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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Das Königreich Italien und das Papsttum

lebt und leben muß, und aus dessen Söhnen sie zum allergrößte"! Teile ihre
Kräfte nimmt. Oder will sie ruhig zusehen, wie die nach Mayers Beobachtung
rasch anwachsende republikanische Strömung das Haus Snvvyen hinwegfegt und
über das Laud das Chaos herausführt? Ein republikanisiertes Italien würde
mit allen Rechten und Gütern der Kirche noch ganz anders aufräumen als
ein monarchisches, denn es würde von Atheisten regiert sein. Oder sollte man
im Vatikan daran denken, die dann unausbleibliche Verwirrung zur Wieder¬
herstellung des Kirchenstaats mit fremder Hilfe zu benutzen? Das wäre bettet
doch ein gar zu hoher Preis für die Aufrichtung einer entbehrlich gewordnen
Institution, die weder auf einem Dogma uoch auf irgend einem Worte Christi
oder der Apostel beruhte. Heißt es ja doch: "Mein Reich ist nicht von dieser
Welt." Von dem Hochsinn, der Weisheit und dem Patriotismus Pius des
Zehnten darf man uicht annehmen, daß er an solche Möglichkeiten denkt oder
gar etwas tut, sie herbeizuführen.

Allerdings, die Anschauung I. Mayers, daß die Dinge, wie sie heute
liegen, nicht mehr lange so bleiben können, wird auch auf andrer, nicht
klerikaler Seite geteilt. In einem höchst interessanten Artikel geht Giacomo
Bnrzellvtti, Professor an der Königlichen Universität Rom, deu in Italien
bisher regierenden Ständen und Parteien mit einer so scharfen und rückhalt¬
losen Kritik zu Leibe, daß es auch für die Leser der Grenzboten, die den
italienischen Verhältnissen immer eine größere Aufmerksamkeit gewidmet haben
als andre deutsche Zeitschriften, von Interesse sein wird, deu Gedankengang kennen
zu lernen.*) Die beiden großen Parteien des Landes, so führt er aus, die
klerikale und die liberale, diskutieren gar nicht miteinander, üben also auch keinen
Einfluß aufeinander aus, sie reden gewissermaßen immer aneinander vorbei.
Die Liberalen lesen die klerikalen Zeitungen nicht (sogar in Rom sind sie fast
nur am Gehn zu haben), und ihre Blätter berichten über päpstliche Erlasse
und dergleichen nur flüchtig, oder sie ignorieren sie ganz. Auch der rege gesell¬
schaftliche Verkehr zwischen den Angehörigen beider Parteien führt zu keinem
Meinungsaustausch über Politik.

An diesem sonderbaren Verhältnis, das in Belgien oder Frankreich ganz
unerhört wäre, tragen beide Teile die Schuld. Die Klerikalen können es nicht
über sich gewinnen, sich auf den Boden der vollendeten Tatsachen zu stellen,
also am politischen Leben teilzunehmen (an der städtischen Verwaltung nehmen
sie sogar sehr eifrig teil, anch in Rom), was doch die deutschen Klerikalen (trotz
aller Säkularisationen, also trotz zahlreicher "Rechtsbrüche!") tun, denn sie träumen
immer noch von der unmöglichen Wiederherstellung des Kirchenstaats, die ja auch
Leo der Dreizehnte erstrebt hat. Die Liberalen aber, d. h. die herrschenden Stände,
stehn auf rationalistischer, ja materialistisch-atheistischer Grundlage, oder sie huldigen
neuerdings teils der Herrenmoral (morals asi x^ärovi, asi suxeruommi) Nietzsches,
teils dem modischen Buddhismus; sie haben also gar kein religiös-sittliches Ver¬
ständnis und Interesse, haben keine Vorstellung von der Macht des Papsttums



1/Ils.Iig, s it ^Äpato, in der nuova ^.utoloWg, vom 1. März 1904.
Das Königreich Italien und das Papsttum

lebt und leben muß, und aus dessen Söhnen sie zum allergrößte»! Teile ihre
Kräfte nimmt. Oder will sie ruhig zusehen, wie die nach Mayers Beobachtung
rasch anwachsende republikanische Strömung das Haus Snvvyen hinwegfegt und
über das Laud das Chaos herausführt? Ein republikanisiertes Italien würde
mit allen Rechten und Gütern der Kirche noch ganz anders aufräumen als
ein monarchisches, denn es würde von Atheisten regiert sein. Oder sollte man
im Vatikan daran denken, die dann unausbleibliche Verwirrung zur Wieder¬
herstellung des Kirchenstaats mit fremder Hilfe zu benutzen? Das wäre bettet
doch ein gar zu hoher Preis für die Aufrichtung einer entbehrlich gewordnen
Institution, die weder auf einem Dogma uoch auf irgend einem Worte Christi
oder der Apostel beruhte. Heißt es ja doch: „Mein Reich ist nicht von dieser
Welt." Von dem Hochsinn, der Weisheit und dem Patriotismus Pius des
Zehnten darf man uicht annehmen, daß er an solche Möglichkeiten denkt oder
gar etwas tut, sie herbeizuführen.

