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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Christus und die Gegenwart

Schluß: Die Zwangsversichemng auf den unbestimmbaren, unklaren Tat¬
bestand der Invalidität hin befriedigt nicht.

Darum sollte man die bestehende Einrichtung umbauen in eine Anstalt,
worin die Lebensversicherung, oder was dasselbe ist, die Witwen- und Waisen¬
versicherung die Hauptsache ist, dagegen die Versorgung der Invalidität nur
als eine mit Maß und Vorsicht gepflegte Nebensache gilt.


G. w. Schiele


Christus und die Gegenwart
Schille Religiöse Gedankensplitter von

Motto: Ich bin kein ausgeklügelt Buch,
Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch

> as will dieses Thema hier? so höre ich fragen. Geh mit deiner
kleinen Weisheit auf die Kanzel, in die Vereinssäle, in deine
Kirchenzeitungen! uns aber verschone damit! Was willst du
uns neues sagen und bringen? In der Tat: es ist noch nicht
so lange her, da schien jedes Interesse für religiöse Erörterungen
gestorben zu sein. Politik, Wissenschaft, Kunst, Unterhaltungssucht, Erwerb
und Vergnügen, das war es, was das Volk beherrschte und seine Seele be¬
wegte, und religiöse Motive spielten nur eine recht geringe Rolle. Heute ist
das alles anders geworden. Ein mächtiger geistiger Umschwung ist ein¬
getreten, nicht über Nacht, nicht überraschend, sondern lange vorbereitet. Ein
tief religiöser Zug ist die Signatur der Gegenwart. Deutschland geht auch
darin den andern Kulturvölkern wieder einmal voraus. Wir beobachten ein
Suchen und Tasten nach etwas neuem; Unruhe und Zittern, Unbehagen und
Unbefriedigtsein gehen durch unser Volk. Ein Versuch löst den andern ab,
Brücken zu bauen zwischen Glauben und Wissen, zwischen Christentum und
Kultur. Neue Religionen schießen wie Pilze aus dem Kulturboden hervor,
und sie alle finden gläubige Anhänger, sogar dann, wenn sie das Unglaub¬
lichste behaupten und zumuten.

Oder täuschen wir uns darin? Entspricht unsre Zeichnung nicht der
Wirklichkeit? Gewiß ist es keine leichte Aufgabe, der Gegenwart den religiösen
Puls zu fühlen. Wer die religiösen Stimmungen der Volksseele erkennen
will, der muß ein offnes Auge und ein scharfes Ohr haben, er muß mitten
unter dem Volk stehn, er muß deu Geist der Zeit verstehn und die Erschei¬
nungen der Gegenwart prüfen, er muß sich gleich fern halten von einseitigem
Optimismus wie von übertriebnen Pessimismus. Erst dann ist er in der
Lage, die tiefern Regungen des Volkslebens zu erkennen und zu würdigen.
Das Bild aber, das sich dann vor ihm auftut, hat eine frappante Ähnlichkeit
mit den religiösen Zuständen zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Auch
damals wars eine Übergangszeit, als Schleiermacher davon sprach, daß "der
Gott und die Unsterblichkeit der kindlichen Zeit dem zweifelnden Auge ent-


Christus und die Gegenwart

Schluß: Die Zwangsversichemng auf den unbestimmbaren, unklaren Tat¬
bestand der Invalidität hin befriedigt nicht.

Darum sollte man die bestehende Einrichtung umbauen in eine Anstalt,
worin die Lebensversicherung, oder was dasselbe ist, die Witwen- und Waisen¬
versicherung die Hauptsache ist, dagegen die Versorgung der Invalidität nur
als eine mit Maß und Vorsicht gepflegte Nebensache gilt.


G. w. Schiele


Christus und die Gegenwart
Schille Religiöse Gedankensplitter von

Motto: Ich bin kein ausgeklügelt Buch,
Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch

> as will dieses Thema hier? so höre ich fragen. Geh mit deiner
kleinen Weisheit auf die Kanzel, in die Vereinssäle, in deine
Kirchenzeitungen! uns aber verschone damit! Was willst du
uns neues sagen und bringen? In der Tat: es ist noch nicht
so lange her, da schien jedes Interesse für religiöse Erörterungen
gestorben zu sein. Politik, Wissenschaft, Kunst, Unterhaltungssucht, Erwerb
und Vergnügen, das war es, was das Volk beherrschte und seine Seele be¬
wegte, und religiöse Motive spielten nur eine recht geringe Rolle. Heute ist
das alles anders geworden. Ein mächtiger geistiger Umschwung ist ein¬
getreten, nicht über Nacht, nicht überraschend, sondern lange vorbereitet. Ein
tief religiöser Zug ist die Signatur der Gegenwart. Deutschland geht auch
darin den andern Kulturvölkern wieder einmal voraus. Wir beobachten ein
Suchen und Tasten nach etwas neuem; Unruhe und Zittern, Unbehagen und
Unbefriedigtsein gehen durch unser Volk. Ein Versuch löst den andern ab,
Brücken zu bauen zwischen Glauben und Wissen, zwischen Christentum und
Kultur. Neue Religionen schießen wie Pilze aus dem Kulturboden hervor,
und sie alle finden gläubige Anhänger, sogar dann, wenn sie das Unglaub¬
lichste behaupten und zumuten.

