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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

der dieses Arbeitsmaterial jemals erledigen würde, sodaß schließlich die ganze
Mühe doch umsonst verschwendet wäre! Dazu die ewigen Klagen der Agrarier
im Hause, die sich doch darüber klar sein müßten, daß sie, wenn sie dem jetzigen
Reichskanzler die Führung der Geschäfte unmöglich machen, mit einem ihnen wohl¬
wollendem schwerlich zu rechnen hätten. Es kann unter Umständen dem Auslande
gegenüber nützlich sein, fortgesetzt über ein "zu wenig für die Landwirtschaft" zu
klagen, aber man sollte doch mit dieser zweischneidigen Waffe, deren Mißbrauch die
konservativen Einflüsse im Staatsleben zum Nachteil des Ganzen fortgesetzt schädigen
*Z* muß, etwas vorsichtiger umgehen.




Unsre auswärtige Politik und die Tagespresse.

Ernste Männer
können bezweifeln, ob die verfassungsmäßige Preßfreiheit nicht mehr Schaden als
Nutzen stiftet, und es gibt genug Leute, die bei allem Interesse für öffentliche
Angelegenheiten herzlich froh sind, wenn sie einmal ein paar Wochen nicht genötigt
sind, Zeitungen zu lesen, ohne daß sie dabei das Gefühl der Entbehrung hätten.
Jede Diskretion in der Behandlung heikler Dinge ist längst verschwunden, seitdem
alles, auch rein Persönliches, plump an die Öffentlichkeit gezerrt und breitgetreten
wird, oft genug auf unzuverlässige Mitteilungen hin. Eine Widerlegung kommt
entweder gar nicht, oder sie hilft nichts, denn der zeitunglesende Philister denkt doch
stillvergnügt: Etwas wird schon dran sein, sowpsr "Il(Ma rauhe! Und nun gar
die sogenannten Leitartikel! Es ist ganz erstaunlich, wie sich hier der größte Teil
des deutschen Publikums tagtäglich in seiner Zeitung seine eigne Meinung macheu
laßt von Leuten, die ihm ganz unbekannt sind, und die auch weder einen Namen
noch die genügende Bildung haben, schwierige Dinge überhaupt nur beurteilen zu
können, die aber trotzdem über alles und jedes mit unfehlbarer Sicherheit urteilen.
Eine gegenteilige Meinung einmal den Lesern vorzutragen, fällt ihnen gar nicht ein,
und da der Durchschnittsdeutsche, auch der gebildete, natürlich nur eine Zeitung
liest, seine Zeitung, und dieser mit einem wahren Köhlerglauben alles nachredet
-- "Es steht in der Zeitung." pflegt er zu sagen --, so ist das Schlußergebnis
eine politische Borniertheit, die unsrer vielgerühmten Bildung nur zur Schande
gereicht und unsre deutsche Erbsünde, die blinde Parteisucht, nur fördert. Wenn
nun vollends in einer Landschaft, wie zum Beispiel in Sachsen, eine wirklich große,
von bedeutenden, selbständigen Männern in großem Sinne geleitete Zeitung gar
nicht existiert, sondern nur "Amtsblätter," die zwar über die Angelegenheiten des
Reichs und Preußens fortwährend räsonnieren, aber in den eignen örtlichen und
landschaftlichen Interessen immer bis zu einem gewissen Grade "vinkuliert" sind,
oder Zeitungen für den Bildungsphilister oder für die unselbständige Masse, die
ihren Leithammeln nachläuft, da sieht es mit dem politischen Urteil traurig aus.
Wenn Goethe noch lebte, so würde er heute sein scharfes Epigramm grimmiger,
als er es damals aussprach, wiederholen:

Fürst Bismarck hat schwerlich anders gedacht, obwohl er die Presse vortrefflich
Zu benutzen wußte, weil er ihren Einfluß anerkannte.

Am schlimmsten ist diese Durchschnittspresse in der Behandlung unsrer aus¬
wärtigen Politik. Wie oft liegt es da nahe, zu sagen: "Ihr redet wie der Blinde
von der Farbe." Daß gerade hier Kenntnis der allgemeinen Lage, historische
Bildung und ruhige Überlegung unumgänglich notwendige Dinge sind, daran denken
die Verfasser flammender Leitartikel selten. Gefällt ihnen Graf Bülow nicht -- und
er hat das Unglück, fast ebenso vielen Leuten zu mißfallen, wie seinerzeit Fürst
Bismarck --, so hilft kein Zureden: "Tut nichts, der Kanzler wird verbrannt."


