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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die Einweihungsfeier in Genf mußte auf den 1. November verschoben werden.
Der Berichterstatter der Frankfurter Zeitung erzählte, ein alter, ehrwürdiger Genfer,
strenger Calvinist, habe ihm gesagt: "Ich verabscheue sonst alle Feste, bin aber zu
diesem gekommen. Nun ist mein Gewissen befreit. Wenn mir noch einmal ein
Katholik sagt, Calvin sei ein Henker gewesen, so kann ich ihm antworten: Geht hin
und tut desgleichen! Es ist nun auch für euch Katholiken die Zeit gekommen,
Sühnedenkmäler zu errichten: in Spanien, zu Ehren der Opfer der Inquisition,
und in Paris, als Protest gegen die Greuel der Bartholomäusnacht." Eine schöne
Gelegenheit hat sich den Katholiken im Jahre 1900 dargeboten: sie konnten den
"Freimaurern" zuvorkommen und Gtordano Bruno ein Sühnedenkmal setzen. Aber
da stand freilich, und steht leider auch in den übrigen Fällen, als unübersteigliches
Hindernis der Unfehlbarkeitswahn im Wege.


Norba.

Eine leicht auffallende Eigentümlichkeit vieler kleiner mittelitalienischer
Städtchen sind die Überreste eines Mauerrings aus polygonischen Felsblöcken. Man
hat deren Errichtung der vorhistorischen Zeit zugeschrieben, als Bauleute die
Pelasger, die sich von Griechenland aus über diesen Teil Italiens ausgebreitet
haben sollen, angenommen. Auch kyklopische Mauern wurden sie benannt, weil eine
spätere Bevölkerung der Ansicht war, die oft kolossalen Blöcke könnten nicht von
Menschenhänden aufgetürmt sein. In diese aus irgend einem Grunde leerstehenden
Schutzwinkel hätten sich später eingewanderte Volksstämme festgesetzt. Die neuen
Entdeckungen, die in Troja, auf dem Peloponnes und den griechischen Inseln den
Beweis einer vorgriechischen großen Kultur geliefert haben, die bis jetzt den Namen
einer mykenischen trägt, mußten nun dahin führen, zu prüfen, ob sich auch auf
dem italischen Festlande spüre" davon finden ließen.-

Hoch über der Pontinischen Ebene, die sich ungefähr von der Tibernu'dung
bei Ostia bis nach Terracina hinstreckt, liegt in dominierender Lage hart am steilen
Abfall der Lepinischen Berge, jetzt als das Volskergebirge bekannt, das jedem Rom¬
reisenden wenigstens aus seinem Gregorovius erinnerliche Norma; zu seinen Füßen liegt
das verträumte efeuüberwucherte Ninfa. Das alte längst verlassene Norba, um ihm
seinen klassischen Namen wiederzugeben, mit seinem verhältnismäßig gut erhaltenen hoch¬
ragenden Mauerring, seinen Toren und Gebäudetrümmern schien alle Bedingungen
für ein gründliches Studium des wichtigen Problems zu bieten. Was wir von
der Stadt wissen, ist in wenig Worten gesagt. Livius berichtet, daß schon im
Jahre 490 v. Chr., nachdem Coriolan die Volsker besiegt hatte, die Römer hier
eine Militärkolonie anlegten, um die unruhigen Nachbarn, die auch noch die Korn¬
zuzüge verhinderten, besser im Zaume halten zu können. In den blutigen Bürger¬
kriegen zwischen Marius und Sulla soll die Einwohnerschaft von Sulla zerstreut
worden sein oder sich selbst getötet haben. Der Name verschwindet aus der Ge¬
schichte. Die italienische archäologische Kommission, die die Untersuchungen und Aus¬
grabungen auf dem verlassenen Gebiete leitete, hatte während des diesjährigen
historischen Kongresses in Rom die Liebenswürdigkeit, die Teilnehmer zu einem
Ausfluge dahin einzuladen, damit sie die Resultate in Augenschein nehmen könnten.
Diese sind, wenn auch, was gleich gesagt werden muß, die Pelasger-Theorie nicht
standgehalten hat, überaus wertvoll.

