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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Herbert Spencers System

und suche auch das Gewerbe, deu Handel, das Bilduugswescn zwangsweise zu
regeln. Der heutigen hohen Kulturstufe zieme natürlich nur die freiwillige
Organisation, aber die vielen Kriege des neunzehnten Jahrhunderts hätten dein
Militär aufs neue Macht verliehen. Daraus seien alle die reaktionären Freiheits¬
beschränkungen zu erklären, die das deutsche Volk unter Bismarck zu erdulden
gehabt habe, und leider sei auch England von der Reaktion nicht verschont
geblieben; in sehr bedenklichem Grade habe es sich in den letzten Jahrzehnten
dem Militärtypus genähert.

Es würde unterhaltend und vielleicht nicht ganz nutzlos sein, in der Form
einer ausführlichen Analyse und Kritik der Staatslehre Spencers alle heutigen
brennenden Fragen durchzusprechen. Leider haben wir zu dein Buche, das
daraus werden würde, keine Zeit, und würden die Grenzboten dafür schwerlich
Papier genug übrig haben; wir müssen uns darum auf ein paar abgerissene
Bemerkungen beschränken. Zunächst widerspricht schon die Unterscheidung der
beideu Typen den Grundlagen des Systems. Die sozialen mung -- er ge¬
braucht auch hier diesen Ausdruck -- können auf Grund eines freiwilligen
Vertrags zusammen wirken, weil sie vernünftige Menschen sind; physikalische,
chemische und biologische nuits können das nicht; sie folgen allesamt blind und
ohne Widerstreben den: geheimnisvollen Zwange, der ihre Bewegungen in gesetz¬
mäßigen Bahnen erhält. Das also, was nach Spencer in der Gesellschaft das
Ziel der Entwicklung sein soll: freiwilliges Zusammenwirken mit Ausschluß
jedes Zwanges, kommt weder in der Physik, noch in der Chemie, noch in der
Biologie vor; folglich kann man aus diesen untern Daseinsgebicten die Gesetze
nicht ableiten, nach denen das Menschenleben zu ordnen ist. Die Zwangs¬
organisation von oben aber, durch eine Autorität, kommt zwar im biologischen
Gebiet vor, genauer gesagt: die ganze Biologie ist nichts als Darstellung
solcher Zwangsorganisntionen (ohne militärische Fürbuug natürlich), aber nicht
im physikalischen. Eine Hirnmolekel regiert die gewaltige Masse des Elefanten¬
leibes und seiner plumpen Glieder, und wie die Bewegungen des fertigen
Tierleibes vou einer Zentraleinheit ausgehn, so muß auch sein und des Pflanzen¬
leibes Aufbau, wie ja Spencer selbst zu glauben scheint, von gestaltenden nuits
geleitet worden sein. In der physikalischen Welt gibt es solche nicht. Die
Bewegung der Gestirne wird nicht von regierenden Molekeln, sondern durch
ihre Massenverhältnisse bestimmt. Die Sonne zieht die Planeten an, nicht
weil in ihr ein besonders gescheites Sanerstoffatvm oder eine Gruppe von
solchen steckte (ein Dämon wie die Alten, ein Engel wie die Scholastiker
glaubten), sondern weil sie siebenhundertmal so viel Masse hat wie alle Pla¬
neten zusammengenommen. Alle Atome, alle Molekeln derselben Art haben,
solange sie nicht Bestandteile eines Organismus werden, genau dasselbe Maß
anziehender und abstoßender Kraft, woraus allein schon folgt, daß aus den
Gesetzen der Mechanik nicht einmal die Biologie, geschweige denn die Soziologie
konstruiert werden kann. Dann aber sind die beiden Erscheinungsformen, die
uns als militärischer und industrieller Typus vorgestellt werden, gar keine
ausschließenden Gegensätze. Der Zwang zur Verteidigung ist auf allen Stufen
der uns bekannten historischen Entwicklung gleich groß geblieben. Nicht auf


