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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Anzahl ungeschickter britischer Kaufleute für das reiche England noch kein Kriegs¬
grund sein. Auch in der Politik gilt der Grundsatz, daß ein magerer Vergleich
besser ist als ein fetter Prozeß, und so werden wir uns auch in Ostasien mit
England auf der Basis der offnen Tür und der gegenseitigen Achtung vorhandner
Interessen immer in Frieden verständigen können. Allerdings dürfen wir dabei
nicht vergessen, daß auf der Völkerwage jedes deutsche Linienschiff mehr ein Ge¬
wicht zugunsten des Friedens ist, und daß in Amerika sowohl als in Asien fort¬
während neue Gestaltungen und neue Kräfte heranwachsen, die einander anziehn oder
abstoßen und den europäischen Mächten die Möglichkeit wie die Pflicht zu neuen
Gruppierungen nahe legen. In unsrer Zeit mehr denn je "wandelt in dem heute
schou das morgen," und eine Schablone für die Behandlung internationaler, un¬
aufhörlich fließender Beziehungen ist jetzt noch weniger zu finden als zur Bis-
marckischen Zeit. Deutschland wird hente so wenig wie in der Zeit von 1871
bis 1888 den "Frieden um jeden Preis" wollen, aber wenn wir den ungeheuern
Preis unsers Nationalwohlstandes, vielleicht unsrer nationalen Existenz einsetzen
sollen, dann muß der Preis und das Ziel eines so unermeßlichen Opfers wert
sein. Bei der Abmessung ihrer Ziele muß eine kluge Politik deshalb jederzeit er¬
wägen, ob man sie ohne ernstliche Verstimmungen andrer Großmächte erreichen
kann, es sei deun, daß sie bedeutend genug sind, und die Durchführung der Aufgabe
so gesichert ist, daß auch Verstimmung und Krieg mit in den Kauf genommen
werden können. Seien wir erst einmal zur See so stark, wie unsre Interessen
es erheischen. Das Geschlecht, das bis dahin herangewachsen sein wird, wird sich
dann auch seiue Wege zu bahnen wissen, wie die Väter seit dem Tage von Fehrbellin.
Auch Bismarck hat davor gewarnt, "nicht die Arbeit unsrer Enkel zu machen."
Sein heutiger Nachfolger aber ist wohl völlig im Recht, wenn er den Zeitpunkt für
Deutschland, aus der jetzigen Zurückhaltung und Reserve herauszutreten, nicht für
gekommen erachtet und deshalb jedes Drängen zurückweist.

Unter den Imponderabilien, mit denen jede Politik zu rechnen hat, gibt es
treibende und hemmende, und die hemmenden sind heute in unsrer innern Gesamt-
lage die stärkern. Von dieser innern Gesamtlage aber hängt die auswärtige Politik
zu einem sehr großen Teile ab.


Der Reichstag

hat nach den Osterferien genau wieder so begonnen, wie er
vor den Ferien aufgehört hatte, das heißt: er hat mit unendlicher Breite und Zeit¬
vergeudung bei dem "Gehalt des Reichskanzlers" über alle möglichen Dinge ver¬
handelt, ohne daß dabei irgend etwas herausgekommen wäre. Kaum ein gesunder
Gedanke. Es gereicht Deutschland wirklich nicht zur Ehre, daß zum Beispiel unsre
internationale Lage und Politik von so niedrigem Standpunkt aus diskutiert wird
oder aber so ohne jede Sachkenntnis, wie das bei den Erörterungen über Marokko
zutage getreten ist. Man hört Wohl immer wieder herzbeklemmende Stoßseufzer, daß
unsre Politik eigentlich recht rückständig, wertlos und notleidend geworden sei, nützlicher
wäre es aber doch vielleicht, die Herren Redner schlügen an ihre Brust und klagten
dem deutschen Volke, wie rückständig, wertlos und notleidend der Reichstag ge¬
worden ist. Das oiztoi'um oonsko einiger Redner und eines Teils der Presse: nur
Diäten könnten den Reichstag verbessern, macht doch einen sehr kümmerlichen Ein¬
druck und erinnert stark an die Kategorie von Leuten, die nicht arbeiten mögen und
infolgedessen immer gezwungen sind, sich nach dem Versatzamt umzusehen. Und
dieser Reichstag, der mit dem dringendsten "ut notwendigsten Arbeitspensum nicht
fertig werden kann, erschöpft sich schließlich noch in einer Unsumme von welt¬
verbessernden Resolutionen, die sämtlich die Aufforderungen an die Regierungen
enthalten, Gesetzentwürfe über alle diese Materien vorzulegen!