Oder täuschen wir uns darin? Entspricht unsre Zeichnung nicht der
Wirklichkeit? Gewiß ist es keine leichte Aufgabe, der Gegenwart den religiösen
Puls zu fühlen. Wer die religiösen Stimmungen der Volksseele erkennen
will, der muß ein offnes Auge und ein scharfes Ohr haben, er muß mitten
unter dem Volk stehn, er muß deu Geist der Zeit verstehn und die Erschei¬
nungen der Gegenwart prüfen, er muß sich gleich fern halten von einseitigem
Optimismus wie von übertriebnen Pessimismus. Erst dann ist er in der
Lage, die tiefern Regungen des Volkslebens zu erkennen und zu würdigen.
Das Bild aber, das sich dann vor ihm auftut, hat eine frappante Ähnlichkeit
mit den religiösen Zuständen zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Auch
damals wars eine Übergangszeit, als Schleiermacher davon sprach, daß „der
Gott und die Unsterblichkeit der kindlichen Zeit dem zweifelnden Auge ent-


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[0264] Christus und die Gegenwart Schluß: Die Zwangsversichemng auf den unbestimmbaren, unklaren Tat¬ bestand der Invalidität hin befriedigt nicht. Darum sollte man die bestehende Einrichtung umbauen in eine Anstalt, worin die Lebensversicherung, oder was dasselbe ist, die Witwen- und Waisen¬ versicherung die Hauptsache ist, dagegen die Versorgung der Invalidität nur als eine mit Maß und Vorsicht gepflegte Nebensache gilt. G. w. Schiele Christus und die Gegenwart Schille Religiöse Gedankensplitter von Motto: Ich bin kein ausgeklügelt Buch, Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch > as will dieses Thema hier? so höre ich fragen. Geh mit deiner kleinen Weisheit auf die Kanzel, in die Vereinssäle, in deine Kirchenzeitungen! uns aber verschone damit! Was willst du uns neues sagen und bringen? In der Tat: es ist noch nicht so lange her, da schien jedes Interesse für religiöse Erörterungen gestorben zu sein. Politik, Wissenschaft, Kunst, Unterhaltungssucht, Erwerb und Vergnügen, das war es, was das Volk beherrschte und seine Seele be¬ wegte, und religiöse Motive spielten nur eine recht geringe Rolle. Heute ist das alles anders geworden. Ein mächtiger geistiger Umschwung ist ein¬ getreten, nicht über Nacht, nicht überraschend, sondern lange vorbereitet. Ein tief religiöser Zug ist die Signatur der Gegenwart. Deutschland geht auch darin den andern Kulturvölkern wieder einmal voraus. Wir beobachten ein Suchen und Tasten nach etwas neuem; Unruhe und Zittern, Unbehagen und Unbefriedigtsein gehen durch unser Volk. Ein Versuch löst den andern ab, Brücken zu bauen zwischen Glauben und Wissen, zwischen Christentum und Kultur. Neue Religionen schießen wie Pilze aus dem Kulturboden hervor, und sie alle finden gläubige Anhänger, sogar dann, wenn sie das Unglaub¬ lichste behaupten und zumuten. Oder täuschen wir uns darin? Entspricht unsre Zeichnung nicht der Wirklichkeit? Gewiß ist es keine leichte Aufgabe, der Gegenwart den religiösen Puls zu fühlen. Wer die religiösen Stimmungen der Volksseele erkennen will, der muß ein offnes Auge und ein scharfes Ohr haben, er muß mitten unter dem Volk stehn, er muß deu Geist der Zeit verstehn und die Erschei¬ nungen der Gegenwart prüfen, er muß sich gleich fern halten von einseitigem Optimismus wie von übertriebnen Pessimismus. Erst dann ist er in der Lage, die tiefern Regungen des Volkslebens zu erkennen und zu würdigen. Das Bild aber, das sich dann vor ihm auftut, hat eine frappante Ähnlichkeit mit den religiösen Zuständen zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Auch damals wars eine Übergangszeit, als Schleiermacher davon sprach, daß „der Gott und die Unsterblichkeit der kindlichen Zeit dem zweifelnden Auge ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/264>, abgerufen am 13.11.2024.