Herbert Spencers System

und suche auch das Gewerbe, deu Handel, das Bilduugswescn zwangsweise zu
regeln. Der heutigen hohen Kulturstufe zieme natürlich nur die freiwillige
Organisation, aber die vielen Kriege des neunzehnten Jahrhunderts hätten dein
Militär aufs neue Macht verliehen. Daraus seien alle die reaktionären Freiheits¬
beschränkungen zu erklären, die das deutsche Volk unter Bismarck zu erdulden
gehabt habe, und leider sei auch England von der Reaktion nicht verschont
geblieben; in sehr bedenklichem Grade habe es sich in den letzten Jahrzehnten
dem Militärtypus genähert.

Es würde unterhaltend und vielleicht nicht ganz nutzlos sein, in der Form
einer ausführlichen Analyse und Kritik der Staatslehre Spencers alle heutigen
brennenden Fragen durchzusprechen. Leider haben wir zu dein Buche, das
daraus werden würde, keine Zeit, und würden die Grenzboten dafür schwerlich
Papier genug übrig haben; wir müssen uns darum auf ein paar abgerissene
Bemerkungen beschränken. Zunächst widerspricht schon die Unterscheidung der
beideu Typen den Grundlagen des Systems. Die sozialen mung — er ge¬
braucht auch hier diesen Ausdruck — können auf Grund eines freiwilligen
Vertrags zusammen wirken, weil sie vernünftige Menschen sind; physikalische,
chemische und biologische nuits können das nicht; sie folgen allesamt blind und
ohne Widerstreben den: geheimnisvollen Zwange, der ihre Bewegungen in gesetz¬
mäßigen Bahnen erhält. Das also, was nach Spencer in der Gesellschaft das
Ziel der Entwicklung sein soll: freiwilliges Zusammenwirken mit Ausschluß
jedes Zwanges, kommt weder in der Physik, noch in der Chemie, noch in der
Biologie vor; folglich kann man aus diesen untern Daseinsgebicten die Gesetze
nicht ableiten, nach denen das Menschenleben zu ordnen ist. Die Zwangs¬
organisation von oben aber, durch eine Autorität, kommt zwar im biologischen
Gebiet vor, genauer gesagt: die ganze Biologie ist nichts als Darstellung
solcher Zwangsorganisntionen (ohne militärische Fürbuug natürlich), aber nicht
im physikalischen. Eine Hirnmolekel regiert die gewaltige Masse des Elefanten¬
leibes und seiner plumpen Glieder, und wie die Bewegungen des fertigen
Tierleibes vou einer Zentraleinheit ausgehn, so muß auch sein und des Pflanzen¬
leibes Aufbau, wie ja Spencer selbst zu glauben scheint, von gestaltenden nuits
geleitet worden sein. In der physikalischen Welt gibt es solche nicht. Die
Bewegung der Gestirne wird nicht von regierenden Molekeln, sondern durch
ihre Massenverhältnisse bestimmt. Die Sonne zieht die Planeten an, nicht
weil in ihr ein besonders gescheites Sanerstoffatvm oder eine Gruppe von
solchen steckte (ein Dämon wie die Alten, ein Engel wie die Scholastiker
glaubten), sondern weil sie siebenhundertmal so viel Masse hat wie alle Pla¬
neten zusammengenommen. Alle Atome, alle Molekeln derselben Art haben,
solange sie nicht Bestandteile eines Organismus werden, genau dasselbe Maß
anziehender und abstoßender Kraft, woraus allein schon folgt, daß aus den
Gesetzen der Mechanik nicht einmal die Biologie, geschweige denn die Soziologie
konstruiert werden kann. Dann aber sind die beiden Erscheinungsformen, die
uns als militärischer und industrieller Typus vorgestellt werden, gar keine
ausschließenden Gegensätze. Der Zwang zur Verteidigung ist auf allen Stufen
der uns bekannten historischen Entwicklung gleich groß geblieben. Nicht auf


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/702>, abgerufen am 23.07.2024.