Graf Posadowsky hat -- vielleicht nur zu höflich -- schou darauf hingewiesen,
daß die Ministerien und Reichsämter gar nicht über die Arbeitskräfte und Arbeits¬
zeit verfügen, die nötig wären, alle diese zahllosen Wünsche zu erfüllen. Er war
leider zu höflich, hinzuzufügen, daß vor allem gnr kein Reichstag vorhanden ist,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Anzahl ungeschickter britischer Kaufleute für das reiche England noch kein Kriegs¬
grund sein. Auch in der Politik gilt der Grundsatz, daß ein magerer Vergleich
besser ist als ein fetter Prozeß, und so werden wir uns auch in Ostasien mit
England auf der Basis der offnen Tür und der gegenseitigen Achtung vorhandner
Interessen immer in Frieden verständigen können. Allerdings dürfen wir dabei
nicht vergessen, daß auf der Völkerwage jedes deutsche Linienschiff mehr ein Ge¬
wicht zugunsten des Friedens ist, und daß in Amerika sowohl als in Asien fort¬
während neue Gestaltungen und neue Kräfte heranwachsen, die einander anziehn oder
abstoßen und den europäischen Mächten die Möglichkeit wie die Pflicht zu neuen
Gruppierungen nahe legen. In unsrer Zeit mehr denn je „wandelt in dem heute
schou das morgen," und eine Schablone für die Behandlung internationaler, un¬
aufhörlich fließender Beziehungen ist jetzt noch weniger zu finden als zur Bis-
marckischen Zeit. Deutschland wird hente so wenig wie in der Zeit von 1871
bis 1888 den „Frieden um jeden Preis" wollen, aber wenn wir den ungeheuern
Preis unsers Nationalwohlstandes, vielleicht unsrer nationalen Existenz einsetzen
sollen, dann muß der Preis und das Ziel eines so unermeßlichen Opfers wert
sein. Bei der Abmessung ihrer Ziele muß eine kluge Politik deshalb jederzeit er¬
wägen, ob man sie ohne ernstliche Verstimmungen andrer Großmächte erreichen
kann, es sei deun, daß sie bedeutend genug sind, und die Durchführung der Aufgabe
so gesichert ist, daß auch Verstimmung und Krieg mit in den Kauf genommen
werden können. Seien wir erst einmal zur See so stark, wie unsre Interessen
es erheischen. Das Geschlecht, das bis dahin herangewachsen sein wird, wird sich
dann auch seiue Wege zu bahnen wissen, wie die Väter seit dem Tage von Fehrbellin.
Auch Bismarck hat davor gewarnt, „nicht die Arbeit unsrer Enkel zu machen."
Sein heutiger Nachfolger aber ist wohl völlig im Recht, wenn er den Zeitpunkt für
Deutschland, aus der jetzigen Zurückhaltung und Reserve herauszutreten, nicht für
gekommen erachtet und deshalb jedes Drängen zurückweist.

Unter den Imponderabilien, mit denen jede Politik zu rechnen hat, gibt es
treibende und hemmende, und die hemmenden sind heute in unsrer innern Gesamt-
lage die stärkern. Von dieser innern Gesamtlage aber hängt die auswärtige Politik
zu einem sehr großen Teile ab.


Der Reichstag

hat nach den Osterferien genau wieder so begonnen, wie er
vor den Ferien aufgehört hatte, das heißt: er hat mit unendlicher Breite und Zeit¬
vergeudung bei dem „Gehalt des Reichskanzlers" über alle möglichen Dinge ver¬
handelt, ohne daß dabei irgend etwas herausgekommen wäre. Kaum ein gesunder
Gedanke. Es gereicht Deutschland wirklich nicht zur Ehre, daß zum Beispiel unsre
internationale Lage und Politik von so niedrigem Standpunkt aus diskutiert wird
oder aber so ohne jede Sachkenntnis, wie das bei den Erörterungen über Marokko
zutage getreten ist. Man hört Wohl immer wieder herzbeklemmende Stoßseufzer, daß
unsre Politik eigentlich recht rückständig, wertlos und notleidend geworden sei, nützlicher
wäre es aber doch vielleicht, die Herren Redner schlügen an ihre Brust und klagten
dem deutschen Volke, wie rückständig, wertlos und notleidend der Reichstag ge¬
worden ist. Das oiztoi'um oonsko einiger Redner und eines Teils der Presse: nur
Diäten könnten den Reichstag verbessern, macht doch einen sehr kümmerlichen Ein¬
druck und erinnert stark an die Kategorie von Leuten, die nicht arbeiten mögen und
infolgedessen immer gezwungen sind, sich nach dem Versatzamt umzusehen. Und
dieser Reichstag, der mit dem dringendsten »ut notwendigsten Arbeitspensum nicht
fertig werden kann, erschöpft sich schließlich noch in einer Unsumme von welt¬
verbessernden Resolutionen, die sämtlich die Aufforderungen an die Regierungen
enthalten, Gesetzentwürfe über alle diese Materien vorzulegen!