Die Stadtmauer benutzt jede Erhöhung des felsigen Uuterbodens für einen
festen Halt; an der Außenseite aus großen und kleinen vielkantigen geglätteten
Felsblöcken fest zusammengefügt, zeigt sie dagegen im Innern stellenweise eine
zweite Mauer von roher Ausführung, die dann mit der ersten durch aufgeschüttete
Erde und durch Steine zu einem Ganzen verbunden ist. Daß diese Art Befestigung
ihren Zweck vollkommen erreicht hat, zeigt sich schon dadurch, daß die Sullaner die
Stadt umsonst berannten und sich ihrer nur durch Verrat bemächtigen konnten. Aber
diese sehr ungleichmäßige Ausführung des Ganzen läßt den Gedanken, daß hier je
eine einheitliche Arbeit geplant worden sei, schwinden; Befestigungen auf griechischem
Boden, Tyrins, Mykene, sogar Troja sehen anders aus, wie Dörpfelds eingehendes
Werk über die Priamidenstadt zeigt.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die Einweihungsfeier in Genf mußte auf den 1. November verschoben werden.
Der Berichterstatter der Frankfurter Zeitung erzählte, ein alter, ehrwürdiger Genfer,
strenger Calvinist, habe ihm gesagt: „Ich verabscheue sonst alle Feste, bin aber zu
diesem gekommen. Nun ist mein Gewissen befreit. Wenn mir noch einmal ein
Katholik sagt, Calvin sei ein Henker gewesen, so kann ich ihm antworten: Geht hin
und tut desgleichen! Es ist nun auch für euch Katholiken die Zeit gekommen,
Sühnedenkmäler zu errichten: in Spanien, zu Ehren der Opfer der Inquisition,
und in Paris, als Protest gegen die Greuel der Bartholomäusnacht." Eine schöne
Gelegenheit hat sich den Katholiken im Jahre 1900 dargeboten: sie konnten den
„Freimaurern" zuvorkommen und Gtordano Bruno ein Sühnedenkmal setzen. Aber
da stand freilich, und steht leider auch in den übrigen Fällen, als unübersteigliches
Hindernis der Unfehlbarkeitswahn im Wege.


Norba.

Eine leicht auffallende Eigentümlichkeit vieler kleiner mittelitalienischer
Städtchen sind die Überreste eines Mauerrings aus polygonischen Felsblöcken. Man
hat deren Errichtung der vorhistorischen Zeit zugeschrieben, als Bauleute die
Pelasger, die sich von Griechenland aus über diesen Teil Italiens ausgebreitet
haben sollen, angenommen. Auch kyklopische Mauern wurden sie benannt, weil eine
spätere Bevölkerung der Ansicht war, die oft kolossalen Blöcke könnten nicht von
Menschenhänden aufgetürmt sein. In diese aus irgend einem Grunde leerstehenden
Schutzwinkel hätten sich später eingewanderte Volksstämme festgesetzt. Die neuen
Entdeckungen, die in Troja, auf dem Peloponnes und den griechischen Inseln den
Beweis einer vorgriechischen großen Kultur geliefert haben, die bis jetzt den Namen
einer mykenischen trägt, mußten nun dahin führen, zu prüfen, ob sich auch auf
dem italischen Festlande spüre« davon finden ließen.-

