Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.la wohl zum Teil von Nichtsozialdemokraten abgegeben sein --, das be¬ Ich sehe diese Gefahr weniger darin, daß immer mehr sozialdemokratische Allerdings ist die Entwicklung des jungen Reiches in vieler Beziehung Gewiß ohne äußere Unterstützung wird es der Sozialdemokratie kaum je Grenzboten I 1904 99
la wohl zum Teil von Nichtsozialdemokraten abgegeben sein —, das be¬ Ich sehe diese Gefahr weniger darin, daß immer mehr sozialdemokratische Allerdings ist die Entwicklung des jungen Reiches in vieler Beziehung Gewiß ohne äußere Unterstützung wird es der Sozialdemokratie kaum je Grenzboten I 1904 99
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0767" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/293566"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_4443" prev="#ID_4442"> la wohl zum Teil von Nichtsozialdemokraten abgegeben sein —, das be¬<lb/> weist vielmehr die gewaltige Organisation der Partei, die bei tausend Um¬<lb/> rissen zutage tritt und den sozialdemokratischen Arbeiter zu einem willenlosen<lb/> Werkzeug in den Händen der Partei hinunterdrückt. solange fast jeder deutsche<lb/> Industriearbeiter allwöchentlich für die sozialdemokratische Parteikasse, den Pre߬<lb/> oder Streikfonds und andre Parteizwecke seine schwer entbehrten Groschen<lb/> opfert und sich damit mit Leib und Seele der Partei verschreibt, kann niemand<lb/> ernstlich behaupten, die Sozialdemokratie sei nur eine Partei der Führer.<lb/> Würden die Führer in der Lage sein, ihren Worten Taten folgen zu lassen,<lb/> so würden sie die Massen nicht weniger hinter sich haben als heute. Und<lb/> wenn auch bei dem festgefügten, militärisch disziplinierten modernen Staate<lb/> oiese Gefahr, der große Kladderadatsch, nicht unmittelbar vor uns steht, so<lb/> wird doch jeder ernsthafte Politiker das Dasein einer sozialdemokratischen<lb/> Gefahr nicht leugnen.</p><lb/> <p xml:id="ID_4444"> Ich sehe diese Gefahr weniger darin, daß immer mehr sozialdemokratische<lb/> Abgeordnete in den Reichstag einziehn, und die Zeit gewiß nicht mehr fern<lb/> ^se, wo die Sozialdemokratie eine positive Arbeit des Reichstags unmöglich<lb/> Macht. Denn wenn diese Zeit gekommen ist, wird eine Änderung des Neichs-<lb/> tagswahlrechts eine so unabweisbare Notwendigkeit sein, daß keine Regierung<lb/> davor zurückschrecken kann, sie auf diese oder jene Weise durchzudrücken. Ich<lb/> sehe die Gefahr vielmehr darin, daß die Mehrheit unsers Volkes in einem<lb/> politischen Irrwahn lebt, der für die nationale Entwicklung ein trauriges<lb/> Hemmnis ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_4445"> Allerdings ist die Entwicklung des jungen Reiches in vieler Beziehung<lb/> ourchcms erfreulich gewesen. Handel und Industrie haben einen ungeahnten<lb/> Aufschwung genommen und die Wohlhabenheit so gesteigert, daß es neben dem<lb/> fortdauernden Ausbau des Landheeres möglich gewesen ist. nun auch eine<lb/> Achtung gebietende Flotte zu schaffen. Dabei sind die allgemeinen Aufgaben<lb/> ver Kultur gewiß nicht vernachlässigt worden. Schon die Dresdner Stüdte-<lb/> ^usstellung ist ein glänzender Beweis für den Fortschritt auf dem Gebiet der<lb/> Cultur, und wenn dieser Beweis dort auch nur von den deutschen Großstädten<lb/> geführt wird, so weiß doch jeder, daß auch die Kleinstädte und sogar das<lb/> Platte Land nicht müßig gewesen sind. Aber was nützt uns dieser Fortschritt an<lb/> Wohlhabenheit und Komfort, wenn die große Mehrheit des Volkes ihn leugnet<lb/> "ud auf die Gelegenheit wartet, dem heutigen Staat mit allen seinen Einrich¬<lb/> tungen gewaltsam ein Ende zu machen und das unterste zu oberst zu kehren.