Geschoß
schwirrte über die Lichtung, und zugleich sank der Alte in die Knie, während der
Sauspieß seinen Händen entglitt. Der Bolzen, der für seinen Herrn bestimmt ge¬
wesen war, hatte ihm den Hals durchbohrt und die linke Schlagader zerrissen.


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[0366] Der Mönch von lveinfelden du und ich. Weshalb sie denn auch keine Macht haben, etwas zu tun oder aus¬ zuwirken, es sei Gutes oder Böses. Dessen haben wir keine Wissenschaft, meinte der Alte, und darum ist meine einfältige Meinung, man solle fortfahren, ihnen zu opfern und sie um ihre Für¬ bitte anzugehn. Und wenn es auch wirklich, wie Ihr glaubet, nicht von Nutzen ist, so kaun es doch auch nicht schaden. Nehmt das nicht für ungut, Herr, aber ich bin ein alter Mann, und Ihr seid noch jung. Über den östlichen Hügelkuppen war ein brennend roter Streif sichtbar ge¬ worden, aus dem einzelne Strahlenbüschel emporschössen und sich über den Himmel verbreiteten. Und nun stieg der Sonnenball auf, und zugleich erhob sich im Tal ein eisig kalter Wind — ein letzter Abschiedsgrusz der fliehenden Nacht. Jetzt ließen sich im Walde Vogelstimmen und drunten in den Dörfern Hahnenschreie vernehmen. Aber weder diese Stimmen des Lebens noch das helle Licht des jungen Tags vermochten den Alten von seinen trüben Gedanken abzubringen. Die beiden gingen an der Westseite des Berges durch den Wald hinab, ohne etwas Verdächtiges zu finden. Auch an der Lieser war kein Mensch zu sehen, so genau sie auch Umschau halten und das Ufergebüsch durchsuchen mochten. Sie überschritten den Bach und folgten auf der andern Seite einem Hohlwege, der durch dichtes Gestrüpp und junge Fichtenbestände zur Höhe emporstieg. Auch hier ließ sich Niklas wieder durch ein böses Vorzeichen beunruhigen. Ein Rotkehlchen zeigte sich und schien die Wandrer begleiten zu wollen. Es flog immer eine kurze Strecke voraus, blieb dann auf einem Stein oder Zweiglein am Wegrande sitzen und schaute die Mäuner mit seinen großen traurigen Augen an. Seht Ihr das Rotbrüstchen, Herr? fragte der Vogt. Das wird schon wissen, warum es uns das Geleit gibt. Meine Mutter hat einmal, da sie in die Wald¬ beeren ging, einen Toten gefunden und gesehen, wie ein Rotbrüstchen dabei saß. Und des Toten Antlitz war mit Blümlein und Blättern bedeckt. So ein unver¬ nünftiges Tierlein ist barmherziger denn mancher Christenmensch. Seht, Herr, da sitzt es wieder. Daß es Euch immer so seltsam ansieht, will mir gar nicht gefallen. Er war mit seiner Rede noch nicht zu Ende, aber Gyllis winkte ihm, zu schweigen, und blieb selbst lauschend stehn. Sie waren bei der Stelle angelangt, wo die Böschungen des Hohlwegs flacher wurden, und der Pfad sich im Gebüsch verlor. Oben, ein paar hundert Schritte vor ihnen, tauchte eine Gestalt auf und kreuzte den Weg. Der Burgherr zog den Alten neben sich nieder. Einige Minuten ver¬ harrten sie so. Dann flüsterte Gyllis seinem Begleiter zu: Das war ein Wild¬ schütz. Er führte eine Armbrust und hatte das Gesicht geschwärzt. Komm, wir müssen seine Spur aufnehmen! Er stemmte die Waffe gegen den Boden, drehte die Spannwinde und legte einen Bolzen auf. So lautlos wie möglich schlichen sie weiter. Dort, wo der Wilderer den Pfad passiert hatte, war eine Schleppspur, darauf frischer Schweiß lag. Die Männer folgten ihr. Sie brauchten nicht allzu weit zu gehn. Am Rande einer kleinen Blöße, unter einer Fichte schlecht genug versteckt, lag ein Spießer. Herr Gyllis zog ihn hervor und untersuchte ihn. Der Schuß saß auf dem Blatt, und der warme schwarzrote Schweiß sickerte noch aus der Wunde hervor. Der Alte zog sein Messer und schickte sich an, den Hirsch aufzubrechen. Er hatte kaum mit seiner Arbeit begonnen, als im nahen Dickicht ein dürrer Ast knackte. Auf! flüsterte Gyllis, nimm die Saufeder! Der Bube kommt zurück. Er selbst machte sich schußfertig und spähte scharf nach der Dickung, woher er das Geräusch vernommen hatte. Niklas erhob sich und stand nun, auf seine Waffe gestützt, mit vorgebeugtem Oberkörper neben seinem Herrn. Da erklang seit¬ wärts von ihnen in den Fichten der Schlag eines Stahlbngels; ein Geschoß schwirrte über die Lichtung, und zugleich sank der Alte in die Knie, während der Sauspieß seinen Händen entglitt. Der Bolzen, der für seinen Herrn bestimmt ge¬ wesen war, hatte ihm den Hals durchbohrt und die linke Schlagader zerrissen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/366>, abgerufen am 05.07.2024.