Hoch über der Pontinischen Ebene, die sich ungefähr von der Tibernu'dung
bei Ostia bis nach Terracina hinstreckt, liegt in dominierender Lage hart am steilen
Abfall der Lepinischen Berge, jetzt als das Volskergebirge bekannt, das jedem Rom¬
reisenden wenigstens aus seinem Gregorovius erinnerliche Norma; zu seinen Füßen liegt
das verträumte efeuüberwucherte Ninfa. Das alte längst verlassene Norba, um ihm
seinen klassischen Namen wiederzugeben, mit seinem verhältnismäßig gut erhaltenen hoch¬
ragenden Mauerring, seinen Toren und Gebäudetrümmern schien alle Bedingungen
für ein gründliches Studium des wichtigen Problems zu bieten. Was wir von
der Stadt wissen, ist in wenig Worten gesagt. Livius berichtet, daß schon im
Jahre 490 v. Chr., nachdem Coriolan die Volsker besiegt hatte, die Römer hier
eine Militärkolonie anlegten, um die unruhigen Nachbarn, die auch noch die Korn¬
zuzüge verhinderten, besser im Zaume halten zu können. In den blutigen Bürger¬
kriegen zwischen Marius und Sulla soll die Einwohnerschaft von Sulla zerstreut
worden sein oder sich selbst getötet haben. Der Name verschwindet aus der Ge¬
schichte. Die italienische archäologische Kommission, die die Untersuchungen und Aus¬
grabungen auf dem verlassenen Gebiete leitete, hatte während des diesjährigen
historischen Kongresses in Rom die Liebenswürdigkeit, die Teilnehmer zu einem
Ausfluge dahin einzuladen, damit sie die Resultate in Augenschein nehmen könnten.
Diese sind, wenn auch, was gleich gesagt werden muß, die Pelasger-Theorie nicht
standgehalten hat, überaus wertvoll.

Die Stadtmauer benutzt jede Erhöhung des felsigen Uuterbodens für einen
festen Halt; an der Außenseite aus großen und kleinen vielkantigen geglätteten
Felsblöcken fest zusammengefügt, zeigt sie dagegen im Innern stellenweise eine
zweite Mauer von roher Ausführung, die dann mit der ersten durch aufgeschüttete
Erde und durch Steine zu einem Ganzen verbunden ist. Daß diese Art Befestigung
ihren Zweck vollkommen erreicht hat, zeigt sich schon dadurch, daß die Sullaner die
Stadt umsonst berannten und sich ihrer nur durch Verrat bemächtigen konnten. Aber
diese sehr ungleichmäßige Ausführung des Ganzen läßt den Gedanken, daß hier je
eine einheitliche Arbeit geplant worden sei, schwinden; Befestigungen auf griechischem
Boden, Tyrins, Mykene, sogar Troja sehen anders aus, wie Dörpfelds eingehendes
Werk über die Priamidenstadt zeigt.