Grenzboten II 1904 24
Maßgebliches und Unmaßgebliches

der dieses Arbeitsmaterial jemals erledigen würde, sodaß schließlich die ganze
Mühe doch umsonst verschwendet wäre! Dazu die ewigen Klagen der Agrarier
im Hause, die sich doch darüber klar sein müßten, daß sie, wenn sie dem jetzigen
Reichskanzler die Führung der Geschäfte unmöglich machen, mit einem ihnen wohl¬
wollendem schwerlich zu rechnen hätten. Es kann unter Umständen dem Auslande
gegenüber nützlich sein, fortgesetzt über ein „zu wenig für die Landwirtschaft" zu
klagen, aber man sollte doch mit dieser zweischneidigen Waffe, deren Mißbrauch die
konservativen Einflüsse im Staatsleben zum Nachteil des Ganzen fortgesetzt schädigen
*Z* muß, etwas vorsichtiger umgehen.




Unsre auswärtige Politik und die Tagespresse.

Ernste Männer
können bezweifeln, ob die verfassungsmäßige Preßfreiheit nicht mehr Schaden als
Nutzen stiftet, und es gibt genug Leute, die bei allem Interesse für öffentliche
Angelegenheiten herzlich froh sind, wenn sie einmal ein paar Wochen nicht genötigt
sind, Zeitungen zu lesen, ohne daß sie dabei das Gefühl der Entbehrung hätten.
Jede Diskretion in der Behandlung heikler Dinge ist längst verschwunden, seitdem
alles, auch rein Persönliches, plump an die Öffentlichkeit gezerrt und breitgetreten
wird, oft genug auf unzuverlässige Mitteilungen hin. Eine Widerlegung kommt
entweder gar nicht, oder sie hilft nichts, denn der zeitunglesende Philister denkt doch
stillvergnügt: Etwas wird schon dran sein, sowpsr »Il(Ma rauhe! Und nun gar
die sogenannten Leitartikel! Es ist ganz erstaunlich, wie sich hier der größte Teil
des deutschen Publikums tagtäglich in seiner Zeitung seine eigne Meinung macheu
laßt von Leuten, die ihm ganz unbekannt sind, und die auch weder einen Namen
noch die genügende Bildung haben, schwierige Dinge überhaupt nur beurteilen zu
können, die aber trotzdem über alles und jedes mit unfehlbarer Sicherheit urteilen.
Eine gegenteilige Meinung einmal den Lesern vorzutragen, fällt ihnen gar nicht ein,
und da der Durchschnittsdeutsche, auch der gebildete, natürlich nur eine Zeitung
liest, seine Zeitung, und dieser mit einem wahren Köhlerglauben alles nachredet
— „Es steht in der Zeitung." pflegt er zu sagen —, so ist das Schlußergebnis
eine politische Borniertheit, die unsrer vielgerühmten Bildung nur zur Schande
gereicht und unsre deutsche Erbsünde, die blinde Parteisucht, nur fördert. Wenn
nun vollends in einer Landschaft, wie zum Beispiel in Sachsen, eine wirklich große,
von bedeutenden, selbständigen Männern in großem Sinne geleitete Zeitung gar
nicht existiert, sondern nur „Amtsblätter," die zwar über die Angelegenheiten des
Reichs und Preußens fortwährend räsonnieren, aber in den eignen örtlichen und
landschaftlichen Interessen immer bis zu einem gewissen Grade „vinkuliert" sind,
oder Zeitungen für den Bildungsphilister oder für die unselbständige Masse, die
ihren Leithammeln nachläuft, da sieht es mit dem politischen Urteil traurig aus.
Wenn Goethe noch lebte, so würde er heute sein scharfes Epigramm grimmiger,
als er es damals aussprach, wiederholen:

Fürst Bismarck hat schwerlich anders gedacht, obwohl er die Presse vortrefflich
Zu benutzen wußte, weil er ihren Einfluß anerkannte.

Am schlimmsten ist diese Durchschnittspresse in der Behandlung unsrer aus¬
wärtigen Politik. Wie oft liegt es da nahe, zu sagen: „Ihr redet wie der Blinde
von der Farbe." Daß gerade hier Kenntnis der allgemeinen Lage, historische
Bildung und ruhige Überlegung unumgänglich notwendige Dinge sind, daran denken
die Verfasser flammender Leitartikel selten. Gefällt ihnen Graf Bülow nicht — und
er hat das Unglück, fast ebenso vielen Leuten zu mißfallen, wie seinerzeit Fürst
Bismarck —, so hilft kein Zureden: „Tut nichts, der Kanzler wird verbrannt."