</p><lb/> <p xml:id="ID_4446" next="#ID_4447"> Gewiß ohne äußere Unterstützung wird es der Sozialdemokratie kaum je<lb/> gelingen, die bestehenden Zustande gewaltsam zu ändern. Aber wer bürgt<lb/> ^sür, daß sie diese äußere Unterstützung nicht findet. Jeder Krieg kann sie<lb/> herbeiführen, jeder unglückliche Krieg muß sie geradezu herbeiführen. Und<lb/> ^cum auch die Wahrscheinlichkeit eines großen europäischen Krieges nicht<lb/> '^k ist, die Möglichkeit besteht immer, und sie allein sollte den Staat ver¬<lb/> fassen, alles aufzubieten, der Sozialdemokratie den Boden unter den Füßen<lb/> ^egzuziehn. Diese Ansicht wird heute wohl auch ganz allgemein von allen<lb/> ^rdnungsparteien vertreten, und sogar der äußerste Liberalismus gibt zu,</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1904 99</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0767]
la wohl zum Teil von Nichtsozialdemokraten abgegeben sein —, das be¬
weist vielmehr die gewaltige Organisation der Partei, die bei tausend Um¬
rissen zutage tritt und den sozialdemokratischen Arbeiter zu einem willenlosen
Werkzeug in den Händen der Partei hinunterdrückt. solange fast jeder deutsche
Industriearbeiter allwöchentlich für die sozialdemokratische Parteikasse, den Pre߬
oder Streikfonds und andre Parteizwecke seine schwer entbehrten Groschen
opfert und sich damit mit Leib und Seele der Partei verschreibt, kann niemand
ernstlich behaupten, die Sozialdemokratie sei nur eine Partei der Führer.
Würden die Führer in der Lage sein, ihren Worten Taten folgen zu lassen,
so würden sie die Massen nicht weniger hinter sich haben als heute. Und
wenn auch bei dem festgefügten, militärisch disziplinierten modernen Staate
oiese Gefahr, der große Kladderadatsch, nicht unmittelbar vor uns steht, so
wird doch jeder ernsthafte Politiker das Dasein einer sozialdemokratischen
Gefahr nicht leugnen.
Ich sehe diese Gefahr weniger darin, daß immer mehr sozialdemokratische
Abgeordnete in den Reichstag einziehn, und die Zeit gewiß nicht mehr fern
^se, wo die Sozialdemokratie eine positive Arbeit des Reichstags unmöglich
Macht. Denn wenn diese Zeit gekommen ist, wird eine Änderung des Neichs-
tagswahlrechts eine so unabweisbare Notwendigkeit sein, daß keine Regierung
davor zurückschrecken kann, sie auf diese oder jene Weise durchzudrücken. Ich
sehe die Gefahr vielmehr darin, daß die Mehrheit unsers Volkes in einem
politischen Irrwahn lebt, der für die nationale Entwicklung ein trauriges
Hemmnis ist.
Allerdings ist die Entwicklung des jungen Reiches in vieler Beziehung
ourchcms erfreulich gewesen. Handel und Industrie haben einen ungeahnten
Aufschwung genommen und die Wohlhabenheit so gesteigert, daß es neben dem
fortdauernden Ausbau des Landheeres möglich gewesen ist. nun auch eine
Achtung gebietende Flotte zu schaffen. Dabei sind die allgemeinen Aufgaben
ver Kultur gewiß nicht vernachlässigt worden. Schon die Dresdner Stüdte-
^usstellung ist ein glänzender Beweis für den Fortschritt auf dem Gebiet der
Cultur, und wenn dieser Beweis dort auch nur von den deutschen Großstädten
geführt wird, so weiß doch jeder, daß auch die Kleinstädte und sogar das
Platte Land nicht müßig gewesen sind. Aber was nützt uns dieser Fortschritt an
Wohlhabenheit und Komfort, wenn die große Mehrheit des Volkes ihn leugnet
"ud auf die Gelegenheit wartet, dem heutigen Staat mit allen seinen Einrich¬
tungen gewaltsam ein Ende zu machen und das unterste zu oberst zu kehren.
Gewiß ohne äußere Unterstützung wird es der Sozialdemokratie kaum je
gelingen, die bestehenden Zustande gewaltsam zu ändern. Aber wer bürgt
^sür, daß sie diese äußere Unterstützung nicht findet. Jeder Krieg kann sie
herbeiführen, jeder unglückliche Krieg muß sie geradezu herbeiführen. Und
^cum auch die Wahrscheinlichkeit eines großen europäischen Krieges nicht
'^k ist, die Möglichkeit besteht immer, und sie allein sollte den Staat ver¬
fassen, alles aufzubieten, der Sozialdemokratie den Boden unter den Füßen
^egzuziehn. Diese Ansicht wird heute wohl auch ganz allgemein von allen
^rdnungsparteien vertreten, und sogar der äußerste Liberalismus gibt zu,
Grenzboten I 1904 99
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