Graf Posadowsky hat — vielleicht nur zu höflich — schou darauf hingewiesen,
daß die Ministerien und Reichsämter gar nicht über die Arbeitskräfte und Arbeits¬
zeit verfügen, die nötig wären, alle diese zahllosen Wünsche zu erfüllen. Er war
leider zu höflich, hinzuzufügen, daß vor allem gnr kein Reichstag vorhanden ist,


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[0184] Maßgebliches und Unmaßgebliches Anzahl ungeschickter britischer Kaufleute für das reiche England noch kein Kriegs¬ grund sein. Auch in der Politik gilt der Grundsatz, daß ein magerer Vergleich besser ist als ein fetter Prozeß, und so werden wir uns auch in Ostasien mit England auf der Basis der offnen Tür und der gegenseitigen Achtung vorhandner Interessen immer in Frieden verständigen können. Allerdings dürfen wir dabei nicht vergessen, daß auf der Völkerwage jedes deutsche Linienschiff mehr ein Ge¬ wicht zugunsten des Friedens ist, und daß in Amerika sowohl als in Asien fort¬ während neue Gestaltungen und neue Kräfte heranwachsen, die einander anziehn oder abstoßen und den europäischen Mächten die Möglichkeit wie die Pflicht zu neuen Gruppierungen nahe legen. In unsrer Zeit mehr denn je „wandelt in dem heute schou das morgen," und eine Schablone für die Behandlung internationaler, un¬ aufhörlich fließender Beziehungen ist jetzt noch weniger zu finden als zur Bis- marckischen Zeit. Deutschland wird hente so wenig wie in der Zeit von 1871 bis 1888 den „Frieden um jeden Preis" wollen, aber wenn wir den ungeheuern Preis unsers Nationalwohlstandes, vielleicht unsrer nationalen Existenz einsetzen sollen, dann muß der Preis und das Ziel eines so unermeßlichen Opfers wert sein. Bei der Abmessung ihrer Ziele muß eine kluge Politik deshalb jederzeit er¬ wägen, ob man sie ohne ernstliche Verstimmungen andrer Großmächte erreichen kann, es sei deun, daß sie bedeutend genug sind, und die Durchführung der Aufgabe so gesichert ist, daß auch Verstimmung und Krieg mit in den Kauf genommen werden können. Seien wir erst einmal zur See so stark, wie unsre Interessen es erheischen. Das Geschlecht, das bis dahin herangewachsen sein wird, wird sich dann auch seiue Wege zu bahnen wissen, wie die Väter seit dem Tage von Fehrbellin. Auch Bismarck hat davor gewarnt, „nicht die Arbeit unsrer Enkel zu machen." Sein heutiger Nachfolger aber ist wohl völlig im Recht, wenn er den Zeitpunkt für Deutschland, aus der jetzigen Zurückhaltung und Reserve herauszutreten, nicht für gekommen erachtet und deshalb jedes Drängen zurückweist. Unter den Imponderabilien, mit denen jede Politik zu rechnen hat, gibt es treibende und hemmende, und die hemmenden sind heute in unsrer innern Gesamt- lage die stärkern. Von dieser innern Gesamtlage aber hängt die auswärtige Politik zu einem sehr großen Teile ab. Der Reichstag hat nach den Osterferien genau wieder so begonnen, wie er vor den Ferien aufgehört hatte, das heißt: er hat mit unendlicher Breite und Zeit¬ vergeudung bei dem „Gehalt des Reichskanzlers" über alle möglichen Dinge ver¬ handelt, ohne daß dabei irgend etwas herausgekommen wäre. Kaum ein gesunder Gedanke. Es gereicht Deutschland wirklich nicht zur Ehre, daß zum Beispiel unsre internationale Lage und Politik von so niedrigem Standpunkt aus diskutiert wird oder aber so ohne jede Sachkenntnis, wie das bei den Erörterungen über Marokko zutage getreten ist. Man hört Wohl immer wieder herzbeklemmende Stoßseufzer, daß unsre Politik eigentlich recht rückständig, wertlos und notleidend geworden sei, nützlicher wäre es aber doch vielleicht, die Herren Redner schlügen an ihre Brust und klagten dem deutschen Volke, wie rückständig, wertlos und notleidend der Reichstag ge¬ worden ist. Das oiztoi'um oonsko einiger Redner und eines Teils der Presse: nur Diäten könnten den Reichstag verbessern, macht doch einen sehr kümmerlichen Ein¬ druck und erinnert stark an die Kategorie von Leuten, die nicht arbeiten mögen und infolgedessen immer gezwungen sind, sich nach dem Versatzamt umzusehen. Und dieser Reichstag, der mit dem dringendsten »ut notwendigsten Arbeitspensum nicht fertig werden kann, erschöpft sich schließlich noch in einer Unsumme von welt¬ verbessernden Resolutionen, die sämtlich die Aufforderungen an die Regierungen enthalten, Gesetzentwürfe über alle diese Materien vorzulegen! Graf Posadowsky hat — vielleicht nur zu höflich — schou darauf hingewiesen, daß die Ministerien und Reichsämter gar nicht über die Arbeitskräfte und Arbeits¬ zeit verfügen, die nötig wären, alle diese zahllosen Wünsche zu erfüllen. Er war leider zu höflich, hinzuzufügen, daß vor allem gnr kein Reichstag vorhanden ist,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/184>, abgerufen am 13.11.2024.