Grenzboten II 1904 24
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[0185] Maßgebliches und Unmaßgebliches der dieses Arbeitsmaterial jemals erledigen würde, sodaß schließlich die ganze Mühe doch umsonst verschwendet wäre! Dazu die ewigen Klagen der Agrarier im Hause, die sich doch darüber klar sein müßten, daß sie, wenn sie dem jetzigen Reichskanzler die Führung der Geschäfte unmöglich machen, mit einem ihnen wohl¬ wollendem schwerlich zu rechnen hätten. Es kann unter Umständen dem Auslande gegenüber nützlich sein, fortgesetzt über ein „zu wenig für die Landwirtschaft" zu klagen, aber man sollte doch mit dieser zweischneidigen Waffe, deren Mißbrauch die konservativen Einflüsse im Staatsleben zum Nachteil des Ganzen fortgesetzt schädigen *Z* muß, etwas vorsichtiger umgehen. Unsre auswärtige Politik und die Tagespresse. Ernste Männer können bezweifeln, ob die verfassungsmäßige Preßfreiheit nicht mehr Schaden als Nutzen stiftet, und es gibt genug Leute, die bei allem Interesse für öffentliche Angelegenheiten herzlich froh sind, wenn sie einmal ein paar Wochen nicht genötigt sind, Zeitungen zu lesen, ohne daß sie dabei das Gefühl der Entbehrung hätten. Jede Diskretion in der Behandlung heikler Dinge ist längst verschwunden, seitdem alles, auch rein Persönliches, plump an die Öffentlichkeit gezerrt und breitgetreten wird, oft genug auf unzuverlässige Mitteilungen hin. Eine Widerlegung kommt entweder gar nicht, oder sie hilft nichts, denn der zeitunglesende Philister denkt doch stillvergnügt: Etwas wird schon dran sein, sowpsr »Il(Ma rauhe! Und nun gar die sogenannten Leitartikel! Es ist ganz erstaunlich, wie sich hier der größte Teil des deutschen Publikums tagtäglich in seiner Zeitung seine eigne Meinung macheu laßt von Leuten, die ihm ganz unbekannt sind, und die auch weder einen Namen noch die genügende Bildung haben, schwierige Dinge überhaupt nur beurteilen zu können, die aber trotzdem über alles und jedes mit unfehlbarer Sicherheit urteilen. Eine gegenteilige Meinung einmal den Lesern vorzutragen, fällt ihnen gar nicht ein, und da der Durchschnittsdeutsche, auch der gebildete, natürlich nur eine Zeitung liest, seine Zeitung, und dieser mit einem wahren Köhlerglauben alles nachredet — „Es steht in der Zeitung." pflegt er zu sagen —, so ist das Schlußergebnis eine politische Borniertheit, die unsrer vielgerühmten Bildung nur zur Schande gereicht und unsre deutsche Erbsünde, die blinde Parteisucht, nur fördert. Wenn nun vollends in einer Landschaft, wie zum Beispiel in Sachsen, eine wirklich große, von bedeutenden, selbständigen Männern in großem Sinne geleitete Zeitung gar nicht existiert, sondern nur „Amtsblätter," die zwar über die Angelegenheiten des Reichs und Preußens fortwährend räsonnieren, aber in den eignen örtlichen und landschaftlichen Interessen immer bis zu einem gewissen Grade „vinkuliert" sind, oder Zeitungen für den Bildungsphilister oder für die unselbständige Masse, die ihren Leithammeln nachläuft, da sieht es mit dem politischen Urteil traurig aus. Wenn Goethe noch lebte, so würde er heute sein scharfes Epigramm grimmiger, als er es damals aussprach, wiederholen: Fürst Bismarck hat schwerlich anders gedacht, obwohl er die Presse vortrefflich Zu benutzen wußte, weil er ihren Einfluß anerkannte. Am schlimmsten ist diese Durchschnittspresse in der Behandlung unsrer aus¬ wärtigen Politik. Wie oft liegt es da nahe, zu sagen: „Ihr redet wie der Blinde von der Farbe." Daß gerade hier Kenntnis der allgemeinen Lage, historische Bildung und ruhige Überlegung unumgänglich notwendige Dinge sind, daran denken die Verfasser flammender Leitartikel selten. Gefällt ihnen Graf Bülow nicht — und er hat das Unglück, fast ebenso vielen Leuten zu mißfallen, wie seinerzeit Fürst Bismarck —, so hilft kein Zureden: „Tut nichts, der Kanzler wird verbrannt." Grenzboten II 1904 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/185>, abgerufen am 13.11.2024.