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[0188] Maßgebliches und Unmaßgebliches Die Einweihungsfeier in Genf mußte auf den 1. November verschoben werden. Der Berichterstatter der Frankfurter Zeitung erzählte, ein alter, ehrwürdiger Genfer, strenger Calvinist, habe ihm gesagt: „Ich verabscheue sonst alle Feste, bin aber zu diesem gekommen. Nun ist mein Gewissen befreit. Wenn mir noch einmal ein Katholik sagt, Calvin sei ein Henker gewesen, so kann ich ihm antworten: Geht hin und tut desgleichen! Es ist nun auch für euch Katholiken die Zeit gekommen, Sühnedenkmäler zu errichten: in Spanien, zu Ehren der Opfer der Inquisition, und in Paris, als Protest gegen die Greuel der Bartholomäusnacht." Eine schöne Gelegenheit hat sich den Katholiken im Jahre 1900 dargeboten: sie konnten den „Freimaurern" zuvorkommen und Gtordano Bruno ein Sühnedenkmal setzen. Aber da stand freilich, und steht leider auch in den übrigen Fällen, als unübersteigliches Hindernis der Unfehlbarkeitswahn im Wege. Norba. Eine leicht auffallende Eigentümlichkeit vieler kleiner mittelitalienischer Städtchen sind die Überreste eines Mauerrings aus polygonischen Felsblöcken. Man hat deren Errichtung der vorhistorischen Zeit zugeschrieben, als Bauleute die Pelasger, die sich von Griechenland aus über diesen Teil Italiens ausgebreitet haben sollen, angenommen. Auch kyklopische Mauern wurden sie benannt, weil eine spätere Bevölkerung der Ansicht war, die oft kolossalen Blöcke könnten nicht von Menschenhänden aufgetürmt sein. In diese aus irgend einem Grunde leerstehenden Schutzwinkel hätten sich später eingewanderte Volksstämme festgesetzt. Die neuen Entdeckungen, die in Troja, auf dem Peloponnes und den griechischen Inseln den Beweis einer vorgriechischen großen Kultur geliefert haben, die bis jetzt den Namen einer mykenischen trägt, mußten nun dahin führen, zu prüfen, ob sich auch auf dem italischen Festlande spüre« davon finden ließen.- Hoch über der Pontinischen Ebene, die sich ungefähr von der Tibernu'dung bei Ostia bis nach Terracina hinstreckt, liegt in dominierender Lage hart am steilen Abfall der Lepinischen Berge, jetzt als das Volskergebirge bekannt, das jedem Rom¬ reisenden wenigstens aus seinem Gregorovius erinnerliche Norma; zu seinen Füßen liegt das verträumte efeuüberwucherte Ninfa. Das alte längst verlassene Norba, um ihm seinen klassischen Namen wiederzugeben, mit seinem verhältnismäßig gut erhaltenen hoch¬ ragenden Mauerring, seinen Toren und Gebäudetrümmern schien alle Bedingungen für ein gründliches Studium des wichtigen Problems zu bieten. Was wir von der Stadt wissen, ist in wenig Worten gesagt. Livius berichtet, daß schon im Jahre 490 v. Chr., nachdem Coriolan die Volsker besiegt hatte, die Römer hier eine Militärkolonie anlegten, um die unruhigen Nachbarn, die auch noch die Korn¬ zuzüge verhinderten, besser im Zaume halten zu können. In den blutigen Bürger¬ kriegen zwischen Marius und Sulla soll die Einwohnerschaft von Sulla zerstreut worden sein oder sich selbst getötet haben. Der Name verschwindet aus der Ge¬ schichte. Die italienische archäologische Kommission, die die Untersuchungen und Aus¬ grabungen auf dem verlassenen Gebiete leitete, hatte während des diesjährigen historischen Kongresses in Rom die Liebenswürdigkeit, die Teilnehmer zu einem Ausfluge dahin einzuladen, damit sie die Resultate in Augenschein nehmen könnten. Diese sind, wenn auch, was gleich gesagt werden muß, die Pelasger-Theorie nicht standgehalten hat, überaus wertvoll. Die Stadtmauer benutzt jede Erhöhung des felsigen Uuterbodens für einen festen Halt; an der Außenseite aus großen und kleinen vielkantigen geglätteten Felsblöcken fest zusammengefügt, zeigt sie dagegen im Innern stellenweise eine zweite Mauer von roher Ausführung, die dann mit der ersten durch aufgeschüttete Erde und durch Steine zu einem Ganzen verbunden ist. Daß diese Art Befestigung ihren Zweck vollkommen erreicht hat, zeigt sich schon dadurch, daß die Sullaner die Stadt umsonst berannten und sich ihrer nur durch Verrat bemächtigen konnten. Aber diese sehr ungleichmäßige Ausführung des Ganzen läßt den Gedanken, daß hier je eine einheitliche Arbeit geplant worden sei, schwinden; Befestigungen auf griechischem Boden, Tyrins, Mykene, sogar Troja sehen anders aus, wie Dörpfelds eingehendes Werk über die Priamidenstadt zeigt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/188>, abgerufen am 13.11.2024.