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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Johann Friedrich Ri-ichardt

handelt zu werden. Wer sonst nichts von ihm weiß, der erinnert sich am
Ende doch, daß Schiller ihn als den bösen Skorpion, das giftige Insekt
von Giebichenstein verewigt hat. Als Politiker haben ihn seine lebhaften
Neigungen für die französische Revolution verdächtigt, sodaß sich der fromme
Friedrich Perthes vor ihm bekreuzt und ihn verächtlich einen "sybaritischen
Demagogen" nennt.

Und dennoch verdient dieser Mann keineswegs, daß man achtlos an ihm
vorübergeht. In der Musik ist er es doch gewesen, der den Empfindungs-
gehalt Goethischer Lieder in einfach edeln Melodien den Zeitgenossen am
nächsten gebracht hat. Er ist wohl überhaupt der erste Musiker Deutschlands,
der sich eine universelle Bildung aneignete und mit Erfolg aus dem Musi-
kantentum heraus der Künstlerschaft zustrebte, die den Tondichter gleichberechtigt
neben den Poeten stellt. Gewiß! er ist in der Komposition klassischer Lieder
später von den glänzenden Vertretern der musikalischen Romantik Schubert,
Mendelssohn, Schumann überstrahlt worden, aber viele seiner Gesänge wirken
noch heute ergreifend, wie ich ganz neuerdings in Halle und Berlin bei der
Veranstaltung musikalischer Neichardtabende habe feststellen können.

Immer im regen Verkehre mit Deutschlands Größen auf dem Gebiete
des Denkens und des Dichtens zeigt der bis ins Alter begeisterungsfühige
Künstler eine merkwürdige Gabe des geistigen Anschmiegens, die es ihm er¬
möglichte, die Entwicklung unsers Literaturlebens durch allen Wechsel der
Zeiten und der Richtungen hindurch mit verständnisvoller Teilnahme zu ver¬
folgen. Ein Schüler Kants, teilt er doch die Begeisterung seiner Jugend¬
genossen für die empfindsame Schwärmerei Klopstocks; ein Freund der Mystiker
Hamann, Lavater und Claudius ist er doch im Grunde ein rechter Sohn des
aufgeklärten Rationalismus, wie er damals an den Wohnstüttcn seiner Jugend
und seines Mannesalters Königsberg und Berlin gedieh. Mächtig ergriffen
von dein klassische" Genius Goethes, dessen Lieder und Singspiele er musi¬
kalisch zu verkörpern rang, empfindet er doch auch mit dem jungen, himmel-
stürmenden Volke der Romantiker; er erscheint eine Zeit lang als Friedrich
Schlegels Kampfgenosse und steht später den Herausgebern von des Knaben
Wunderhorn so nahe, daß er unter den Schutzpatronen der Sammlung den
Ehrenplatz neben dem Altmeister Goethe erhält.

Und wie lebendigen Anteil hat Reichardt ein den politischen Ereignissen
seiner Zeit genommen! Wer die Geschichte unsers politischen Denkens schreiben
will, wird den Entwicklungsgang dieses fruchtbaren Publizisten verfolgen
müssen, der in seinen -- lebendigen Augenblicksbildern gleichenden -- poli¬
tischen Flugschriften und Neisebriefen die Gesinnnngswandluugen in dem Ge¬
müte der preußischen Freidenker jener Tage deutlich erkennen läßt. -- Alles
in allem, das Leben dieses reichbegabten Künstlers, dessen Wirken weniger in
dauernden Schöpfungen als in anregenden Beziehungen und Vermittlungen
zwischen den großen Geistern seiner Zeit liegt, vermöchte noch heute den Bio¬
graphen zu reizen.

Und in der Tat scheint bei Gelegenheit des hundertfünfzigsten Geburts¬
tags des Künstlers das Interesse für ihn neu erwacht zu sein. Zuerst ge-


Johann Friedrich Ri-ichardt

handelt zu werden. Wer sonst nichts von ihm weiß, der erinnert sich am
Ende doch, daß Schiller ihn als den bösen Skorpion, das giftige Insekt
von Giebichenstein verewigt hat. Als Politiker haben ihn seine lebhaften
Neigungen für die französische Revolution verdächtigt, sodaß sich der fromme
Friedrich Perthes vor ihm bekreuzt und ihn verächtlich einen „sybaritischen
Demagogen" nennt.

Und dennoch verdient dieser Mann keineswegs, daß man achtlos an ihm
vorübergeht. In der Musik ist er es doch gewesen, der den Empfindungs-
gehalt Goethischer Lieder in einfach edeln Melodien den Zeitgenossen am
nächsten gebracht hat. Er ist wohl überhaupt der erste Musiker Deutschlands,
der sich eine universelle Bildung aneignete und mit Erfolg aus dem Musi-
kantentum heraus der Künstlerschaft zustrebte, die den Tondichter gleichberechtigt
neben den Poeten stellt. Gewiß! er ist in der Komposition klassischer Lieder
später von den glänzenden Vertretern der musikalischen Romantik Schubert,
Mendelssohn, Schumann überstrahlt worden, aber viele seiner Gesänge wirken
noch heute ergreifend, wie ich ganz neuerdings in Halle und Berlin bei der
Veranstaltung musikalischer Neichardtabende habe feststellen können.

