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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Herbert Spencers System

lumpteste Kerl fünfzig Mark auf einen prunkvollen Hut, der so schwer und
unbequem ist, daß jeder vernünftige Mensch es für die ärgste Strafe halten
würde, ihn noch dazu bei der dortigen Hitze tragen zu müssen.) Darum soll
man sich nicht, lehrt Spencer, das eigne und das fremde Glück zum unmittel¬
baren Zweck setzen, sondern die Erfüllung der Pflichten der Gerechtigkeit und
er übrigen Moralvorschriften, von denen die Erfahrung lehrt, dnß sie im
^°^u und ganzen der Erhaltung des Menschengeschlechts dienen und sein
Wohlbefinden fördern.

Das hat sein Landsmann Buckle ohne den biologischen Umweg erkannt,
"pudern Gutes tun, zu ihrem Besten ihre eignen Wünsche opfern, unsern
, ochsten lieben wie uns selbst, unsern Feinden verzeihen, unsre Leidenschaften
^ Zaume halten, dies und dergleichen mehr sind die Hauptsätze der Moral.
'e sind seit Jahrtausenden bekannt, und nicht ein Titelchen haben die
Predigten und Bibelerklürungen der Moralisten und Theologen ihnen hinzu¬
fügen vermocht." Ebensowenig die Theorien der modernen Soziologen,
s ist sehr hübsch, zu sehen, wie Spencer mit den gelehrten und scharfsinnigen
^ttsuchungen seiner beiden Kapitel: Egoismus gegen Altruismus und
Altruismus gegen Egoismus bei Jesu Regel ankommt: Du sollst deinen
Webster lieben wie dich selbst. Die Moral, das hat Buckle richtig dargestellt,
^unveränderlich; was sich ändert, das ist die Erkenntnis und die davon
^influßte Anwendung der Moralregeln. Die spanischen Inquisitoren, sagt
^ sehr gut, sind Männer von der reinsten und uneigennützigsten Nächstenliebe
gewesen. Wenn wir heute unsre Nächstenliebe nicht mehr durch das Ver¬
kennen von Ketzern bekunden, so kommt das nicht von einer seitdem ein-
getretnen Steigerung der Liebe oder von einer Änderung der Moralgrund-
^se, sondern von der Änderung der Weltansicht. Diese Beeinflussung des
glichen Handelns durch die fortschreitende Erkenntnis ist eine der von uns
ster beleuchteten Ursache", die den Schein erzeugen, als sei die Moral ein
'es beständig wandelndes Produkt des biologischen Prozesses. Entwickelt
^'d freilich die moralische Anlage wie alle andern Anlagen im Lebens-
^esse, aber nicht anders wie der Pflanzenkeim, der auch ein gegebnes Un¬
abänderliches ist- Biologisch erklärt werden kann die Anlage, Handlungen
^ "es zu werten, so wenig wie ihr Träger, der Geist; wohl aber können
ewe vom biologischen Standpunkt aus betrachtet werden. Und bei solcher
, "rachtnngsweise wird man Spencer darin beistimmen, daß das Moralische
^ großen und ganzen das Lebenerhaltende und Lebenfördernde ist. Natur-
^) nur unter der Voraussetzung, daß nicht etwa die Pessimisten Recht haben,
. ' wenn Nichtsein besser wäre als das Leben, daraus die Verpflichtung
gen würde, das vorhandne Leben zu vernichten und neues nicht entstehn
^ lassen; das hebt Spencer ausdrücklich hervor. Wenn er jedoch den
^sketisnms in Bausch und Bogen verdammt -- als den verschleiert fort-
"U'chernden Teufelsdienst der Wilden --, so schüttet er nicht allein das Kind
mit dem Bade aus, sondern verkennt auch Ursprung und Wesen der hellenischen
5"e der christlichen Askese.