Allerdings, die Anschauung I. Mayers, daß die Dinge, wie sie heute
liegen, nicht mehr lange so bleiben können, wird auch auf andrer, nicht
klerikaler Seite geteilt. In einem höchst interessanten Artikel geht Giacomo
Bnrzellvtti, Professor an der Königlichen Universität Rom, deu in Italien
bisher regierenden Ständen und Parteien mit einer so scharfen und rückhalt¬
losen Kritik zu Leibe, daß es auch für die Leser der Grenzboten, die den
italienischen Verhältnissen immer eine größere Aufmerksamkeit gewidmet haben
als andre deutsche Zeitschriften, von Interesse sein wird, deu Gedankengang kennen
zu lernen.*) Die beiden großen Parteien des Landes, so führt er aus, die
klerikale und die liberale, diskutieren gar nicht miteinander, üben also auch keinen
Einfluß aufeinander aus, sie reden gewissermaßen immer aneinander vorbei.
Die Liberalen lesen die klerikalen Zeitungen nicht (sogar in Rom sind sie fast
nur am Gehn zu haben), und ihre Blätter berichten über päpstliche Erlasse
und dergleichen nur flüchtig, oder sie ignorieren sie ganz. Auch der rege gesell¬
schaftliche Verkehr zwischen den Angehörigen beider Parteien führt zu keinem
Meinungsaustausch über Politik.

An diesem sonderbaren Verhältnis, das in Belgien oder Frankreich ganz
unerhört wäre, tragen beide Teile die Schuld. Die Klerikalen können es nicht
über sich gewinnen, sich auf den Boden der vollendeten Tatsachen zu stellen,
also am politischen Leben teilzunehmen (an der städtischen Verwaltung nehmen
sie sogar sehr eifrig teil, anch in Rom), was doch die deutschen Klerikalen (trotz
aller Säkularisationen, also trotz zahlreicher „Rechtsbrüche!") tun, denn sie träumen
immer noch von der unmöglichen Wiederherstellung des Kirchenstaats, die ja auch
Leo der Dreizehnte erstrebt hat. Die Liberalen aber, d. h. die herrschenden Stände,
stehn auf rationalistischer, ja materialistisch-atheistischer Grundlage, oder sie huldigen
neuerdings teils der Herrenmoral (morals asi x^ärovi, asi suxeruommi) Nietzsches,
teils dem modischen Buddhismus; sie haben also gar kein religiös-sittliches Ver¬
ständnis und Interesse, haben keine Vorstellung von der Macht des Papsttums



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[0762] Das Königreich Italien und das Papsttum lebt und leben muß, und aus dessen Söhnen sie zum allergrößte»! Teile ihre Kräfte nimmt. Oder will sie ruhig zusehen, wie die nach Mayers Beobachtung rasch anwachsende republikanische Strömung das Haus Snvvyen hinwegfegt und über das Laud das Chaos herausführt? Ein republikanisiertes Italien würde mit allen Rechten und Gütern der Kirche noch ganz anders aufräumen als ein monarchisches, denn es würde von Atheisten regiert sein. Oder sollte man im Vatikan daran denken, die dann unausbleibliche Verwirrung zur Wieder¬ herstellung des Kirchenstaats mit fremder Hilfe zu benutzen? Das wäre bettet doch ein gar zu hoher Preis für die Aufrichtung einer entbehrlich gewordnen Institution, die weder auf einem Dogma uoch auf irgend einem Worte Christi oder der Apostel beruhte. Heißt es ja doch: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt." Von dem Hochsinn, der Weisheit und dem Patriotismus Pius des Zehnten darf man uicht annehmen, daß er an solche Möglichkeiten denkt oder gar etwas tut, sie herbeizuführen. Allerdings, die Anschauung I. Mayers, daß die Dinge, wie sie heute liegen, nicht mehr lange so bleiben können, wird auch auf andrer, nicht klerikaler Seite geteilt. In einem höchst interessanten Artikel geht Giacomo Bnrzellvtti, Professor an der Königlichen Universität Rom, deu in Italien bisher regierenden Ständen und Parteien mit einer so scharfen und rückhalt¬ losen Kritik zu Leibe, daß es auch für die Leser der Grenzboten, die den italienischen Verhältnissen immer eine größere Aufmerksamkeit gewidmet haben als andre deutsche Zeitschriften, von Interesse sein wird, deu Gedankengang kennen zu lernen.*) Die beiden großen Parteien des Landes, so führt er aus, die klerikale und die liberale, diskutieren gar nicht miteinander, üben also auch keinen Einfluß aufeinander aus, sie reden gewissermaßen immer aneinander vorbei. Die Liberalen lesen die klerikalen Zeitungen nicht (sogar in Rom sind sie fast nur am Gehn zu haben), und ihre Blätter berichten über päpstliche Erlasse und dergleichen nur flüchtig, oder sie ignorieren sie ganz. Auch der rege gesell¬ schaftliche Verkehr zwischen den Angehörigen beider Parteien führt zu keinem Meinungsaustausch über Politik. An diesem sonderbaren Verhältnis, das in Belgien oder Frankreich ganz unerhört wäre, tragen beide Teile die Schuld. Die Klerikalen können es nicht über sich gewinnen, sich auf den Boden der vollendeten Tatsachen zu stellen, also am politischen Leben teilzunehmen (an der städtischen Verwaltung nehmen sie sogar sehr eifrig teil, anch in Rom), was doch die deutschen Klerikalen (trotz aller Säkularisationen, also trotz zahlreicher „Rechtsbrüche!") tun, denn sie träumen immer noch von der unmöglichen Wiederherstellung des Kirchenstaats, die ja auch Leo der Dreizehnte erstrebt hat. Die Liberalen aber, d. h. die herrschenden Stände, stehn auf rationalistischer, ja materialistisch-atheistischer Grundlage, oder sie huldigen neuerdings teils der Herrenmoral (morals asi x^ärovi, asi suxeruommi) Nietzsches, teils dem modischen Buddhismus; sie haben also gar kein religiös-sittliches Ver¬ ständnis und Interesse, haben keine Vorstellung von der Macht des Papsttums 1/Ils.Iig, s it ^Äpato, in der nuova ^.utoloWg, vom 1. März 1904.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/762>, abgerufen am 22.07.2024.