Immer im regen Verkehre mit Deutschlands Größen auf dem Gebiete
des Denkens und des Dichtens zeigt der bis ins Alter begeisterungsfühige
Künstler eine merkwürdige Gabe des geistigen Anschmiegens, die es ihm er¬
möglichte, die Entwicklung unsers Literaturlebens durch allen Wechsel der
Zeiten und der Richtungen hindurch mit verständnisvoller Teilnahme zu ver¬
folgen. Ein Schüler Kants, teilt er doch die Begeisterung seiner Jugend¬
genossen für die empfindsame Schwärmerei Klopstocks; ein Freund der Mystiker
Hamann, Lavater und Claudius ist er doch im Grunde ein rechter Sohn des
aufgeklärten Rationalismus, wie er damals an den Wohnstüttcn seiner Jugend
und seines Mannesalters Königsberg und Berlin gedieh. Mächtig ergriffen
von dein klassische» Genius Goethes, dessen Lieder und Singspiele er musi¬
kalisch zu verkörpern rang, empfindet er doch auch mit dem jungen, himmel-
stürmenden Volke der Romantiker; er erscheint eine Zeit lang als Friedrich
Schlegels Kampfgenosse und steht später den Herausgebern von des Knaben
Wunderhorn so nahe, daß er unter den Schutzpatronen der Sammlung den
Ehrenplatz neben dem Altmeister Goethe erhält.

Und wie lebendigen Anteil hat Reichardt ein den politischen Ereignissen
seiner Zeit genommen! Wer die Geschichte unsers politischen Denkens schreiben
will, wird den Entwicklungsgang dieses fruchtbaren Publizisten verfolgen
müssen, der in seinen — lebendigen Augenblicksbildern gleichenden — poli¬
tischen Flugschriften und Neisebriefen die Gesinnnngswandluugen in dem Ge¬
müte der preußischen Freidenker jener Tage deutlich erkennen läßt. — Alles
in allem, das Leben dieses reichbegabten Künstlers, dessen Wirken weniger in
dauernden Schöpfungen als in anregenden Beziehungen und Vermittlungen
zwischen den großen Geistern seiner Zeit liegt, vermöchte noch heute den Bio¬
graphen zu reizen.

Und in der Tat scheint bei Gelegenheit des hundertfünfzigsten Geburts¬
tags des Künstlers das Interesse für ihn neu erwacht zu sein. Zuerst ge-


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[0029] Johann Friedrich Ri-ichardt handelt zu werden. Wer sonst nichts von ihm weiß, der erinnert sich am Ende doch, daß Schiller ihn als den bösen Skorpion, das giftige Insekt von Giebichenstein verewigt hat. Als Politiker haben ihn seine lebhaften Neigungen für die französische Revolution verdächtigt, sodaß sich der fromme Friedrich Perthes vor ihm bekreuzt und ihn verächtlich einen „sybaritischen Demagogen" nennt. Und dennoch verdient dieser Mann keineswegs, daß man achtlos an ihm vorübergeht. In der Musik ist er es doch gewesen, der den Empfindungs- gehalt Goethischer Lieder in einfach edeln Melodien den Zeitgenossen am nächsten gebracht hat. Er ist wohl überhaupt der erste Musiker Deutschlands, der sich eine universelle Bildung aneignete und mit Erfolg aus dem Musi- kantentum heraus der Künstlerschaft zustrebte, die den Tondichter gleichberechtigt neben den Poeten stellt. Gewiß! er ist in der Komposition klassischer Lieder später von den glänzenden Vertretern der musikalischen Romantik Schubert, Mendelssohn, Schumann überstrahlt worden, aber viele seiner Gesänge wirken noch heute ergreifend, wie ich ganz neuerdings in Halle und Berlin bei der Veranstaltung musikalischer Neichardtabende habe feststellen können. Immer im regen Verkehre mit Deutschlands Größen auf dem Gebiete des Denkens und des Dichtens zeigt der bis ins Alter begeisterungsfühige Künstler eine merkwürdige Gabe des geistigen Anschmiegens, die es ihm er¬ möglichte, die Entwicklung unsers Literaturlebens durch allen Wechsel der Zeiten und der Richtungen hindurch mit verständnisvoller Teilnahme zu ver¬ folgen. Ein Schüler Kants, teilt er doch die Begeisterung seiner Jugend¬ genossen für die empfindsame Schwärmerei Klopstocks; ein Freund der Mystiker Hamann, Lavater und Claudius ist er doch im Grunde ein rechter Sohn des aufgeklärten Rationalismus, wie er damals an den Wohnstüttcn seiner Jugend und seines Mannesalters Königsberg und Berlin gedieh. Mächtig ergriffen von dein klassische» Genius Goethes, dessen Lieder und Singspiele er musi¬ kalisch zu verkörpern rang, empfindet er doch auch mit dem jungen, himmel- stürmenden Volke der Romantiker; er erscheint eine Zeit lang als Friedrich Schlegels Kampfgenosse und steht später den Herausgebern von des Knaben Wunderhorn so nahe, daß er unter den Schutzpatronen der Sammlung den Ehrenplatz neben dem Altmeister Goethe erhält. Und wie lebendigen Anteil hat Reichardt ein den politischen Ereignissen seiner Zeit genommen! Wer die Geschichte unsers politischen Denkens schreiben will, wird den Entwicklungsgang dieses fruchtbaren Publizisten verfolgen müssen, der in seinen — lebendigen Augenblicksbildern gleichenden — poli¬ tischen Flugschriften und Neisebriefen die Gesinnnngswandluugen in dem Ge¬ müte der preußischen Freidenker jener Tage deutlich erkennen läßt. — Alles in allem, das Leben dieses reichbegabten Künstlers, dessen Wirken weniger in dauernden Schöpfungen als in anregenden Beziehungen und Vermittlungen zwischen den großen Geistern seiner Zeit liegt, vermöchte noch heute den Bio¬ graphen zu reizen. Und in der Tat scheint bei Gelegenheit des hundertfünfzigsten Geburts¬ tags des Künstlers das Interesse für ihn neu erwacht zu sein. Zuerst ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/29>, abgerufen am 25.07.2024.