Herbert Spencer hat sich von der großen Illusion moderner Möchtegern-


Herbert Spencers System

lumpteste Kerl fünfzig Mark auf einen prunkvollen Hut, der so schwer und
unbequem ist, daß jeder vernünftige Mensch es für die ärgste Strafe halten
würde, ihn noch dazu bei der dortigen Hitze tragen zu müssen.) Darum soll
man sich nicht, lehrt Spencer, das eigne und das fremde Glück zum unmittel¬
baren Zweck setzen, sondern die Erfüllung der Pflichten der Gerechtigkeit und
er übrigen Moralvorschriften, von denen die Erfahrung lehrt, dnß sie im
^°^u und ganzen der Erhaltung des Menschengeschlechts dienen und sein
Wohlbefinden fördern.

Das hat sein Landsmann Buckle ohne den biologischen Umweg erkannt,
"pudern Gutes tun, zu ihrem Besten ihre eignen Wünsche opfern, unsern
, ochsten lieben wie uns selbst, unsern Feinden verzeihen, unsre Leidenschaften
^ Zaume halten, dies und dergleichen mehr sind die Hauptsätze der Moral.
'e sind seit Jahrtausenden bekannt, und nicht ein Titelchen haben die
Predigten und Bibelerklürungen der Moralisten und Theologen ihnen hinzu¬
fügen vermocht." Ebensowenig die Theorien der modernen Soziologen,
s ist sehr hübsch, zu sehen, wie Spencer mit den gelehrten und scharfsinnigen
^ttsuchungen seiner beiden Kapitel: Egoismus gegen Altruismus und
Altruismus gegen Egoismus bei Jesu Regel ankommt: Du sollst deinen
Webster lieben wie dich selbst. Die Moral, das hat Buckle richtig dargestellt,
^unveränderlich; was sich ändert, das ist die Erkenntnis und die davon
^influßte Anwendung der Moralregeln. Die spanischen Inquisitoren, sagt
^ sehr gut, sind Männer von der reinsten und uneigennützigsten Nächstenliebe
gewesen. Wenn wir heute unsre Nächstenliebe nicht mehr durch das Ver¬
kennen von Ketzern bekunden, so kommt das nicht von einer seitdem ein-
getretnen Steigerung der Liebe oder von einer Änderung der Moralgrund-
^se, sondern von der Änderung der Weltansicht. Diese Beeinflussung des
glichen Handelns durch die fortschreitende Erkenntnis ist eine der von uns
ster beleuchteten Ursache», die den Schein erzeugen, als sei die Moral ein
'es beständig wandelndes Produkt des biologischen Prozesses. Entwickelt
^'d freilich die moralische Anlage wie alle andern Anlagen im Lebens-
^esse, aber nicht anders wie der Pflanzenkeim, der auch ein gegebnes Un¬
abänderliches ist- Biologisch erklärt werden kann die Anlage, Handlungen
^ "es zu werten, so wenig wie ihr Träger, der Geist; wohl aber können
ewe vom biologischen Standpunkt aus betrachtet werden. Und bei solcher
, "rachtnngsweise wird man Spencer darin beistimmen, daß das Moralische
^ großen und ganzen das Lebenerhaltende und Lebenfördernde ist. Natur-
^) nur unter der Voraussetzung, daß nicht etwa die Pessimisten Recht haben,
. ' wenn Nichtsein besser wäre als das Leben, daraus die Verpflichtung
gen würde, das vorhandne Leben zu vernichten und neues nicht entstehn
^ lassen; das hebt Spencer ausdrücklich hervor. Wenn er jedoch den
^sketisnms in Bausch und Bogen verdammt — als den verschleiert fort-
"U'chernden Teufelsdienst der Wilden —, so schüttet er nicht allein das Kind
mit dem Bade aus, sondern verkennt auch Ursprung und Wesen der hellenischen
5"e der christlichen Askese.

