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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Goethe und Bismarck in ihrer Bedeutung für die deutsche Zukunft

Erkenne dich selbst! -- diese schwerste Menschenaufgabe löste er und "wurde,
der er war." Wie sich unter dem Sonnenschein eine Blumenknospe frei und
leicht öffnet, so entfaltete er. der schon früh die Anlage zu Selbstüberwindung
und Selbstbeherrschung in sich trug, alle Kräfte des Geistes und des Körpers
zur schönsten Vollendung und verwirklichte die Harmonie der Griechen. Sie
schwebte ihm fortan zu Häupten wie eine gute Göttin und breitete ihre lichten
Schwingen über eine Herzenswelt aus, in der ein edles, schönes, freies und
freundliches, dabei gottbeseeltes Menschentum lebendig war. Goethes Geist,
der reichste, den Deutschland je hervorgebracht hat, umfaßte mit großartiger
Vielseitigkeit und dabei in einheitlich ausgleichenden Sinne das gesamte
Wissensgebiet. Im Reiche der Natur, die ihm ein "Mysterium Gottes" ist,
schaute er mit seinem Sonnenauge, "wie alles sich zum Ganzen webt." Die
Kunst war ihm ein Zaubermantel, der in höhere Sphären trügt. Kein Gebiet
der Geisteswelt war ihm verschlossen. So hat er in harmonisch ruhigem
Bildungsgange die volle Weite und Tiefe des Menschendaseins durchdrungen
und ein leuchtendes Beispiel gegeben, wie man "immer strebend sich bemühen"
soll, seine Kräfte zu vermannigfaltigen, ohne in engherzige Einseitigkeit oder
fruchtlose Zersplitterung zu verfallen.

Nur eine Schranke war ihm gezogen: er verstand nicht die wirklichen
Mächte, die das staatliche Leben einer Nation bestimmen. Für ihn sind nach
seiner eignen Äußerung Dinge von Bedeutung nur Kultur und Barbarei.
Politisch Lied ist und bleibt ihm ein "garstig" Lied. Er klagt, die Politik
töte jegliche schöne Literatur und Kunst, und äußert sich in seinen Briefen
niemals weder über die Weltlage im allgemeinen noch über besondre politische
Vorgänge. Mit deutlicher Absicht lehnt er dieses ganze Gebiet ab. Wir aber,
im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, können und wollen es nicht von
uns fern halten, nicht den Zeiger an der Uhr der Zeit zurückstellen und zum
unpolitischen Daseinsideal zurückkehren. Am Himmel unsers Lebens müssen
also Goethe und Bismarck vereint als Leitsterne glänzen. Nur in diesem
Zeichen wird Deutschland siegen, wird es auf seine ideale Größe neben der
realen Macht stolz sein können. Es gilt, nach besten Kräften Humanität und
Nationalität, Gedanken und Taten, Individualismus und Gemeinsinn, ideales
Streben und praktische Tüchtigkeit harmonisch zu vereinen. Die größte Dichtung
des deutschen Volks, zugleich ein Werk für die Menschheit, Goethes Faust,
schließt mit der Idealisierung einer Tat. Neben Bismarck -- von ihm weiß
es ja alle Welt -- kann auch Goethe für das Wirken nach außen vorbildlich
sein. Nach besten Kräften (so verlangt er) muß jeder die ihm zu teil ge-
wordne Stellung ausfüllen.


Wißt ihr, wie auch der Kleine was ist? Er mache das Kleine
Rechts der Große begehrt just so das Große zu tun.

"Meine Sachen -- so äußert Goethe einmal -- können nicht populär
werden; sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne
Menschen, die etwas ähnliches wollen und suchen." In der Tat, fremd ist
Goethe der großen Menge. Auch bei manchen Gebildeten stehn seine Werke


Goethe und Bismarck in ihrer Bedeutung für die deutsche Zukunft

Erkenne dich selbst! — diese schwerste Menschenaufgabe löste er und „wurde,
der er war." Wie sich unter dem Sonnenschein eine Blumenknospe frei und
leicht öffnet, so entfaltete er. der schon früh die Anlage zu Selbstüberwindung
und Selbstbeherrschung in sich trug, alle Kräfte des Geistes und des Körpers
zur schönsten Vollendung und verwirklichte die Harmonie der Griechen. Sie
schwebte ihm fortan zu Häupten wie eine gute Göttin und breitete ihre lichten
Schwingen über eine Herzenswelt aus, in der ein edles, schönes, freies und
freundliches, dabei gottbeseeltes Menschentum lebendig war. Goethes Geist,
der reichste, den Deutschland je hervorgebracht hat, umfaßte mit großartiger
Vielseitigkeit und dabei in einheitlich ausgleichenden Sinne das gesamte
Wissensgebiet. Im Reiche der Natur, die ihm ein „Mysterium Gottes" ist,
schaute er mit seinem Sonnenauge, „wie alles sich zum Ganzen webt." Die
Kunst war ihm ein Zaubermantel, der in höhere Sphären trügt. Kein Gebiet
der Geisteswelt war ihm verschlossen. So hat er in harmonisch ruhigem
Bildungsgange die volle Weite und Tiefe des Menschendaseins durchdrungen
und ein leuchtendes Beispiel gegeben, wie man „immer strebend sich bemühen"
soll, seine Kräfte zu vermannigfaltigen, ohne in engherzige Einseitigkeit oder
fruchtlose Zersplitterung zu verfallen.

Nur eine Schranke war ihm gezogen: er verstand nicht die wirklichen
Mächte, die das staatliche Leben einer Nation bestimmen. Für ihn sind nach
seiner eignen Äußerung Dinge von Bedeutung nur Kultur und Barbarei.
Politisch Lied ist und bleibt ihm ein „garstig" Lied. Er klagt, die Politik
töte jegliche schöne Literatur und Kunst, und äußert sich in seinen Briefen
niemals weder über die Weltlage im allgemeinen noch über besondre politische
Vorgänge. Mit deutlicher Absicht lehnt er dieses ganze Gebiet ab. Wir aber,
im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, können und wollen es nicht von
uns fern halten, nicht den Zeiger an der Uhr der Zeit zurückstellen und zum
unpolitischen Daseinsideal zurückkehren. Am Himmel unsers Lebens müssen
also Goethe und Bismarck vereint als Leitsterne glänzen. Nur in diesem
Zeichen wird Deutschland siegen, wird es auf seine ideale Größe neben der
realen Macht stolz sein können. Es gilt, nach besten Kräften Humanität und
Nationalität, Gedanken und Taten, Individualismus und Gemeinsinn, ideales
Streben und praktische Tüchtigkeit harmonisch zu vereinen. Die größte Dichtung
des deutschen Volks, zugleich ein Werk für die Menschheit, Goethes Faust,
schließt mit der Idealisierung einer Tat. Neben Bismarck — von ihm weiß
es ja alle Welt — kann auch Goethe für das Wirken nach außen vorbildlich
sein. Nach besten Kräften (so verlangt er) muß jeder die ihm zu teil ge-
wordne Stellung ausfüllen.


Wißt ihr, wie auch der Kleine was ist? Er mache das Kleine
Rechts der Große begehrt just so das Große zu tun.

„Meine Sachen — so äußert Goethe einmal — können nicht populär
werden; sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne
Menschen, die etwas ähnliches wollen und suchen." In der Tat, fremd ist
Goethe der großen Menge. Auch bei manchen Gebildeten stehn seine Werke


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/26>, abgerufen am 25.07.2024.