Herbert Spencer hat sich von der großen Illusion moderner Möchtegern-


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[0709] Herbert Spencers System lumpteste Kerl fünfzig Mark auf einen prunkvollen Hut, der so schwer und unbequem ist, daß jeder vernünftige Mensch es für die ärgste Strafe halten würde, ihn noch dazu bei der dortigen Hitze tragen zu müssen.) Darum soll man sich nicht, lehrt Spencer, das eigne und das fremde Glück zum unmittel¬ baren Zweck setzen, sondern die Erfüllung der Pflichten der Gerechtigkeit und er übrigen Moralvorschriften, von denen die Erfahrung lehrt, dnß sie im ^°^u und ganzen der Erhaltung des Menschengeschlechts dienen und sein Wohlbefinden fördern. Das hat sein Landsmann Buckle ohne den biologischen Umweg erkannt, "pudern Gutes tun, zu ihrem Besten ihre eignen Wünsche opfern, unsern , ochsten lieben wie uns selbst, unsern Feinden verzeihen, unsre Leidenschaften ^ Zaume halten, dies und dergleichen mehr sind die Hauptsätze der Moral. 'e sind seit Jahrtausenden bekannt, und nicht ein Titelchen haben die Predigten und Bibelerklürungen der Moralisten und Theologen ihnen hinzu¬ fügen vermocht." Ebensowenig die Theorien der modernen Soziologen, s ist sehr hübsch, zu sehen, wie Spencer mit den gelehrten und scharfsinnigen ^ttsuchungen seiner beiden Kapitel: Egoismus gegen Altruismus und Altruismus gegen Egoismus bei Jesu Regel ankommt: Du sollst deinen Webster lieben wie dich selbst. Die Moral, das hat Buckle richtig dargestellt, ^unveränderlich; was sich ändert, das ist die Erkenntnis und die davon ^influßte Anwendung der Moralregeln. Die spanischen Inquisitoren, sagt ^ sehr gut, sind Männer von der reinsten und uneigennützigsten Nächstenliebe gewesen. Wenn wir heute unsre Nächstenliebe nicht mehr durch das Ver¬ kennen von Ketzern bekunden, so kommt das nicht von einer seitdem ein- getretnen Steigerung der Liebe oder von einer Änderung der Moralgrund- ^se, sondern von der Änderung der Weltansicht. Diese Beeinflussung des glichen Handelns durch die fortschreitende Erkenntnis ist eine der von uns ster beleuchteten Ursache», die den Schein erzeugen, als sei die Moral ein 'es beständig wandelndes Produkt des biologischen Prozesses. Entwickelt ^'d freilich die moralische Anlage wie alle andern Anlagen im Lebens- ^esse, aber nicht anders wie der Pflanzenkeim, der auch ein gegebnes Un¬ abänderliches ist- Biologisch erklärt werden kann die Anlage, Handlungen ^ "es zu werten, so wenig wie ihr Träger, der Geist; wohl aber können ewe vom biologischen Standpunkt aus betrachtet werden. Und bei solcher , "rachtnngsweise wird man Spencer darin beistimmen, daß das Moralische ^ großen und ganzen das Lebenerhaltende und Lebenfördernde ist. Natur- ^) nur unter der Voraussetzung, daß nicht etwa die Pessimisten Recht haben, . ' wenn Nichtsein besser wäre als das Leben, daraus die Verpflichtung gen würde, das vorhandne Leben zu vernichten und neues nicht entstehn ^ lassen; das hebt Spencer ausdrücklich hervor. Wenn er jedoch den ^sketisnms in Bausch und Bogen verdammt — als den verschleiert fort- "U'chernden Teufelsdienst der Wilden —, so schüttet er nicht allein das Kind mit dem Bade aus, sondern verkennt auch Ursprung und Wesen der hellenischen 5"e der christlichen Askese. Herbert Spencer hat sich von der großen Illusion moderner Möchtegern-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/709>, abgerufen am 22.07.2024.